Moderne Sklaverei auch im Rhein-Neckar-Raum?

Marian, Saisonarbeiter aus Rumänien, sortiert auf einem Gemüsehof zwischen Bonn und Köln Kartoffeln, als er sich im vergangenen Jahr am Samstag, dem 20. März den Daumen an einer Abfalltonne quetscht. Ein Kollege versorgt die Verletzung notdürftig, aber erst am Montag, als sich die Wunde bereits entzündet hat, fährt ihn der Chef zum Arzt. Der schickt ihn gleich ins Krankenhaus, wo Marian ambulant behandelt und für einen Monat arbeitsunfähig geschrieben wird. Wie die meisten der etwa 300.000 Saisonarbeitskräfte, die jedes Jahr aus Süd- und vor allem Osteuropa nach Deutschland kommen, ist Marian offiziell nur “kurzfristig beschäftigt”. Sein Arbeitgeber muss ihn dann zwar bei der Minijobzentrale anmelden, aber keine Sozialbeiträge für ihn abführen. Weder Kranken- noch Pflege-, weder Arbeitslosen- noch Rentenversicherung. Marian ist also nicht krankenversichert. Im Falle einer Erkrankung oder eines medizinischen Notfalles muss er die Kosten selbst tragen. Im niederbayerischen Mamming bekam eine Saisonarbeiterin, die schwer an Covid-19 erkrankt war, vom Krankenhaus eine Rechnung über 78.800 Euro ausgestellt. Marians Arbeitgeber aber war verpflichtet, ihn bei der Berufsgenossenschaft anzumelden, die bei einem Arbeitsunfall – um den es sich hier ja handelte – die Behandlungskosten trägt. Erstaunlicherweise aber will der Arbeitgeber die Rechnungen aus eigener Tasche bezahlen und drängt darauf, dass Marian so schnell wie möglich nach Rumänien zurückkehrt. Der nächste Bus fährt erst am Samstag, solange darf er in der Unterkunft bleiben, er erhält aber die ihm zustehende Lohnfortzahlung nicht. Erst kurz vor der Abreise bekommt er seinen Lohn. Er hat 246 Stunden gearbeitet, aber auf dem Zettel, den ihm der Bauer statt einer Lohnabrechnung übergibt, fehlen 22 Stunden und damit außer der Lohnfortzahlung für eine Woche nochmal 200 Euro. Jetzt wendet sich Marian an die gewerkschaftliche Beratungsstelle ‘Faire Mobilität’. Diese unterstützt ihn in seinem Kampf gegen den an ihm begangenen Lohnbetrug und trägt den Fall später auch in die Öffentlichkeit durch einen Artikel mit der Überschrift “Ausgenutzt, betrogen, weggeschickt “ (1)

Lauchzwiebelernte in der Pfalz – nicht nur Spargel und Erdbeeren

Lohnbetrug in der Pfalz

Saisonarbeiter*innen sind grundsätzlich in einer ausgesprochen schwachen und verletzlichen Situation. Die meisten sprechen nicht deutsch, kennen ihre Rechte nicht, sind extrem angewiesen auf ihre schmalen Verdienste, werden von der hiesigen Bevölkerung abgesondert und von ihren ‘Arbeitgebern’ häufig eingeschüchtert, bedroht, zuweilen auch mit offener Gewalt konfrontiert. Deshalb gelangen Geschehnisse wie das oben geschilderte nur ganz selten an das Licht der Öffentlichkeit.

