Kandel-Demos: Erneut steht Antifaschist vor Gericht – Kaum Aufklärung am ersten Verhandlungstag (mit Fotogalerie)
Am 03.09.19 wurde der Einspruch eines 24-jährigen Studenten aus Karlsruhe gegen einen Strafbefehl vor dem Amtsgericht Kandel verhandelt. Ihm wird zum Vorwurf gemacht „Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte“ und „Angriff auf Vollstreckungsbeamte“. Die Straftat soll der Angeklagte am 07.04.18 am Bahnhof Wörth (Pfalz) begangen haben. An diesem Tag fanden in Kandel verschiedene Demonstrationen gegen den Aufzug rechter Gruppen u.a. „Kandel ist überall“ (AfD) und des sogenannten „Frauenbündnis Kandel“ statt. Bei der Anreise nach Kandel wurde eine Regionalbahn aus Karlsruhe kommend in Wörth von Polizeikräften aufgehalten und Bahngäste an der Weiterfahrt gehindert. Der heutige Prozesstag endete mit vielen Fragezeichen und der Bekanntgabe eines Fortsetzungstermins. (AZ: 1CS7150 Js11750/18)
Rückblende
Über das Demogeschehen in Kandel 2018 berichtete KIM regelmäßig und mehrfach. So auch am 07. April des vergangenen Jahres. Was den Vorfall am Bahnhof Wörth angeht berichtete die Redaktion der Beobachter News (BN) umfänglich.
In einem Online-Artikel der BN vom 22.07.19 ist zu lesen:
„Vermummt und gewaltbereit
Obwohl nach Berichten die Zugfahrt friedlich verlief und der Zug nahezu überfüllt war, drängten vermummte und behelmte Beamte – auch unter Anwendung von Gewalt – hinein. Danach wurden laut Berichten alle Fahrgäste von den Polizisten durchsucht, ihre Personalien aufgenommen und gefilmt. Insgesamt wurde der Zug drei Stunden im Bahnhof festgehalten, sodass die DemonstrantInnen nicht mehr an den Kundgebungen in Kandel teilnehmen konnten und ihnen so ihr Grundrecht auf Versammlungsfreiheit verwehrt wurde. …“
Link zum vollständigen Bericht:
http://www.beobachternews.de/2019/07/22/polizei-wird-gewalttaetig-antifaschist-verurteilt/
Die BN veröffentlichten auch Videoaufnahmen, die die Geschehnisse damals dokumentierten. Diese Filmdokumente könnten nun in die Beweisaufnahme in diesem Prozess einfließen, da sie augenscheinlich bereits der Polizei für die Beweissicherung dienten.
Soli-Kundgebung und erster Prozesstag
Kurz vor 8:30 Uhr heute Morgen trafen etwa 20 ProzessbesucherInnen mit einer Regionalbahn aus Karlsruhe kommend in Kandel am Bahnhof ein. Dort wurden sie schon von Polizeibeamten erwartet. Eine Kundgebung, die ursprünglich vor dem Amtsgericht Kandel hätte stattfinden sollen, aber von der zuständigen Ordnungsbehörde in Germersheim verboten wurde, war für den Bereich vor der Gemeindeverwaltung Kandel erlaubt worden.
Dort versammelten sich dann rund 30 Menschen friedlich, auch mit Unterstützung von „Kandel gegen Rechts“, unter streng-freundlicher und vergleichsweise massiver Beobachtung durch Polizei und Ordnungsbehörde Germersheim. Die Behörde war vertreten durch ihre Leiterin Frau Grimm, die zusammen mit Kollegen auch an der Verhandlung teilnahm.
Nachdem ein Infostand aufgebaut worden war, konnte nach Begrüßung durch den Versammlungsleiter eine Solidaritätsrede gehalten werden. In dieser bezog sich der Sprecher auf die Geschehnisse am 07.04.18 und appellierte an die Anwesenden den Beschuldigten bei Gericht zu unterstützen. Am Stand angeboten wurden diverse Infomaterialen und eine Fotodokumentation über den Vorfall in Wörth. Interessierte Pressevertreter bekamen ein knapp 40-seitiges Dossier ausgehändigt, welches KIM vorliegt. Nachdem die Kundgebung beendet wurde, machten sich die AntifaschistInnen auf den Weg zum Amtsgericht.
