Urteil aufgehoben: 2. Mai Marktplatz Prozess muss neu verhandelt werden

Pressemitteilung der Initiative 2. Mai vom 17.10.2024

Gestern wurde am Bundesgerichtshof in Karlsruhe der Todesfall von Ante P., der am 2. Mai 2022 auf dem Marktplatz in Mannheim während eines Polizeieinsatzes verstarb, weiter verhandelt. Heute wurde der Beschluss veröffentlicht: Das Urteil wurde aufgehoben und wird erneut vor dem Landgericht in Mannheim verhandelt werden. Die Familie von Ante P. hatte nach dem ersten Urteil des Landgerichts in Mannheim im März diesen Jahres Revision eingelegt. Dr. Junker, der Anwalt der Schwester, wies vor Gericht darauf hin, dass das Verhalten des Polizisten entgegen aller Vorschriften gewesen sei. Die zwanghafte Bauchlage wird im allgemeinen als potentiell tödliche Körperhaltung eingestuft. Die Gerichtsmedizinerin kam im ersten Verfahren zu der Einschätzung, das sich Ante P in einem Todeskampf befunden hat, da er durch das Blut in seinen Atemwegen keine Luft mehr bekam. Der Wissenschaftler Thomas Feltes geht davon aus, dass 75% der Opfer von Polizeigewalt Menschen in einer psychischen Ausnahmesituation sind. Die wenigsten Fälle gegen Polizisten landen vor Gericht und nur etwa ein Prozent führen zu einer Verurteilung.

Kommentar der Initiative 2. Mai Mannheim:

„Wir sind sehr froh, dass es zu einem ersten Prozess kam und eine Verurteilung durch das Landgericht in Mannheim erfolgte. Das Urteil blieb jedoch hinter den Erwartungen der Familie und vieler Prozessbeobachter*innen zurück. Wir mussten mit ansehen, wie privat bestellte Gutachter versuchten zweifel an dem Tod von Ante P. zu sähen und Vorurteile gegen Menschen mit psychischen Diagnosen geschürt wurden. Viele potenziell Betroffene fühlen sich in Mannheim nicht mehr sicher. Diese Revision ist auch für eine gesellschaftliche Aufarbeitung wichtig. Das Verfahren hat nicht nur viel psychische Kraft für die Familie bedeutet, sondern auch einen hohen finanziellen Einsatz. Geld, das die Familie nicht hat. Der Verlust des Sohnes und Bruders führten zu Traumatisierung, die zu Arbeitsunfähigkeit und finanziellen Engpässe führten. Wir bitten daher, die Familie nicht allein zu lassen. Spendet jetzt!“

Gespendet werden kann über die Kampagne Betterplace: „Solidarische Begleitung für die Familie von Ante P.

Kommunalinfo berichtete

7 bittere Erkenntnisse aus dem „2. Mai Marktplatz Prozess“

Erwartbar und dennoch enttäuschend – das Urteil im 2. Mai- Prozess

Polizeigewalt: Scharfe Kritik nach Urteilsverkündung im „2. Mai Marktplatz-Prozess“ [Videobeitrag]




Mannheim zwei Tage nach dem Anschlag: AfD Kundgebung für „Remigration“, Menschenkette für Zusammenhalt und eine traurige Nachricht am Abend

Eine Polizeikette trennt die beiden Veranstaltung auf dem Marktplatz

Zwei Tage nach dem Anschlag auf eine rechte Kundgebung, bei der ein mutmaßlich islamistischer Angreifer sechs Menschen mit einem Messer verletzte, fanden am Tatort zwei Kundgebungen statt. Die AfD Nachwuchsorganisation „Junge Alternative“ hatte eine Versammlung mit dem Titel „Sofortige Remigration islamischer Straftäter“ angemeldet. Diese wurde von bundesweit aktiven JA- und AfD-Kadern organisiert. Die Mannheimer AfD spielte keine Rollte. Es nahmen 150 Personen teil.

An der zweiten Versammlung, eine Menschenkette „Zusammenhalt gegen Gewalt, Hass und Hetze anlässlich der Tat am 31.05.“ nahmen nach Polizeiangaben 800-1000 Menschen aus unterschiedlichen politischen Spektren teil. Die Stadträte Gerhard Fontagnier (Grüne), Chris Rihm (Grüne) und Volker Beisel (FDP) hatten die Versammlung kurzfristig organisiert.

Kundgebung der „Jungen Alternative“ für „Remigration“

Rassistische JA-Kundgebung für „Remigration“

Veranstalterin der rechten Kundgebung war die AfD Jugend „Junge Alternative“ (JA). Unterstützung gab es auch aus der Mutterpartei, beispielsweise von den AfD Bundestagsabgeordneten Nicole Höchst und Christina Baum. Der AfD Kreisverband Ettlingen unterstützte laut Veranstalter organisatorisch. Das „Compact Magazin“ war mit einem Medienteam vor Ort. Eine Fahne der „Deutschen Burschenschaft“ war zu sehen. Der Mannheimer Kreisverband der AfD spielte bei der Veranstaltung keine Rolle. Unter zwei Pavillons, bedruckt mit „AfD“ und „JA“ Logo, traten ab 15 Uhr mehrere Redner*innen ans Mikrofon.

Die These der JA: Mit „Remigration“ wäre die Tat vom Freitag nicht passiert. Dahinter steckt die rassistische Annahme, alle nicht assimilierten Zugewanderten seien potentiell zu solchen Taten fähig und müssten daher zwangsweise abgeschoben werden. Bei den Redner*innen wird diese verfassungsfeindliche These durchaus kontrovers diskutiert. Eine Frau sagte, gut integrierte und friedliche Muslime dürften ihrer Meinung nach in Deutschland bleiben. Nach der Meinung eines nachfolgenden Redners müssten sich hingegen alle Zugewanderten den Deutschen – so wörtlich – „anpassen“ und „unterordnen“. Wieder andere kritisieren den Islam als grundsätzlich gewalttätig und kulturfremd. Die Behauptung, Frauen seien für männliche Muslime Freiwild, wurde verbreitet und drohend gerufen „Deutschland wird christlich bleiben!“. Als Voraussetzung für die deutsche Staatsbürgerschaft wurde das „Abstammungsprinzip“ gefordert. Unter großem Beifall hieß es von der Bühne „Der Islam gehört nicht zu Deutschland“.

