Propalästinensisch = antizionistisch = antisemitisch? Studie der Uni Mannheim liefert interessante Erkenntnisse

Eine der zahlreichen pro-palästinensischen Demos in Mannheim. Die Studie geht der Frage nach, ob eine pro-palästinensische Haltung mit traditionellem Antisemitismus einhergeht | Bild: KIM Archivbild 2023

Schaut man sich die Berichterstattung zahlreicher Medien der letzten Monate an, lautet eine gängige These: Die propalästinensischen Proteste haben zu einem Erstarken des Antisemitismus in Deutschland geführt. Gerade erst erschien im Mannheimer Morgen ein großer Artikel über propalästinensische Demos aus Sicht einer proisraelischen Gegendemonstrantin. Die Vorwürfe sind massiv: Judenhass, Antisemitismus und Todesdrohungen. Auf ihren Schildern wirft sie den propalästinensischen Demonstrant*innen vor, ihre Vernichtung zu fordern.

Noch schärfer wird die Berichterstattung, wenn Greta Thunberg an propalästinensischen Demos teilnimmt. „Selfie mit Judenhassern“ schreibt die Bildzeitung neben ein Foto der Klimaaktivistin. Die CDU greift das auf und fordert in der Bildzeitung ein „Einreiseverbot“ gegen die „Antisemitin“.

Zunahme antisemitischer Vorfälle

Objektiv gesehen gibt es eine starke Zunahme behördlich registrierter antisemitischer Vorfälle. Allerdings gibt es auch eine größere Sensibilisierung der Behörden und mehr Betroffene melden die ihnen bekannt gewordenen Vorfälle. Das ist grundsätzlich gut. Ob insgesamt von mehr Antisemitismus in der Gesellschaft gesprochen werden kann und ob gar die propalästinensischen Proteste, teils unterstützt aus dem akademischen linken Lager, dafür verantwortlich sind, sollte aber genauer untersucht werden.

Eine Studie mit dem Titel „Pro-Palästina Proteste, Antizionismus und Antisemitismus in Deutschland“ der Professoren Marc Helbling und Richard Traunmüller an der Uni Mannheim hat sich mit dieser Frage beschäftigt.

Was ist Antisemitismus?

In der oben erwähnten medialen Berichterstattung wird oft alles in einen Topf geworfen. Antisemitismus, Antizionismus, Israel-Feindlichkeit, Israel-Kritik, Judenhass, Palästina-Solidarität. Für eine genauere Betrachtung der verschiedenen Phänomene haben die Verfasser der Studie zwei „Antisemitismus-Skalen“ verwendet und unterscheiden dabei in „traditionellen Antisemitismus“ und „antizionistischen Antisemitismus“. „Während sich der traditionelle Antisemitismus direkt auf Juden als soziale Gruppe bezieht, fokussiert antizionistischer Antisemitismus auf den Staat Israel und macht Juden kollektiv für dessen Politik verantwortlich“ erklären die Autoren ihre Differenzierung.

Propalästina-Haltung und traditioneller Antisemitismus korrelieren nicht miteinander

Die Studie liefert einige interessante Erkenntnisse. Traditioneller Antisemitismus lässt sich demnach weiterhin in der Gesellschaft deutlich nachweisen. 13 Prozent der Befragten stimmten etwa der Aussage zu, dass Juden zu viel Einfluss in der Welt hätten. 18 Prozent vertreten die Ansicht, dass Juden nur über den Holocaust sprechen, um ihre politische Agenda voranzutreiben.

Die Studie untersucht im zweiten Teil, ob im jungen, linken, akademischen Milieu Antisemitismus besonders weit verbreitet ist. Das Ergebnis: Es ist die am wenigsten antisemitisch eingestellte Gruppe in der deutschen Bevölkerung. Gleichzeitig ist es die Gruppe, mit der am stärksten ausgeprägten propalästinensischen Haltung.