Für den KIM-Reporter war es keine Überraschung, dass die am Prozess interessierten Menschen dort bereits von Polizeikräften und den Vertretern der Ordnungsbehörde Germersheim erwartet wurden.
Es fand eine strenge Einlasskontrolle im Eingangsbereich des Amtsgericht Kandel statt. Leibesvisitationen inklusive. Das Verbot irgendwelche Taschen oder Rucksäcke in den Sitzungssaal mitzubringen, wurden von einem Justiz-Mitarbeiter verlautbart. „Nur 25 Personen“, war die Teilnahme am Prozess möglich. Die Ordnungsbehörde Germersheim hatte eine eigene für sie reservierte Stuhlreihe. Auf den drei Plätzen, die für Pressevertreter vorgesehen waren, war noch ein Sitzplatz vakant.
Verlesung der Anklageschrift – Beweisführung – weiterer Verhandlungstermin
Der unerfahren wirkende Vertreter der Staatsanwaltschaft ratterte die
Anklageschrift – ohne Punkt und Komma – binnen kürzester Zeit runter. Vorwurf, wie schon eingangs in diesem Bericht genannt „Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte“ und „Angriff auf Vollstreckungsbeamte“. Und dann kam noch was wegen §114 StGB (NB: tätlicher Angriff auf Vollstreckungsbeamte; Freiheitsstrafe von 3 Monaten bis 5 Jahre). Dieser Paragraf sollte noch eine wesentliche Rolle an diesem Tag spielen.
Der Angeklagte Marcus Schuster(*) verlas vor Gericht eine persönliche Erklärung, in der sinngemäß sagte, dass „er heute in Kandel stellvertretend für 250 Personen hier steht. Für alle die Personen, die am 07.04.19 in Wörth durch Polizeikräfte darin gehindert wurden, sich an Protesten gegen den Aufzug rechter Gruppen in Kandel zu beteiligen. Vom Protest abgehalten wurden gegen AfD, NPD, Identitäre Bewegung und Reichsbürgern. Damit verhindert wurde, rassistischen – migrationsfeindlichen Aufzügen Paroli zu bieten.“ Den konkreten Vorfall in Wörth skizzierte er „als Angriff von Polizeikräften gegen die linke Bewegung, die sich Rechtsextremisten in den Weg stellen wollte“.
Der vorsitzende Richter wollte diese Rede gerne zu den Verhandlungsakten nehmen. Dies wurde vom Angeklagten und seinem Strafverteidiger verneint.
Der einzige von der Staatsanwaltschaft benannte Zeuge, der vor Gericht geladen wurde, war ein Polizeibeamter.
Dieser sagte sinngemäß aus, dass „er am 07.04.18 in Kandel im Einsatz war. Sein Einsatzzug ist nach Order eines Polizeikommandanten nach Wörth verlegt worden. Dort sollte seine Polizeieinheit einen Zug aus Karlsruhe nach Kandel besteigen. Begründet dadurch, dass etwa 30-60 Bahnreisende in Karlsruhe am Bahnhof auf „Menschen mit anderer politischer Einstellung“ getroffen seien und dass es dabei zu einem Diebstahl gekommen wäre.“
Der Beamte sagte aus, dass er (und weitere Polizeikräfte) von einigen Bahnreisenden am Betreten des Zugs durch Schlagen mit Fahnenstangen, Fußtritten und Ellenbogeneinsätzen gehindert wurde. Durchsagen des Lokführers und Ansprachen seitens der Polizei, die Zugänge zum Zug frei zu geben, seien an seiner Einsatzstelle auf dem Bahnsteig keine Folge geleistet worden. Auch einem verbal durch den Leiter des polizeilichen Einsatzzugs ausgesprochener Platzverweis gegenüber aller Bahnreisenden auf dem Weg zur Kandel-Demo „Ihre Kundgebung ist beendet. Sie erhalten ein Platzverbot.“, sollen die Zugreisenden nicht gefolgt sein.