Die heftigsten verbalen Angriffe trafen Grüne und CDU. Ihnen wurde in den Reden vorgeworfen, sie hätten bewusst Islamisten nach Deutschland eingeladen, um das Land zu zerstören. Auch die Fake-Behauptung, die Grünen wollten nur die Persönlichkeitsrechte des Täters und nicht die Polizisten schützen, wurde verbreitet.

Oberbürgermeister Christian Specht (CDU) wurde in einer Rede zum Rücktritt aufgefordert. Beschimpfungen gab es auch gegen die Presse, die nur Stimmung gegen rechts machen und islamistischen Terror verschweigen würde. Zum Abschluss der Kundgebung wurde die Nationalhymne gesungen. Dann wurden Kerzen verteilt, um sie an der Gedenkstätte am Marktplatz aufzustellen.

Als kurzes inhaltliches Fazit der JA Veranstaltung kann man zusammen fassen: Was vor ein paar Monaten noch als „Geheimtreffen“ von Potsdam aufgedeckt wurde, fand am Sonntag als öffentliche Wahlkampfveranstaltung der AfD auf dem Mannheimer Marktplatz statt.

Bildergalerie: Kundgebung der „Jungen Alternative“ für „Remigration“

Menschenkette als parteiübergreifender Ausdruck für gesellschaftlichen Zusammenhalt

Gegen die rechte Veranstaltung hatte sich schnell Widerspruch organisiert. Die drei Stadträte Gerhard Fontagnier (Grüne), Chris Rihm (Grüne) und Volker Beisel (FDP) hatten kurzfristig die Menschenkette „Zusammenhalt gegen Gewalt, Hass und Hetze“ organisiert. Damit sollte zum einen die mutmaßlich islamistische Messerattacke verurteilt und zum anderen der propagandistischen Ausschlachtung durch die AfD widersprochen werden. Mit einer ruhigen Veranstaltung sollte an die Verletzten, insbesondere an den schwerverletzten Polizisten gedacht werden. Man wollte für Zusammenhalt in der Stadt und gegen die Spaltungsversuche von Islamisten und Rechtsextremen demonstrieren.

Die Mobilisierung von bis zu 1000 Menschen wurde von den Veranstaltern als Erfolg und deutliches Zeichen gegen die rechte Kundgebung gesehen. Es nahmen Personen aus ganz unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Bereichen teil, die sich entlang der Breiten Straße an den Straßenbahngleisen aufstellten.

Dennoch blieb es nicht still. Als die JA mit ihren Reden begann, wurde es auch bei der Menschenkette laut. Mit Pfiffen und Rufen wurde die rassistische Hetze kommentiert. Die Polizei war anfangs zurückhaltend, mit vergleichsweise wenigen Einsatzkräften vor Ort. Die Teilnahme an beiden bzw. das hin- und herlaufen zwischen den Veranstaltungen war möglich.

Bildergalerie: Menschenkette für Zusammenhalt und gegen Gewalt, Hass und Hetze

 

Pfeffersprayeinsatz, 40 Festnahmen, Halembas Handy abgezockt – weitere Ereignisse am Rande der Kundgebungen

Für einen größeren Tumult sorge das unerwartete Auftreten von ca 40 Antifaschist*innen, die lautstark mit Bannern, Fahnen und einer rauchenden Fackel in Richtung Marktplatz gelaufen kamen.

Die Gruppe wurde sofort von Polizist*innen gestoppt und mit Pfefferspray attackiert. Die Polizei schreibt dazu: „Gegen 15:15 Uhr versuchte eine Gruppe mit teilweise vermummten Personen die Versammlung auf dem Markplatz zu stören und gewaltsam auf diesen vorzudringen. Einige dieser Personen waren mit Fackeln bewaffnet. Der Sturm auf den Marktplatz konnte durch schnelles polizeiliches Intervenieren verhindert werden.“

Der von der Polizei behauptete gewaltsame Sturm auf den Marktplatz ist spekulativ, da es dazu nicht kam. Dennoch bleibt die Frage, was die Gruppe vorhatte.

Polizeieinsatz und Pfefferspray gegen Antifaschist*innen

Die Polizei setzte die ca. 40 Personen am Quadrat R1 fest und nahm später alle eingekesselten zur Identitätsfeststellung mit dem Vorwurf „Landfriedensbruchs“ in Gewahrsam.

Um den Polizeikessel herum bildete sich eine Menschenmenge, die für die Freilassung der jungen Antifaschist*innen protestierte und auch nach Beendigung der Versammlungen blieb. Die Versammlungsleiter der Menschenkette versuchten zu vermitteln. Die Bundestagsabgeordnete Gökay Akbulut (Die Linke) versuche später eine Freilassung der minderjährigen Festgesetzten zu erreichen.

Der Vorfall hatte auch zur Folge, dass die anfangs zurückhaltende Polizeipräsenz zu einer dichten Polizeikette geändert wurde, die keine Personen mehr zwischen den Veranstaltungen durch ließ. Zudem wurde eine Straßenbahn der RNV als Barriere zwischen die beiden Veranstaltungen gefahren.

Gegen 16:30 Uhr waren alle offiziellen Veranstaltungen beendet. Der vor kurzem wegen Volksverhetzung, Nötigung und Geldwäsche verurteilte bayerische AfD Landtagsabgeordnete Daniel Halemba berichtete später, dass am Ende der Veranstaltung eine 10-köpfige Gruppe sein Handy klaute und unerkannt fliehen konnte. Ein weiterer AfD Anhänger berichtete von einem körperlichen Angriff auf ihn.

Nach den turbulenten Ereignissen des Nachmittags, gab es leider auch am Abend keine Ruhe. Gegen 19 Uhr erreichte die Öffentlichkeit die traurige Nachricht, dass der schwer verletzte Polizist an den Verletzungen des Anschlags von Freitag gestorben ist. (cki)




7 bittere Erkenntnisse aus dem „2. Mai Marktplatz Prozess“

Nach der Urteilsverkündung: Leere im Landgericht Mannheim

Noch ist das letzte Wort nicht gesprochen, denn die Nebenklage hat nach dem enttäuschenden Urteil im „2. Mai Marktplatz Prozess“ Revision eingelegt. Sie will das Urteil vom Bundesgerichtshof prüfen lassen.