Aber auch im Rhein-Neckar-Raum, wo sowohl auf der linken als auch auf der rechten Rheinseite viele ‘Saisonkräfte’ eingesetzt sind, und das nicht nur in der Landwirtschaft, gelingt es nicht immer, die unwürdigen Lebens- und Arbeitsbedingungen dieser Menschen im Verborgenen zu halten: Am 11. August veröffentlicht die Tageszeitung ‘Die Rheinpfalz’ einen halbseitigen Artikel mit der Überschrift “Saisonarbeiter fühlen sich ausgebeutet”. Es geht darin um 20 Männer und drei Frauen aus Usbekistan, die im Juni und Juli in der Vorderpfalz auf dem Feld arbeiteten. Die Vermittlung war über einen jungen Germanistikstudenten gelaufen, ebenfalls aus Usbekistan, der selbst in seinen Ferien in einem Schnellrestaurant im Hunsrück jobbte. Bereits nach wenigen Tagen wird der junge Mann von seinen Landsleuten angerufen und darüber informiert, dass vor Ort vieles nicht so läuft wie vertraglich vereinbart. Arbeitsbeginn ist um sechs Uhr morgens, aber statt der vereinbarten täglichen acht Stunden, sind die Kolleg*innen oft bis abends um 20 Uhr im Einsatz. Ein Kollege berichtet auf Nachfrage, für 21 Tage Arbeit mit 10 bis 12 Stunden täglich habe er 620 Euro bekommen, weniger als ein Drittel des vereinbarten Mindestlohnes. Auch bei den anderen waren die vereinbarten Arbeitszeiten nicht eingehalten, die Löhne nur teilweise und die Überstunden gar nicht ausbezahlt worden. Der Vermittler will den Arbeitgeber aufsuchen, um die Situation zu klären. Vermutlich hatte der Betrieb, der laut ‘Rheinpfalz’ bei einer großen Lebensmittelkette als Lieferant von Gemüse geführt wird, nicht damit gerechnet, dass der Student sich für die von ihm vermittelten Landsleute einsetzt. Aber er reagiert schnell. Bereits bevor der Vermittler im Betrieb ankommt, beginnt dieser, die Arbeitsverträge nach und nach aufzulösen. Die jungen Leute, die kaum Deutsch sprechen und die jetzt weder Arbeit noch Unterkunft haben, schickt er weg. Am Erscheinungstag des Artikels sind noch 6 der 23 Saisonkräfte auf dem Hof beschäftigt, drei sind nach Usbekistan zurückgekehrt und für die Übrigen sucht der Vermittler nun neue Arbeit und Unterkünfte.

Der Arbeitgeber will sich trotz mehrmaliger Anfrage der ‘Rheinpfalz’ zu den Anschuldigungen nicht äußern.

Immer die gleichen Probleme

Das DGB-Projekt ‘Faire Mobilität’ nennt vier Problembereiche, die bei Saisonarbeitskräften in der Landwirtschaft immer wieder auftauchen:

Lohnbetrug: Zwar gilt eigentlich der gesetzliche Mindestlohn, aber die Bezahlung darf  auch aufgrund von Akkordlöhnen erfolgen. Eines von vielen mehr oder weniger legalen Hintertürchen, um gesetzliche und tarifliche Bestimmungen auszutricksen. Weitere übliche Tricks zum Lohnbetrug: Die Löhne werden erst “am Bus”, also direkt vor der Rückreise ausgezahlt. Ohne Abrechnung, Überstunden sind nicht abgerechnet, dafür gibt es nicht nachvollziehbare Abzüge für Unterbringung oder Verpflegung oder Transportkosten oder Arbeitsmittel.

Menschenunwürdige Unterkünfte: in Baracken, Containern, umgebauten Ställen, schimmligen Gebäuden, mit Matratzen ohne Bezug, ohne ausreichende Toiletten, Duschen und Kochstellen.

Unterbringung in billigsten Wohncontainern. (Bilder: F. Hofmann)

Fehlender Arbeitsschutz: Die Landwirtschaft ist in Deutschland sowieso die Branche mit den meisten Arbeitsunfällen. Zusätzlich besonders problematisch ist im Sommer ein mangelnder Schutz vor Hitze und Sonne. Ebenfalls hochproblematisch ist die im Rahmen der Corona-Strategie für Saisonarbeiter*innen beschlossene “Arbeitsquarantäne”. Sie zwang Wanderarbeiter*innen dazu, auch nach Corona-Ausbrüchen ohne ausreichende Schutzmaßnahmen zu arbeiten und sich engen Unterkünften und dichtgedrängten Transporten auszusetzen. Lediglich der Kontakt zur ortsansässigen Bevölkerung wurde untersagt. Diese “Arbeitsquarantäne” erinnert fatal an bestimmte Science-fiction-Filme, in denen nach Ausbruch einer Seuche Teile der Bevölkerung in einem Viertel eingeschlossen und sich selbst überlassen werden.