Auf Nachfragen des Gerichts und der Strafverteidigung konnte der Zeuge seine Aussagen was die zeitlichen Abläufe angeht am Wörther Bahnhof nicht präzisieren. In der verlesenen Anklageschrift steht, dass der Angeklagte zwischen 13:00 und 13:15 Uhr festgenommen wurde. Der Polizeibeamte sagte vor Gericht, dass der Zugriff zwischen 15 und 16 Uhr passiert sein könnte.
Auf die Frage der Verteidigung, ob der Zeuge den Angeklagten im Gerichtssaal erkennt, antwortet dieser mit „Ja“. Nachfrage der Verteidigung: „Welche Kleidung und welches Schuhwerk trug mein Mandant am 07.04.18?“. Zeuge: „Daran habe ich keine Erinnerung.“.
Der einzige Zeuge der Anklagebehörden sagte weiter aus, „dass er getreten worden sei und einen schmerzhaften Ellenbogendruck an der unteren rechten Rippe“ gespürt habe. Der Vorsitzende fragt nach (sinngemäß): „Trugen sie Schutzkleidung und waren sie danach dienstunfähig?“. Der Zeuge: „Nein, ich trug normale Uniform, ohne besonderen Zusatzschutz…keine Verletzungen, die zur Dienstunfähigkeit geführt hatten.“
Der Strafverteidiger fragt den Zeugen, ob es Foto- oder Videoaufnahmen der Polizei gäbe, die seine Einlassungen vor Gericht untermauern könnten. Dieser antwortet (sinngemäß): „Es existiert ein Polizeivideo und er habe rund eine Woche nach dem Einsatz dienstlich bedingt auch YouTube-Videos vom 07.04.18 gesehen und mit Kollegen untersucht, um Identitäten von Personen zu verifizieren“.
Zum großen Erstaunen des Gerichts, der Verteidigung und der Staatsanwaltschaft befindet sich dieses Bildmaterial nicht in der Gerichtsakte.
Die Verteidigung regt darauf hin an, weitere Aufklärung zu betreiben – „Wer soll wann, wo gewesen sein und was getan haben?“ – oder den Prozess nach §StPO 153 einzustellen.
Das Gericht unterbricht die Verhandlung für 10 Minuten, um Recherchen zu betreiben.
Nach der Unterbrechung erklärt der Vertreter der Staatsanwaltschaft, dass er keiner Einstellung nach §153 (NB: Strafprozessordnung: Absehen von der Verfolgung wegen Geringfügigkeit) zustimmen könne, da er den eingangs in der Anklageschrift genannten § 114 StGB stehen hat. Die Videobeweise interessieren auch ihn.
Der Vorsitzende sagte (sinngemäß), dass nach seiner Recherche und Einschätzung im laufenden Prozess Artikel 8 (Versammlungsfreiheit) des Grundgesetz gewahrt sei. Polizeibeamte sind seiner Auffassung nach Bürger in Uniform, die jederzeit z.B. wie in diesem Fall Züge unbehindert betreten und verlassen müssen können, ohne weitere Hintergründe ins Feld führen zu müssen“.
Nun fragte die Verteidigung die Staatsanwaltschaft, ob, um Zeit und Kosten zu sparen, eine Einstellung nach §153a der StPO (Absehen von der Verfolgung unter Auflagen und Weisungen) eine Idee wäre. Der Staatsanwalt meinte, dass er zuerst die gesicherten Videobeweise sehen wolle und erst danach über die vorgetragene Idee eine Entscheidung fällen kann.
Fortführung
Vom Gericht wurde bestimmt, dass der Prozess am 10.09.19 um 13:30 Uhr am Amtsgericht Kandel fortgeführt wird.
(*) Name von der Redaktion geändert
Alle Bilder des Tages:
(Bericht: Christian Ratz / Bilder: Christian Ratz und KIM-Archiv)