Am 1. März 2024 wurde einer der beiden Polizisten wegen einfacher Körperverletzung zu einer Geldstrafe verurteilt. Angeklagt war er wegen Körperverletzung mit Todesfolge, worauf eine Haftstrafe gedroht hätte. Sein wegen unterlassener Hilfeleistung angeklagter Kollege wurde freigesprochen.

Während die Nebenklage Revision beantragt hat, startete der Polizeigewerkschafter Thomas Mohr eine Spendenkampagne, um Geld für den wegen Körperverletzung verurteilten Kollegen zu sammeln. Für den 15. März ruft die „Initiative 2. Mai“ zur Kundgebung gegen Polizeigewalt auf (17 Uhr Marktplatz).

Der Hauptprozess um den tödlichen Polizeieinsatz ist beendet. Die gesellschaftliche Auseinandersetzung geht weiter. Zeit für eine Zwischenbilanz, um einige bittere Erkenntnisse festzuhalten.

  • Juristische Aufarbeitung kann keine Wahrheit versprechen
    Obwohl die Beweislage so gut wie selten war, konnte das Gericht in der entscheidenden Frage – der Todesursache – keine Wahrheit verkünden. Viele Zeug*innen, umfangreiches Videomaterial und eine Aussage des Angeklagten zeichneten ein klares Bild des Geschehens. Es ist unstrittig, dass die zwei Polizisten den flüchtenden Ante P. mit Pfefferspray und Faustschlägen verletzten und dann so lange auf den Boden drückten, bis er tot war.
    Keine Klarheit lieferten die medizinischen Gutachten zur Todesursache. Das Gutachten der Staatsanwaltschaft wurde von einem zweiten Gutachten der Verteidigung angezweifelt, so dass der Richter die Frage der Todesursache ungeklärt lies. Das kam dem Angeklagten zu Gute. Seine Unschuld am Tod von Ante P. ist zwar nicht bewiesen, seine Schuld aber genauso wenig. „Im Zweifel für den Angeklagten“ hieß es am Ende der Beweisaufnahme.
  • Täter-Opfer-Umkehr ist eine gute Prozessstrategie
    Ein Mensch ist gestorben und deshalb standen die zwei Angeklagten vor Gericht. Immer wieder haben Verteidigung (im Gerichtssaal) und Polizeigewerkschaft (in der Öffentlichkeit) die beiden Angeklagten aber als Opfer dargestellt. Sie hätten sich gegen den gewalttätigen Ante P. verteidigen müssen (der eigentlich versuchte aus der Situation zu fliehen), sie hätten sich gegen eine aggressive Menschenmenge verteidigen müssen (die lautstark forderte, dass die Gewalttat endet) und später seien die Polizisten Betroffene dienstrechtlicher Maßnahmen und Opfer von Beleidigungen gewesen. Aus der subjektiven Perspektive der Angeklagten mag das so sein. Verteidigung und Polizeigewerkschaft haben diese Opferrolle aber so vehement vertreten, dass sie auch im „objektiven“ Urteil des Gerichts Berücksichtigung fand und zugunsten der Angeklagten angeführt wurde.
    Der eigentliche Anlass, nämlich der Tod von Ante P., geriet im Laufe der Prozesstage zunehmend in den Hintergrund. Zurecht kritisierte die Familie des Getöteten, dass es mehr um die Probleme der Angeklagten ging, als um das Leid der Angehörigen.
  • Menschen mit psychischen Erkrankungen werden diskriminiert
    Im Prozess ging es auch um die Rechtmäßigkeit des Polizeieinsatzes gegen Ante P. und die Frage, ob es rechtlich zulässig war, den psychisch kranken Mann gegen seinen Willen ins ZI (eine Psychiatrische Einrichtung) zu bringen.
    Der Richter bejahte das in seinem Urteil und begründete es mit Sicherheitsbedenken. Als Beweise wurden einerseits die Diagnose von Ante P. aufgeführt (paranoide Schizophrenie), weiter ein von Zeugen beobachteter Vorfall, demnach Ante P. über die Straße gelaufen sei, ohne auf den Verkehr zu achten. Letztlich sei aber die Entscheidung des Arztes ausschlaggebend gewesen, der die Polizei um eine „Rückführung“ in die Klinik gebeten hatte.
    Bemerkenswert ist, dass keinerlei Gewalt, Drohung oder in sonstiger Weise aggressives Verhalten erforderlich war, um in Ante P. ein Sicherheitsproblem zu sehen. Der Richters schloss sich dieser Einschätzung an und erklärte die gewaltsame Verbringung in die Psychiatrie für gerechtfertigt. Psychisch kranke Menschen müssen schlussfolgern, dass ihnen Gewalt droht, auch wenn sie selbst gar nicht gewalttätig sind.
  • PolG und PsychKHG hebeln Grundrechte aus
    Geht man noch einen Schritt weiter, muss man feststellen, dass das Polizeigesetz (PolG) und das Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz (PsychKHG) verfassungsmäßig garantierte Grundrechte aushebeln. Der freie Wille über den persönlichen Aufenthaltsort, über die eigene medizinische Behandlung, über die Wahl eines Arztes – all das sollte eigentlich besonders geschützt sein. Die zwangsweise Unterbringung in einer Psychiatrie darf nicht ohne weiteres angeordnet werden. Hier ist ein rechtsstaatliches Verfahren vor Gericht erforderlich.
    Doch nicht so bei „Gefahr im Verzug“. Davon spricht man, „wenn ein regulärer Verfahrensweg ausnahmsweise nicht eingehalten werden kann, weil andernfalls eine effektive Gefahrenabwehr nicht möglich wäre“. Das war die Rechtsgrundlage des Polizeieinsatzes und mit anderen Worten heißt das: Die Polizisten durften selbst Richter spielen – zumindest für einen Tag. Spätestens am Tag darauf, muss die Rechtmäßigkeit von einem Gericht überprüft werden (laut Grundgesetz Artikel 104). Doch da war Ante P. bereits tot.