„Tatsächlich ist der traditionelle Antisemitismus sowohl in älteren Alterskohorten als im rechten politischen Spektrum deutlich verbreiteter“, stellen die Autoren fest.

Bei antizionistischem, also Israel-bezogenen Antisemitismus sieht es hingegen anders aus. Hier gibt es nur geringe Unterschiede bei Alter, politischer Orientierung und Bildungsabschluss. „Insgesamt bestehen damit hinsichtlich des Antizionismus nur vernachlässigbare Unterschiede.“

Unterstützung für die israelische oder palästinensische Sache?

Ergebnis der Studie war außerdem, dass 82 Prozent der Befragten der Meinung sind, Israel habe das Recht, als Heimatland für das jüdische Volk zu existieren. Gleichzeitig vertreten 85 Prozent die Meinung, die Palästinenser haben das Recht auf einen eigenen Staat. Daraus lässt sich interpretieren, dass insgesamt eine große Mehrheit der Bevölkerung hinter einer Zwei-Staaten-Lösung stehen würde.

Einen bedeutsamen Unterschied gibt es allerdings in der Gruppe der unter 35-jährigen. Während bei links orientierten jungen Menschen eine propalästinensische Haltung weit verbreitet ist, ist sie bei rechts orientierten deutlich geringer ausgeprägt.

Ergebnisse der Studien-Autoren

Helbling und Traunmüller kommen in einer Zusammenfassung ihrer Ergebnisse zu folgenden Schlüssen:

  • Der an das junge, linke und akademische Milieu gerichtete Antisemitismusvorwurf ist vorschnell – tatsächlich handelt es ich um die am wenigsten antisemitisch eingestellte Gruppe in Deutschland.
  • Was junge, linksorientierte Menschen mit Hochschulabschluss tatsächlich auszeichnet, ist eine ausgeprägte pro-palästinensische Haltung.
  • Pro-palästinensische Einstellungen hängen kaum oder nur in geringem Maße mit traditionellem Antisemitismus zusammen.
  • Der richtige Umgang mit israelkritischen Positionen auf Demonstration, an Universitäten und in den sozialen Medien spaltet die deutsche Bevölkerung.

Welche Erkenntnisse sind nun daraus zu ziehen?

Zumindest den Vorwürfen aus rechten und konservativen Kreisen, ein linker Antisemitismus mache sich in Deutschland breit, setzt die Studie argumentativ etwas entgegen. Traditioneller Antisemitismus, die „klassische“ Judenfeindlichkeit, ist weiterhin – welch Überraschung – in rechten Kreisen am weitesten verbreitet. In der propalästinensischen Solidaritätsbewegung gibt es diese Form vergleichsweise wenig. Israel-bezogener Antizionismus ist dagegen in allen gesellschaftlichen Gruppen in ähnlicher Ausprägung vorhanden.

Eine sozialwissenschaftliche Studie ist jedoch ein theoretisches Gebilde und noch lange keine Erklärung für das, was auf den Mannheimer Straßen passiert. Man sollte nicht den Fehler machen, propalästinensische Demos als gleichförmiges ideologisches Gebilde zu betrachten.

Auch wenn viele Menschen einfach nur wollen, dass der Krieg endet und alle Menschen – Palästinenser und Israelis – in Frieden leben können, gibt es dennoch antisemitische Hetzer, die Israel und seine Bewohner*innen auslöschen wollen. Die Eingangs erwähnte proisraelische Gegendemonstrantin hat dafür zahlreiche Beispiele gesammelt und veröffentlicht.

Zur Betrachtung der hiesigen propalästinensischen Bewegung muss auch ergänzt werden, dass in Mannheim vergleichsweise wenig Unterstützung aus dem jungen, akademischen und linken Milieu kommt. Hier laufen eher einige Altlinke auf den Demos von Free Palestine und Zaytouna mit. In anderen Unistädten sieht das anders aus.