Fehlende Sozialversicherung: Vor allem die fehlende Krankenversicherung kann zu untragbaren Härten führen. Bei Menschen, die kurzfristig, aber regelmäßig in Deutschland arbeiten, entstehen zudem immer mehr Lücken im Verlauf der Rentenversicherung. (‘Kurzfristig’ war bis 2014 definiert als 50 Tage im Jahr, wurde dann auf Druck der Landwirtschaftslobby erhöht auf drei Monate oder 70 Tage und im ersten Corona-Jahr nochmals auf vorübergehend erhöht auf 115 Tage im Jahr.)

Lohnbetrug, menschenunwürdige Unterkünfte, fehlender Arbeitsschutz und fehlende Sozialbeiträge  sichern nicht nur die Profite der deutschen Landwirtschaft, sondern auch deren Exportüberlegenheit, durch die sie die Grundlagen landwirtschaftlicher Existenzen nicht nur im globalen Süden vernichten kann, sondern auch innerhalb der EU und in unseren unmittelbaren Nachbarländern.

Unentbehrlich, aber unsichtbar

Die Geschichten von Marian und von den Usbeken sind sowohl typisch als auch untypisch. Typisch insofern, als Saisonarbeiter*innen aus Ost- und Südeuropa seit vielen Jahren ein zentraler Bestandteil der deutschen Landwirtschaft sind. Dass Erntearbeiter*innen aus dem EU-Ausland und zunehmend auch aus Drittländern wie Usbekistan seit langem hier arbeiten, ist allgemein bekannt, das Ausmaß und die wirtschaftliche Bedeutung dieser Arbeit aber ist der breiten Öffentlichkeit kaum bewusst. Fast jede/r dritte Beschäftigte in der deutschen Landwirtschaft zählt zu den Saisonarbeiter*innen. Sie gewährleisten, dass deutsche Spargel, Erdbeeren, Äpfel, Gurken und vieles andere überhaupt geerntet werden können. Die Löhne sind extrem niedrig und werden wie dargelegt durch verschiedene Arten des Lohnbetrugs weiter gedrückt. Bei behördlichen Kontrollen, so sie denn überhaupt stattfinden, stellt sich heraus, dass Lohnbetrug und andere Gesetzesverstöße eher die Regel als die Ausnahme sind. Die Anzahl der Arbeiter*innen, die nur wenige Wochen in Deutschland arbeiten und dann in ihre Heimat zurückkehren, nimmt stark zu. Sie arbeiten nicht nur auf den Feldern, sondern auch in Schlachthöfen, auf dem Bau, in der Pflege und in der Transport- und Logistikbranche. Auch in industriellen Kernbereichen werden sie zunehmend eingesetzt, beispielsweise in der Autoindustrie. Trotz ihrer enormen und zunehmenden wirtschaftlichen Bedeutung gibt es keine Statistik, die sie erfasst. Sie sind, wie es Kathrin Birner und Stefan Dietl in einer Untersuchung über moderne Wanderarbeiter*innen ausdrücken, “im Alltag genauso unsichtbar wie sie wirtschaftlich unentbehrlich sind” (2).

Untypisch sind die beiden Geschichten insofern, als sie überhaupt bekannt wurden und insofern, als hier der Kampf gegen unwürdige Arbeits- und Lebensbedingungen aufgenommen und zumindest teilweise erfolgreich geführt wurde. Aber, wie die erwähnte Untersuchung auch zeigt, mehren sich die Fälle, bei denen Arbeitsmigrant*innen um ihre Rechte kämpfen und diese Kämpfe auch gewinnen.