Ein Aufkleber auf einem Laternenmast in Mannheim

  • Polizist*innen sind privilegiert
    Im krassen Gegensatz zur Bevormundung psychisch kranker Menschen steht der Vertrauensvorschuss, den Polizist*innen bei der Justiz genießen. Auch in diesem Verfahren wurde Gewalt von der Justiz abgesegnet. Ausdrücklich erwähnte der Richter, dass „nur die vier Schläge“ gegen den am Boden liegenden Ante P. nicht gerechtfertigt gewesen seien. Die Eskalation der Lage wurde vom Gericht als legitimer Polizeieinsatz angesehen. Auch in der Frage der Todesursache hat der Richter mindestens ein Auge zugedrückt. Man hätte auch ein weiteres Gutachten zur finalen Klärung beauftragen können. Er beließ es aber beim Zweifel – zugunsten des Polizisten.
    Man muss zwangsläufig an die Gründlichkeit der Aufklärung in anderen Fälle denken, wenn Menschen zu Tode kommen. Würde eine Erzieherin so einfach „im Zweifel für die Angeklagte“ davon kommen, wenn ein Kind in ihrem Verantwortungsbereich gestorben wäre? Oder ein Fahrer bei einem Verkehrsunfall mit Todesfolge? Die Nebenklage will das mit der Revision überprüfen lassen. „Wir werden sehen, was ein anderes Gericht dazu sagt“, resümierte Rechtsanwalt Engin Şanlı das Urteil.
  • Die GdP ist eine loyale Interessenvertretung
    Was für Autofahrer*innen der ADAC ist und für linke Aktivist*innen die Rote Hilfe, das ist für Polizeibeamt*innen die GdP. Die juristische Arbeit der Verteidigung wurde von der Polizeigewerkschaft durch emotionale Unterstützung, finanzielle Rechtshilfe und politische Öffentlichkeitsarbeit unterstützt. Das Gesicht der GdP, der Bezirksgruppenvorsitzende und Personalrat Thomas Mohr, hat die Prozesstage im Landgericht beobachtet und war faktisch Pressesprecher der Verteidigung.
    Von Beginn an positionierte er sich stark für die Unschuldsvermutung. Auch nach „bewiesener Schuld“, also nach dem Urteilsspruch wegen Körperverletzung, blieb Mohr solidarisch an der Seite des Verurteilten. Während des gesamten Prozesses kritisierte Mohr immer wieder die öffentliche „Vorverurteilung“ der Polizist*innen. Dass Mohr bei anderen Themen mit öffentlichen Vorverurteilungen weniger Probleme hat, wenn er zum Beispiel „Silvester Chaoten“ als „respektlose junge Männer mit Migrationshintergrund“ bezeichnet, ist kein Widerspruch, sondern logische Folge der Arbeit einer parteiischen Interessenvertretung.
    Bei seinen Äußerungen holte Mohr zu einigen Angriffen aus, was seiner Reputation in der Belegschaften der Polizeibehörden sicher gut getan hat: Er griff den Arzt von Ante P. scharf an, ebenso die Gerichtsmedizinerin der Staatsanwaltschaft und natürlich Teile der Öffentlichkeit, die sich kritisch über den Polizeieinsatz geäußert hatten. Deutliche Kritik äußerte er auch gegenüber seinen Vorgesetzten, konkret dem Polizeipräsidenten, dem er ebenfalls Vorverurteilung vorwarf.
    Die GdP dürfte sich damit auch im Konkurrenzkampf mit der DpolG gut positioniert und ihr Profil als absolut loyale Interessenvertretung geschärft haben. Getoppt wird das ganze von eine Spendenkampagne für den Straftäter. Um zu verhindern, dass der verurteilte Polizist seine Geldstrafe und die Gerichtskosten selbst zahlen muss, hat Thomas Mohr eine Spendenkampagne ins Leben gerufen und sammelt über die Plattform „Betterplace“ 10.000 Euro für Unterstützungszahlungen.
    Das alles ist natürlich völlig legitim für eine Polizeigewerkschaft. Man sollte nur nicht den Fehler machen, die GdP als objektive Instanz oder neutralen Ansprechpartner in Sicherheitsfragen anzusehen. Es ging nie um Fehlerkultur, Reflexion und die Frage, wie man es hätte besser machen können. Es ging immer um Schadensbegrenzung, nicht mehr und nicht weniger. Und da unterschiedet sich die GdP von manch anderer Gewerkschaft.

Mutter und Schwester von Ante P. kurz vor der Urteilsverkündung

  • Recht ist nicht immer Gerechtigkeit
    Die Mutter des Getöteten Ante P. berichtete in ihrem Schlusswort, dass es für sie sehr schwer war, den Prozess zu verfolgen. Bei schlimmen Details zum Tod ihres Sohnes hätten die Angeklagten gelächelt. Es hätte unwürdige Vergleiche gegeben, ihr Sohn sei dabei „ein weiteres mal gequält worden und gestorben“. Sie habe bisher immer Vertrauen in die Behörden, die Polizei und das Gericht gehabt. Am Ende wurde die Familie schwer enttäuscht. Die Schwester zeigte sich erschüttert und voller Angst nach dem Urteil. Menschlichkeit hat im Gerichtssaal nichts verloren, stellte eine Prozessbeobachterin nach der Urteilsverkündung fest.

(cki)




Erwartbar und dennoch enttäuschend – das Urteil im 2. Mai- Prozess

Der Gerichtsaal vor Prozessbeginn

Am 01.03.2024 wurde am Mannheimer Landgericht das Urteil im sogenannten 2.Mai- oder Marktplatz- Prozess gesprochen. Angeklagt waren zwei Polizeibeamte, bei deren Einsatz Ante P. am 02.05.2022 am Marktplatz in Mannheim ums Leben kam. Der Vorgang wurde von vielen Menschen beobachtet und hat für überregionales Aufsehen sowie Proteste in Mannheim gesorgt. Dementsprechend groß war der Andrang bei den Gerichtsterminen. In der insgesamt siebten Sitzung seit dem Prozessauftakt am 12. Januar, wurde der Angeklagte Z. vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung durch Unterlassen freigesprochen und der Angeklagte J. zu einer Geldstrafe von 120 Tagessätzen à 50€ wegen Körperverletzung verurteilt. Der Vorwurf der Körperverletzung im Amt mit Todesfolge konnte nach Meinung des Gerichts und der Staatsanwaltschaft nicht aufrechterhalten werden, da ein von der Verteidigung vorgebrachtes Gutachten Zweifel daran aufkommen ließ, ob die Schläge und Gewalt der beiden Polizeibeamten zum Tod von Ante P. geführt haben. Es sei nicht auszuschließen gewesen, dass ein Herzversagen den Tod von Ante P. verursacht habe und kein lagebedingter Erstickungstod, wie von der Rechtsmedizin Heidelberg und der Staatsanwaltschaft Mannheim zunächst vorgebracht. Die Angehörigen und Vertreter der Nebenklage zeigten sich nach dem Urteil schwer enttäuscht und sie kündigten bereits an Revision beantragen zu wollen.