Wie groß der Einfluss radikaler Antisemiten und religiöser Fanatiker in Mannheim ist und wie viele Anhänger*innen sie auf den Demos haben, ist sicherlich schwer von außen zu beurteilen. Eine Greta Thunberg auf eine Ebene mit einem Hamas-Anführer zu stellen, dürfte der differenzierten Betrachtung aber sicher nicht förderlich sein. (cki)


Die Studie kann unter folgendem Link heruntergeladen werden: https://www.uni-mannheim.de/media/Einrichtungen/gip/Bilder/Dokumente/GIP_Wie_tickt_Deutschland_2_Antisemitismus.pdf

 




Veranstaltung mit Nahostexpertin Baumgarten auf dem Marktplatz Mannheim

Veranstaltung zu Israel/Palästina trotz Raumabsage durchgeführt

„In diesem Land zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan-Fluss müssen alle Menschen in Freiheit, in Gleichheit und denselben Rechten leben können. Nur so ist eine Lösung möglich“.

Zelt im Inneren alle Plätze besetzt

Am 30. September wollte die Nahost-Gruppe Mannheim eine Veranstaltung in den Räumen in der St. Sebastian Kirche am Markplatz Mannheim durchführen. Vortragsrednerin war Frau Prof. Helga Baumgarten mit dem Thema „Vertreibung der Palästinenser ohne Ende- gibt es Hoffnung für die Zukunft?“

Dem Veranstalter, der Nahost-Gruppe Mannheim, wurden wohl nach Intervention seitens einer oder mehrerer Personen aus dem Umfeld der Jüdischen Gemeinde Mannheim die Veranstaltungsräume gekündigt.

Damit die Veranstaltung trotzdem stattfinden konnte, mietete der Veranstalter kurzfristig ein Zelt und stellte es auf dem Marktplatz auf. Das Zelt war mit etwa 100 Leuten prall gefüllt. Außerhalb des Zeltes verfolgten weitere 30 Leute die Veranstaltung. Sie besorgten sich Stühle von den umliegenden Cafés. Die Seitenwand des Zeltes wurde geöffnet, so dass auch sie die Veranstaltung verfolgen konnten.

Dem Vortrag der Nahost-Expertin, der mit vielen Informationen gespickt war, schloss sich eine interessante Diskussion an.

Gerade zurzeit ist es sehr schwierig, einen kontroversen Diskurs mit der Thematik Israel/Palästina zu führen. Trotzdem wäre genau dieses sehr bedeutsam. Statt Weghören ist Zuhören oft besser, auch wenn es die andere Seite ist. Ein gegenseitiges Verhindern oder Canceln von Veranstaltungen oder ähnliches ist in diesem Sinne absolut kontraproduktiv.

Etliche Zuhörer gab es auch außerhalb des Zeltes auf dem Markplatz

Im Folgenden veröffentlichen wir ein Interview, das das Kommunalinfo vor Beginn der Veranstaltung mit Helga Baumgarten geführt hat. Man kann und muss nicht mit allen einverstanden sein, was Frau Baumgarten äußert. Der Vorwurf des Antisemitismus, der Kritikern der Politik des Staates Israel immer wieder gemacht wird, wird allerdings durch das Interview in keiner Weise belegt.

Roland Schuster


Interview mit Frau Prof. Helga Baumgarten

Kommunalinfo: Was sagen Sie zur ursprünglichen Absage der Veranstaltung?

Baumgarten: Ich betrachte es einfach als unsäglich, dass man in Deutschland nicht Solidarität üben darf mit Menschen, die seit Oktober einem regelrechten Völkermord ausgesetzt sind. UN-Mitarbeiter nennen inzwischen den GAZA-Streifen den größten Kinderfriedhof, den es weltweit gibt. Was im Gaza-Streifen passiert, immer noch passiert, wird von vielen UN-Spezialisten als ein grausiges Morden und Abschlachten bezeichnet. Von dem sie sagen, dass sie in ihrer ganzen Karriere so etwas nicht erlebt haben. Es muss erlaubt sein, diese Umstände zu schildern. Mit Antisemitismus hat das absolut nichts zu tun.