Moderne Sklaverei

Das Thema moderne Sklaverei nimmt rasch an Bedeutung zu.

Seit im Jahre 1980 (!) die Sklaverei im westafrikanischen Mauretanien verboten wurde, ist sie de iure weltweit abgeschafft. De facto aber existiert sie weiterhin und zwar in einem Ausmaß, wie es zuvor in der gesamten Menschheitsgeschichte nicht erreicht wurde. Schätzungen liegen je nach zugrundeliegender Definition zwischen 30 und 200 Millionen Menschen.

Ein Beispiel hierfür ist wiederum Brasilien, wo die Abholzung der Wälder, hauptsächlich für Viehwirtschaft und Futtermittelproduktion, nicht nur die Erderwärmung antreibt, sondern auch die Lebensräume der indigenen Bevölkerung und der Kleinbauern erbarmungslos vernichtet. In Brasilien ist Sklaverei bereits seit 1888 verboten, dennoch wurden seit 1995 über 57.000 Menschen aus der Sklaverei befreit. 2021 wurden in Brasilien knapp 2.000 Menschen aus sklavenähnlichen Verhältnissen befreit und damit doppelt so viele wie im Jahr zuvor, 89 Prozent von ihnen in ländlichen Gebieten. Für einige der großen fleischexportierenden brasilianischen Konzerne konnte nachgewiesen werden, dass sie ihr Fleisch aus Betrieben mit Sklavenarbeit beziehen. Da brasilianisches Fleisch auch nach Deutschland exportiert wird, verdienen auch deutsche Firmen an der Sklaverei in Brasilien, letztlich wird sie auch von deutschen Verbrauchern mitgetragen.

Brasilien ist andererseits eines der wenigen Länder, das während der sozialdemokratischen Lula-Regierung eine Definition moderner Sklaverei in sein Strafgesetzbuch aufgenommen hat. Es formuliert vier Kriterien, von denen eines vorliegen muss, um den Straftatbestand zu begründen:

  • Zwangsarbeit: Menschen werden mit illegalen Methoden zur Arbeit gezwungen und dürfen sich von ihrem Arbeitgeber nicht trennen. (Auf VW-Arbeiter wurde geschossen, falls sie versuchten, die VW-Farm zu verlassen.)
  • Schuldknechtschaft: Auf betrügerische Weise werden den Arbeiter*innen überhöhte Forderungen für Unterkunft, Verpflegung, Transport usw. präsentiert, die sie abarbeiten sollen.
  • Erniedrigende Arbeitsbedingungen: Gefährdung der Menschenwürde oder der Gesundheit oder des Lebens der Beschäftigten
  • Erschöpfende Arbeitszeiten: Arbeitszeiten, die zur völligen Erschöpfung führen und somit ebenfalls die Gesundheit oder das Leben der Beschäftigten bedrohen können.

Würden diese Kriterien in Deutschland auf Arbeitsplätze im Niedriglohnbereich angewendet, vor allem in der Landwirtschaft, in der Pflege und in der Fleischwirtschaft, würde dies vermutlich zur Feststellung von mehreren hunderttausend Fällen moderner Sklaverei führen.

Diese modernen Sklav*innen sind nicht in Käfige eingesperrt, tragen keine Eisenringe oder Ketten mehr um ihren Hals oder an ihren Füßen und werden in der Regel auch nicht ausgepeitscht. Trotzdem enthält das Leben vieler Betroffener mehr Entbehrungen, Härten und Gefahren als das früherer Sklaven. Der weltweit führende Experte für Sklaverei nennt hierfür folgenden Hauptgrund: “Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte besteht ein Überangebot an potentiellen Sklaven.” (7)

Und die Gewerkschaften?