Kammer der Schwurgerichts, Mitte: Vorsitzender Richter Gerd Rackwitz

Richter Rackwitz nannte den Vorfall einen „tragischen Polizeieinsatz“ und bezeichnete die Faustschläge gegen Ante P. als „Misshandlung“, die den Tatbestand der Körperverletzung erfüllen. Ob diese die Ursache für den Tod von Ante P. gewesen seien, sei jedoch nicht sicher zu klären. Dass die beiden Polizeibeamten verpflichtet gewesen seien, Ante P. aufzuhalten und in das ZI zu bringen, sieht Richter Rackwitz als gegeben. Die Anwendung von Gewalt sei zudem begründet gewesen, da Ante P eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit dargestellt habe. Dies begründet der Richter mit der psychischen Erkrankung von Ante P. und dass er sich laut Angaben einer Zeugin ohne zu schauen auf die Straße begeben habe. Der Einsatz des Pfeffersprays sei als Notwehr anerkannt worden, da Ante P. sich dem Zugriff verweigert habe und laut Angaben der Verteidigung aggressiv gegenüber den Polizeibeamten aufgetreten sei. Der Angeklagte J gab außerdem an, dass er Ante P auch deshalb mehrfach gegen den Kopf geschlagen habe, um zu verhindern, dass Ante P vermeintlich nach einem gefährlichen Gegenstand in seiner Jackentasche greift. Dem hat Richter jedoch Rackwitz entgegnet, dass die Schläge nicht notwendig gewesen seien, weil Ante P. bereits auf dem Boden lag und auch auf anderem Wege daran gehindert werden können. Deshalb seien die Schläge nicht mehr als Notwehr einzustufen. Eine fahrlässige Unterlassung des Angeklagten Z. sah das Gericht nicht gegeben, da die Erfolgswahrscheinlichkeiten einer Laienreanimation allgemein gering seien und deshalb sein Unterlassen keine Schuld am Tod von Ante P. begründet.

Juristisch scheint das im Endeffekt milde Urteil damit einigermaßen erklärbar zu sein. Die Erfolgsaussichten einer Revision sind deshalb schwer abzuschätzen. Trotzdem hinterlässt der Prozess ein starkes Unbehagen bei vielen Beteiligten. Man kommt kaum um den Gedanken herum, dass Ante P. vermutlich noch leben würde, wäre er am 02. Mai nicht zum Objekt dieses Polizeieinsatzes geworden.

Die in den Videosequenzen ersichtlichen Handlungen von Ante P. können allesamt auch als Versuche der Flucht aus der Situation gedeutet werden. Ein aktiver Angriff gegen die Polizeibeamten sei hingegen kaum zu erkennen gewesen. Was wäre passiert, hätten die beiden Polizeibeamten Ante P. diese Flucht gewährt und wären ihm lediglich in einem gewissen Abstand gefolgt? Die von Richter Rackwitz vorgebrachte Hypothese eines Risikos für den Straßenverkehr wirkt dahingehend ziemlich pauschal. Schließlich hätten die beiden Polizeibeamten im Zweifel auch den Verkehr aufhalten können, statt Ante P. Zudem fand das Geschehen an einer teilweise verkehrsberuhigten Stelle in den Mannheimer Quadraten zu einer Tageszeit statt, an der permanent Menschen mehr oder weniger achtsam über die Straße am Marktplatz laufen, ohne dass es dort so etwas wie einen Überweg gibt. Selbst angenommen, es wäre wirklich zu einem Verkehrsunfall gekommen, bei dem Ante P. schwer verletz oder ums Leben gekommen wäre. Ob die beiden Polizeibeamten ebenfalls angeklagt worden seien, wenn sie Ante P. nicht mit Gewalt vorher aufgehalten hätten, scheint eher fraglich. Der Rückgriff auf einen hypothetischen Verkehrsunfall wirkt eher als Hilfskonstrukt, ohne die eine von Ante P. ausgehende Gefahr kaum wirklich begründbar gewesen wäre und das polizeiliche Handeln stärker in Frage gestellt hätte. Dazu war das Gericht offensichtlich nicht bereit.

Die Nebenklage des Verfahrens, in der Mitte: Mutter und Schwester des getöteten Ante P.

Weiterhin wird den Angeklagten von Richter Rackwitz zu Gute gehalten, dass die vielen Beobachter:innen für eine Stresssituation gesorgt hätten. Er hat diese sogar zum Teil als „Störer“ bezeichnet. Eine Perspektive, die ebenfalls in Frage gestellt werden sollte. Denn erstens gehört es zur Aufgabe von Polizeibeamt:innen auch in solchen Situationen angemessen handeln zu können. Und zweitens ist von einem tatsächlichen Stören auf keinem der Videosequenzen etwas zu sehen. Ist es Ante P. vielleicht nicht sogar zum Verhängnis geworden, dass es gerade keine  Störung des Einsatzes gab? Dass das Geschehen zwar auf unzähligen Videos gut dokumentiert ist, aber niemand tatsächlich eingegriffen und gestört hat? Wieso wird allgemein von Zivilcourage gesprochen, wenn man jemanden in Gefahr sieht, aber nicht, wenn die Gefahr von Polizeibeamt:innen ausgeht?

Außerdem wurde erneut deutlich, dass es sich bei einem Gerichtssaal nicht um neutralen Boden handelt. Dies kann grundsätzlich in Frage gestellt werden (Klassenjustiz), gilt für Prozesse gegen Polizeibeamt:innen vermutlich umso mehr. Auch wenn formal von einer Gewaltenteilung gesprochen wird, sind die Berufsfelder von Polizeibeamt:innen und Richter:innen über ihr Werkzeug, das Recht, eng miteinander verknüpft. Eine Staatsanwaltschaft würde ohne ihre Ermittungsbeamt:innen kaum auskommen. So kann auch von einem gewissen Vertrauensvorschuss gegenüber Polizeibeamt:innen vor Gericht ausgegangen werden, den vermutlich sowohl Jurist:innen als auch Schöff:innen mitbringen, die sich hauptsächlich aus bürgerlichen Milieus rekrutieren in denen die Polizei sicher ein bestimmtes Ansehen genießt und die im Zweifel auf die Polizei vertrauen können -im Gegensatz zu anderen Bevölkerungsgruppen wie z.B. rassifizierte oder pathologisierte Personen-, denn schließlich stützt die Polizei auch bürgerliche Machtverhältnisse und Moralvorstellungen.

T-Shirts einiger Prozessbeobachter*innen der „Initiative 2. Mai“. „Ich will einen Richter“ sollen die letzten Wort von Ante P. gewesen sein, bevor er bei dem Polizeieinsatz starb

Neben dem milden Urteil haben Angehörige und Vertreter:innen der Nebenklage kritisiert, dass sich sich die Angeklagten teilweise ünwürdig verhalten hätten. So haben sie teilweise bei Ausführungen der Staatsanwaltschaft oder der Nebenklage gegrinst oder abschätzig reagiert. Dies habe den Eindruck hinterlassen, dass die Angeklagten sich nicht immer bewusst gewesen seien, dass derzeit zwar nicht juristisch, aber persönlich mitverantwortlich für den Tod eines Menschen sind. Neben dem Verhalten der Angeklagten, zeigten auch manche Prozessbeobachter ein selbstgefälliges Verhalten. Nachdem die Justizangestellten verkündet hatten, dass der Sitzungssaal eins nun voll sei und nur noch Pressevertreter:innen Zugang bekommen, sorgte das für Frust bei vielen, die bereits lange vor dem Saal auf ihren Einlass gewartet haben. Zwei Männer schien das jedoch nicht zu beeindrucken und sie haben sich an mehreren Wartenden vorbei noch zur Einlasskontrolle begeben. Nach einem, dem äußeren Anschein nach vertrauensvollen Austausch mit den kontrollierenden Polizeibeamten, wurden diese doch noch in den Saal gelassen. Ob es sich bei den beiden selbst um Polizeibeamte gehandelt habe, die ihre Kontakte genutzt haben? Das legt zumindest auch der heitere Austausch dieser Personen mit der Verteidigung nach der Verhandlung nahe.

Alles in allem bleibt den Angehörigen und vielen solidarischen Beobachter:innen kein gutes Gefühl nach diesem Prozess. Inwiefern dieses Unbehagen juristisches Gehör findet, wird womöglich die Revision zeigen. Solidarität erhielten die Angehörigen auch von Prozessbeobachtern aus Dortmund, die derzeit ebenfalls politische Arbeit im Rahmen eines Gerichtsverfahrens gegen Polizeibeamte leisten, nachdem M. Dramé in Dortmund von mehreren Polizisten erschossen wurde. Da die Angehörigen und Aktiven der Initiative 2.Mai (https://initiative-2mai.de) auch außerhalb der kräftezehrenden juristischen Auseinandersetzung weiterhin politisch aktiv bleiben wollen, haben sie zu einer Kundgebung am 15.03.2024 (Tag gegen Polizeigewalt) am Marktplatz in Mannheim aufgerufen.

Text: DeBe, Bilder: KIM

Siehe auch: Videobeitrag zur Urteilsverkündung
mit Kommentaren von Engin Şanlı, Rechtsanwalt der Nebenklage, Antonia P., Schwester des Getöteten und Nebenklägerin sowie Sevda Can Arslan und Dagmar Kohler von der Initiative 2. Mai

 




Polizeigewalt: Scharfe Kritik nach Urteilsverkündung im „2. Mai Marktplatz-Prozess“ [Videobeitrag]

Die Kammer des Schwurgerichts am Landgericht Mannheim

In sogenannten 2. Mai oder Marktplatz-Prozess am Mannheimer Landgericht wurde am Freitag, 1. März 2024 ein Urteil gesprochen. Die Anklage richtete sich gegen zwei Polizisten, die einen Einsatz mit tödlichem Ausgang im Jahr 2022 zu verantworten hatten. (KIM berichtete mehrfach)

Ein Psychiatriepatient, der nicht freiwillig zurück ins Zentralinstitut für Seelische Gesundheit gehen wollte, wurde bei seiner Flucht zum Marktplatz von den Polizisten mit Pfefferspray besprüht, geschlagen und auf dem Boden fixiert, bis er starb. Die Anklage gegen einen Polizisten lautete Körperverletzung im Amt mit Todesfolge, für den anderen Stand der Vorwurf der fahrlässigen Tötung durch Unterlassen im Raum.

Nebenklage: Mutter, Schwester und Rechtsanwalt Şanlı

Mildes Urteil wegen Körperverletzung und ein Freispruch

Wie bei den vergangenen Prozesstagen, war auch zur Urteilsverkündung das öffentliche Interesse sehr groß. Viele Unterstützer*innen der Polizisten, aber auch viele Kritiker*innen von Polizeigewalt saßen im Publikum.

Die Kammer um Richter Gerd Rackwitz sprach in ihrem Urteil einen Polizisten schuldig wegen Körperverletzung. Er bekam eine Geldstrafe von 120 Tagessätzen zu je 50 Euro. Eine Verantwortung für die Todesfolge könne ihm nicht nachgewiesen werden, so der Richter. Ein zweites medizinisches Gutachten, das die Verteidigung in Auftrag gegeben hatte, war maßgeblich für diese Entscheidung verantwortlich. Der zweite Polizist wurde freigesprochen. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, Revision wurde zugelassen.

Die Nebenklage der Familie des Getöteten und die Initiative gegen Polizeigewalt kritisierten im Interview mit KIM das Urteil scharf. Im Videobeitrag kommen Engin Şanlı, Rechtsanwalt der Nebenklage, Antonia P., Schwester des Getöteten und Nebenklägerin sowie Sevda Can Arslan und Dagmar Kohler von der Initiative 2. Mai zu Wort. (cki)

 

 

 




Ist die Luft raus? Corona-Demos verlieren an Zulauf

Querdenken 621 – ehemals Corona Rebellen – am Pfingstsonntag auf dem Marktplatz

Noch kommen sie, die Demonstrant*innen mit „Gib Gates keine Chance“ Aufkleber und Alubommel um den Hals. Doch die Mobilisierung der Massen, wie es im Mai in einigen Städten gelungen war, funktioniert offenbar nicht mehr. Auch in Mannheim sinken die Teilnehmerzahlen bei den Demos mit Corona-Thema, die anfangs unter dem Label „Corona Rebellen“ und mittlerweile als Ableger des „Querdenken“-Netzwerks nach Stuttgarter Vorbild organisiert werden.