Die Haltung der deutschen Gewerkschaften gegenüber der Arbeitsmigration ist nicht ohne Ambivalenzen. Die Anwerbeabkommen der 50er und 60er Jahre wurden von ihnen abgelehnt, und auch bei der EU-Osterweiterung bestanden sie auf Einschränkungen der Arbeitnehmer*innenfreizügigkeit. Auch wenn es nicht offen gesagt wird, ist zu spüren, dass Gewerkschaften befürchten, dass eine migrantische Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt die Löhne nach unten zieht. Die meisten anderen europäischen Gewerkschaften sowie der Europäische Gewerkschaftsbund vertreten eine andere Richtung und treten ein für das Prinzip “Gleicher Lohn für gleiche Arbeit!” Auch die Haltung, dass Arbeitnehmer*innen ein Recht auf Bewegungsfreiheit haben, breitet sich aus und führt zu Versuchen, auf Migrant*innen zuzugehen und sie gewerkschaftlich zu organisieren statt ihre Zuwanderung zu kontrollieren. Als erste DGB-Gewerkschaft macht die IG Bau speziell migrantischen Arbeitskräften das Angebot einer Jahresmitgliedschaft. Diese Tendenz stützt sich nicht nur auf das gewerkschaftliche Prinzip der Internationalen Solidarität, sondern auch auf Studien, die zeigen, dass Einwanderung von Arbeitskräften sich positiv für bereits beschäftigte Arbeitnehmer*innen auswirkt. Ab 2011 entwickelte sich das erwähnte DGB-Projekt ‘Faire Mobilität’. Es hat den Anspruch, sogenannte mobile Beschäftigte in ihren Heimatsprachen über ihre Rechte zu informieren und sie bei Konflikten zu begleiten. Inzwischen ist die Beratung in allen osteuropäischen Sprachen möglich, und es hat sich ein über die gesamte Republik erstreckendes Beratungsnetzwerk entwickelt. Das Beratungsaufkommen steigt stetig.

Auch in Mannheim arbeitet in den Räumen des Gewerkschaftshauses ein aus fünf Personen bestehendes Team ‘Faire Mobilität’. Es führt diverse öffentliche Aktionen durch und bietet kostenlose Beratungen in deutsch, englisch, spanisch, rumänisch und bulgarisch auch zu Integrationsfragen an und vermittelt Beratungen in weiteren Sprachen. Die Kontaktdaten können eingesehen werden auf der Homepage ‘faire-mobilitaet-mannheim.de’

(1) Ausgenutzt, betrogen, weggeschickt | Faire Mobilität (faire-mobilitaet.de)
(2) Kathrin Birner & Stefan Dietl. Die modernen Wanderarbeiter*innen – Arbeitsmigrant*innen im Kampf für ihre Rechte. Unrast Verlag, Münster, 2021.
(3) Andreas Eckert. Geschichte der Sklaverei – von der Antike bis ins 21. Jahrhundert. C.H. Beck, München 2021.
(4) Jour Fixe Gewerkschaftslinke Hamburg (Hg.) Das “System Tönnies” – organisierte Kriminalität und moderne Sklaverei – Aufhebung der Werkverträge und des Subunternehmertums! Die Buchmacherei, Berlin, 2020.
(5)https://www.jungewelt.de/artikel/432426.ausbeuten-und-pl%C3%BCndern-wir-brachten-zivilisation.html?sstr=michael%7Ckohler
(6) Sven Beckert. King Cotton – Eine Geschichte des globalen Kapitalismus. C.H. Beck, München 2019.
(7) Kevin Bales. Die neue Sklaverei. Kunstmann, München 2001.

Michael Kohler




No risk – no Spargel (Kommentar)

Wir haben inzwischen einiges über die Systemrelevanz von Spargel als identitätsstiftendes Gemüse gehört. Ich will auch niemanden langweilen, für mich persönlich bleibt das Zeug eh im Regal liegen, es ist Luxus. Was mich aber wurmt ist die Tatsache, dass man es mit Luftbrücken schafft, in nur wenigen Wochen 200.000 Urlauber und geplant 80.000 Erntehelfer aus Osteuropa, unter Anwendung von sehr geringen bürokratischen Hürden, ins Land zu schaffen.

Mehr als eine Viertelmillion.