Zwischen 150 und 250 Teilnehmer*innen dürfte Organisator Patrick Schlegel am Pfingstsonntag auf dem Marktplatz begrüßt haben – keine einfache Schätzung, da sich diesmal besser an Abstandsregeln gehalten wurde, die Leute weiter auseinander standen und bei vielen am Rande nicht klar erkennbar war, ob sie aktiv teilnahmen und nur mal kurz stehen blieben und zuhörten.

Gegenproteste gab es nicht. Dafür fand zeitlich vor der Veranstaltung auf dem Marktplatz eine Mahnwache zum Gedenken an die Opfer des Anschlags von Hanau statt. „Hier werden genau die Verschwörungsgeschichten verbreitet, die den Attentäter von Hanau zu seinen Taten getrieben haben“ sagte ein Initiator mit Blick auf die „Querdenken“-Veranstaltung. Auch später blieben die Teilnehmer der Mahnwache am Rande und zeigten ein Plakat mit Bildern und Namen der Opfer aus Hanau und eines mit einem Spiegel und der Bildunterschrift „Mitschuld?“.

„Der erste Rechte mit Dreadlocks“

Patrick Schlegel, Organisator der Proteste

Patrick Schlegel war Hauptredner der „Querdenken“-Veranstaltung und gab sich Mühe, einen zahmen und friedlichen Rahmen zu gestalten. Die schlechte Presse nach den letzten Veranstaltungen war dafür offenbar der Grund. Er betonte, dass die Kundgebung überparteilich sei und alle Parteien sprechen dürften. Allerdings waren ausschließlich Vertreter der AfD auf dem Marktplatz anzutreffen. Schlegel sagte, er sei parteilos, „weder rechts noch links“ und fragte die Menge: „Habt ihr schon mal nen Rechten mit Dreadlocks gesehen?“ – worauf hin gleich die Selbsterkenntnis folgte: „Bin ich wohl der erste in Deutschland“.

Inhaltlich ging Schlegel ausführlich auf die unterschiedlichen Situationen ein, in denen Menschen unter den Auswirkungen der Corona-Pandemie zu leiden haben. Es blieb bei einer Situationsbeschreibung. Die einzige konkrete politische Forderung (neben der allgemeinen Forderung „Erhalt der Grundrechte“), war die Unterstützung des AfD-Antrags, einen Corona-Untersuchungsausschuss einzurichten. Während der Rede skandierte die Menge regelmäßig „Freiheit, Freiheit“.

Unterstützung gab es am Pfingstsonntag von „DJ Michael Schele“, der sich als „Veteran“ der Corona-Demos in Stuttgart präsentierte und eine laute Tonanlage zur Verfügung stellte. Der DJ bedankte sich bei Polizei und Stadtverwaltung für die „gute Zusammenarbeit“ und insbesondere für die Bereitstellung eines Stromanschlusses für die Lautsprecheranlage. Auch inhaltlich meldete er sich zu Wort und behauptete, bei den „Medizinern und Wissenschaftlern“ könnten wohl einige nicht richtig rechnen.

Der zahme Charakter, den Schlegel anfangs vorgab, endete spätestens, als das offene Mikrofon begann. Der erste Redner legte gleich damit los, dass alle bisherigen Bundestage nicht existent gewesen seien, da Deutschland seit dem zweiten Weltkrieg immer noch amerikanisches Hoheitsgebiet wäre. Merkel sei eine „Marionette“ der USA. Ein ehemaliger Ballettlehrer, der auch bei den bisherigen Veranstaltungen der „Corona-Rebellen“ die Aufmerksamkeit suchte, erzählte erneut einige Schwenks aus seinem Leben, bis er auf die Bedrohung durch „Chemtrails“ zu sprechen kam. Zwischendrin gab der DJ unter Beifall bekannt, dass „Drostens Corona-Tests“ vielleicht auch einfach nur Vitamin-C Mangel anzeigen würden.

Weder rechts noch links?

„Sind hier Rechte anwesend?“

Tatsächlich war die Versammlung kein homogener, politisch rechter Auflauf, sondern bot Raum für verschiedene Meinungen, Forderungen und Personengruppen. So lief beispielsweise Musik der linken Band Freundeskreis. Jugendliche mit dunkler Hautfarbe waren unter den Teilnehmenden. Als Schlegel die Menge fragte, ob denn Rechte anwesend seien – verhaltene „Nein“ Rufe und bei einigen verlegenes auf den Boden schauen. Nicht einmal der Neonazi Detlef Walk mit Thor Steinar T-Hemd und Schwarzer-Sonne-Tattoo auf dem Arm hat „Hier“ gerufen.

Politisch rechts will offenbar kaum jemand sein. Ausnahmen bestätigen die Regel: Edgar Baumeister (AfD), der seit vielen Jahren bei entsprechenden Veranstaltungen anzutreffen ist, diskutierte lautstark mit den Teilnehmer*innen der Hanau-Mahnwache. Dabei betonte er mehrfach, dass er „Patriot“ und natürlich „rechts“ sei – immerhin einer, der dazu steht.

Auch weitere bekannte Gesichter der rechten Szene waren anzutreffen, beispielsweise Heinrich Peter Liebenow vom AfD-Kreisvorstand, Rainer Huchthausen, ehemaliger AfD-Stadtrat und laut eigener Aussage mittlerweile „Patriot bei Facebook“, Ralph Bühler, AfD Mitglied und rechter Influencer und Rainer Berberich, der kaum eine Gelegenheit auslässt, öffentlich Lügen und Unterstellungen über das Jugendzentrum Friedrich Dürr, den Stadtjugendring, die Stadtverwaltung oder den Oberbürgermeister zu verbreiten. Anwesend war auch wieder der Verschwörungstheoretiker Arif Rudolf Utler, der solche Veranstaltungen nutzt, um seine Reichsbürger-Thesen zu verbreiten.

Sinkende Teilnehmerzahlen und Ausdifferenzierung der Bewegung

Einige Teilnehmer*innen der Hanau-Mahnwache blieben zum stillen Protest gegen Verschwörungstheorien

Die sinkenden Teilnehmerzahlen haben zwei Gründe. Einerseits fehlt es mit zunehmenden Lockerungen der staatlichen Maßnahmen an Gründen, auf die Straße zu gehen. Andererseits hat sich der Protest ausdifferenziert. Vielen Menschen war es dann doch unangenehm, gemeinsam mit Neonazis, Hooligans und Verschwörungsgläubigen zu demonstrieren, die ihre kruden Ideologien offen vor sich her tragen. Vielerorts haben sich Proteste gespalten, einerseits in offen rechte, meist von der AfD dominierte, andererseits in diffuse, heterogene Gruppen. Auf dem Alten Messplatz fand am Pfingstsonntag fast zeitgleich eine Veranstaltung mit ähnlichem Thema statt, auf der keine bekannten rechten Aktivisten anzutreffen waren.

Sinkende Teilnehmerzahlen sind überall zu beobachten. In Mannheim gab es zudem Streit wegen Beschimpfungen gegen die Polizei, die bei vergangenen Veranstaltungen u.a. als „Marionetten“ einer „Merkel-Diktatur“ bezeichnet wurde. Einige der „Corona Rebellen“ fanden dies offenbar falsch und die lautesten Sprecher vergangener Veranstaltungen waren am Pfingstsonntag nicht mehr zu sehen.

Wie es weitergeht, wird vom Verlauf der Pandemie abhängen. Viele Wissenschaftler*innen sehen die Gefahr einer zweiten Welle mit Beginn der kalten Jahreszeit kommen. Wenn sich die Menschen wieder vermehrt in geschlossenen Räumen aufhalten, steigt das Ansteckungsrisiko. Ob ein zweiter Lockdown notwendig sein wird und ob die rechte Protestbewegung davon profitieren kann, darf zur Zeit nur spekuliert werden. Die rechten Aktivist*innen werden sich ohnehin neue Themen suchen. Nach den Flüchtlingen, dem Islam und dem Klimawandel war Corona nur ein weiterer Vorwand, gegen liberale Demokratie und offene Gesellschaft zu hetzen.

Für die nächsten Wochen hat Patrick Schlegel dennoch weitere Aktionen der Initiative „Querdenken“ angekündigt.

(am)

 

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„Bleiberecht für alle!“ Kundgebung am Marktplatz solidarisierte sich mit Geflüchteten

Die gegenwärtige Politik Geflüchteten gegenüber ist gekennzeichnet von immer mehr Schikanen und unerträglicher rassistischer Hetze in einem Teil der Medien und der Parteien, die sich als wählbar für die Mitte der Gesellschaft begreifen. Hinzu kommt eine beispiellose Diffamierung und Kriminalisierung der Helfer, die das tun, was internationales See-Recht vorschreibt, nämlich Menschen vor dem Ertrinken zu retten und sie in einen sicheren Hafen zu bringen. Daher ist es wichtig, dass sich jetzt die Menschen zeigen, die gegen die rassistische Hetze und ständigen Diffamierungen protestieren und Geflüchteten zeigen wollen, dass es auch hier Menschen gibt, die mit ihnen solidarisch sind und ihnen das Recht zugestehen, sich bei der Suche nach einem besseren Leben auch in Deutschland niederlassen zu wollen.

Der Anfang des Protestes in Mannheim war eine Kundgebung am 13.07.2018 auf dem Marktplatz. Gekommen waren ca 30 Menschen und es bleibt zu hoffen, dass es bei den nächsten Aktionen mehr werden. Es gab verschiedene Redebeiträge, die unterschiedliche Themen hatten, aber mit den gleichen Forderungen endeten:

  • Stoppt die Hetze und die rassistische Politik gegen Geflüchtete
  • Stoppt die Kriminalisierung von Menschen, die sich mit Geflüchteten solidarisch zeigen und z. B. die retten, die in Seenot geraten sind
  • Stoppt das Sterben im Mittelmeer, statt Verhinderung der Seenotrettung Ausbau der Seenotrettung und die Einfahrt in den nächsten europäischen Hafen. Die Diskussion „Seerettung ja oder nein“ ist der Anfang von Barbarei
  • Keine weiteren Lager – weder offene noch geschlossene – und Auflösung der bisherigen Lager
  • Schutz von Menschen anstatt von Grenzen
  • Keine Zurückweisung von Menschen an den nationalen und europäischen Außengrenzen
  • Keine Extrahierung des Flüchtlingsschutzes durch Aufnahmelager außerhalb der EU. Auf diesem Weg entziehen sich Deutschland und Europa der Verantwortung, der Flüchtlingsschutz wird endgültig abgeschafft und Flüchtlinge dem sicheren Tod ausgesetzt.
  • Eine solidarische Aufnahme von Schutzsuchenden in der EU statt weitere Abschottung; Die „Dublin-Verfahren“ müssen abgeschafft werden. „Dublin“ bedeutet Benachteiligung der europäischen Mittelmeer Anrainerländer und Abschiebung von Schutzsuchenden in die EU-Länder, die keinen Schutz bieten (z.B. Ungarn oder Bulgarien, um nur die schlimmsten zu nennen).
  • Keine Zusammenarbeit mit Diktatoren
  • Gleiche Rechte für alle – keine Sondergesetze für Geflüchtete
  • Stoppt den Waffenhandel! Deutschland führt beim Export von Kleinwaffen und steht bei den anderen Waffensystemen an 3. Stelle. Statt zunehmende Militarisierung und Erhöhung der Verteidigungsausgaben Ausbau der Möglichkeiten ziviler Konfliktlösungen Daher lehnen wir auch die Erhöhung der Ausgaben für die Nato auf 2 % ab.
  • Bekämpft die Fluchtursachen und nicht die Geflüchteten. Die reichen Länder sorgen mit ihrer ausbeuterischen Politik dafür, dass Flucht entsteht.
  • Stoppt Abschiebungen und Abschiebehaft – Bleiberecht für alle!

(mr / Bündnis gegen Abschiebungen)