Darf man die Ernte von Deutschlands wertvollstem Gemüse und das Vergessen von Menschen in lebensbedrohlichen Lagen, wie in Moria und anderswo in Europa, zu vergleichen? Ich finde, dass der Vergleich anhand der Umstände, unter denen das alles passiert und der Umstände unter denen ganz andere Sachen eben nicht passieren, nicht hinkt. Oder anders gesagt: wir können es uns nicht mehr leisten das nicht zu vergleichen. Nicht in einer Zeit in der die Regierung die gleichen „Absaufen!“ Rufe aussendet wie Pegida das im vorletzten Sommer tat. Dass die Regierung das nur schriftlich den NGOs zustellt macht es nicht besser – im Gegenteil.

In Sachen Spargel wurde viel gelobt, da war viel Tatkraft, es ging ja auch um was. Stellen wir uns mal für einen Moment vor man würde über Menschen in Not so sprechen wie man über die Ernte von Spargel spricht, was hätten wir dann erreicht?

Als ich am Karlsruher Flughafen die Ankunft der rumänischen Erntehelfer dokumentieren wollte, kam es anders. Von den 8 geplanten Sonderflügen kam keiner an.
Als ich die vor dem Terminal versammelten Abholer, also Landwirte, und Busfahrer nach Kosten, Unterbringung und dieser Quarantäne befragen wollte stieß ich auf Ablehnung und eine Wand des Schweigens. Die Landwirtin murmelt auf meine Begrüßung und den Ansatz einer Frage nur etwas Unverständliches in ihren Mundschutz und wendet sich ab, fängt an auf ihrem Smartphone zu tippen und versucht unsichtbar zu sein. Andere auch. Ganz schön scheu dachte ich.
Nur einer der Busfahrer spricht mich harsch von hinten aus (zu) kurzer Entfernung an „hauen Sie ab. Wir wollen mit Ihnen nix mit zu tun haben“
Hat er so gesagt. Mit mir oder mit der Sache? denke ich noch. Ich bin sauer, Geld verdienen wollen sie aber alle.

Die Dame vom Infopoint im Airport sagt mir, man weiß nur von fehlenden Genehmigungen, die Maschinen seien noch nicht in der Luft. Als sie sich über meine Gegenwart zu wundern scheint schiebt sie nach: „gestern war doch der Pressetermin…“
Ja, einer dieser Termine, bei dem alle erleichtert und zufrieden in Kameras lächeln, wo man von dem heute hier nichts sieht. Aber das ist das enttäuschende am Produkt Spargel.
Ich denke an die Ernte, wie das abläuft, Quarantäne, Distanz halten. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass man einigermaßen sicher Abstand halten kann, wenn man in Sammelunterkünften untergebracht ist. Von der Arbeit selbst ganz zu schweigen, ich sehe da immer an jedem Feld diese Dixi Toiletten stehen, die in der Sonne vor sich hin köcheln.

Später am Abend berichtet der BR warum die Flieger nicht kamen. „Sie wurden gestoppt. Es seien wegen Behördenversagens auf dem Flughafen Cluj (Klausenburg) vor dem Abflug von rund 1.800 Erntehelfern am Donnerstag jegliche Regeln zum Schutz vor der Ausbreitung der Corona-Infektion missachtet worden“ Das waren völlig chaotische Zustände, die Staatsanwaltschaft dort ermittelt jetzt.

Und das ist die Sache die ich schon ganz am Anfang nicht verstanden hab: die hocken da mit 200 Leuten in einer Röhre, auf Sitzen die 60cm voneinander entfernt sind während die Luft über 3 Stunden permanent umgewälzt wird.
Ich denke dabei auch an Ischgl als Covid-19 Superspreader, vor allem an die Motivation und Interessen der Verantwortlichen das ganze so spreaden zu lassen. Hoffen wir, dass die Spargelernte 2020 unter einen besseren Stern steht. Das heute war, schräg und irgendwie sehr enttäuschend, weil ich finde das im Produkt viel Risiko steckt. Vielleicht trifft ein Boykott doch nicht immer die falschen.

(Text und Bilder: Daniel Kubirski)