Kommunalinfo: Gibt es ähnliche oder andere Erfahrungen in anderen Städten?

Helga Baumgarten ist eine deutsche  Politikwissen-schaftlerin, die schwer-punktmäßig zu Palästina, zum Nahostkonflikt und zu politischen Transformationen in der arabischen Region arbeitet. Sie ist Autorin mehrerer Standardwerke zum Nahostkonflikt. Von 1993 bis zu ihrem Ruhestand im Jahr 2019 lehrte sie als Professorin an der Universität Bir Zait nördlich von Jerusalem im Westjordanland.

Baumgarten: Speziell in Deutschland und Österreich, also generell im deutsch-sprachigen Raum, hat man offensichtlich Probleme damit, wenn Leute sich zu Palästina äußern. Ich habe bei meiner Vortagsreise immer wieder erlebt, dass man Schwierigkeiten hatte, Räume zu finden, man hat sie aber immer wieder gefunden. Der einzige Ort in meiner langen Vortragskarriere, in dem man in ein Zelt ausweichen musste, ist tatsächlich Mannheim. Sonst hat doch immer noch einen Ersatzraum gefunden.

Kommunalinfo: Kritik an der Politik der israelischen Regierung wird in Deutschland allzu schnell als antisemitisch gewertet. Kann man es so auf den Punkt bringen?

Baumgarten: Das ist absolut Unsinn. Jede Regierung in der Welt muss, nicht nur darf, nein muss kritisiert werden, und das israelische Regime, die israelische Regierung unter Netanjahu ist eine so menschenverachtende Regierung, die inzwischen Minister hat, die selbst in der israelischen Presse nicht nur als Rassisten sondern als Faschisten bezeichnet werden. Wie soll ich als Wissenschaftler dieses Regime bezeichnen? Ich setze mich mit einem Regime auseinander. Ich setze mich nicht mit Juden auseinander. Und wir sollten nicht vergessen, und das vergisst man in Deutschland oft, wir haben ganz viele jüdische Stimmen, wir haben in den USA Jewish Voice for Peace als jüdische Stimme für Frieden, wir haben in Deutschland die Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost, die alle voll und ganz auf der Seite der Palästinenser stehen. Und natürlich Netanjahu und sein Regime kritisieren.

Kommunalinfo: Über die Palästinenser wird in Deutschland vom politischen Mainstream ziemlich pauschal gesagt, dass sie sich nicht von politischer Gewalt lossagen, dass sie speziell den Hamas-Überfall vor einem Jahr auf israelische Zivilisten nicht oder nicht ausreichend verurteilen. Was sagen Sie hierzu?

Baumgarten: Es gibt hier verschiedene Dinge. Die Palästinenser, speziell die Palästinenser im Gaza-Streifen, leben mindestens seit 1967 unter einem brutalen Besatzungsregime, sind dort permanent der massivsten Gewalt ausgesetzt. In jedem Krieg, ganz speziell jetzt seit 2006 gibt es immer wieder Tausende von Toten. Die in der Geschichte normale Reaktion auf Besatzungen, auf Unterdrückung, auf Gewalt ist Gegengewalt. Und die Palästinenser unterstützen die Hamas, weil sie sagen, die Hamas leistet Widerstand gegen dieses wahnsinnige Regime in Israel. Und was Israel seitdem im Gazastreifen macht, hat wenig mit der Hams zu tun. Das ist ein Krieg gegen die gesamte Gesellschaft. Inzwischen haben wir reihenweise israelische Minister und Politiker, die sinngemäß sagen, „jeder Palästinenser ist potenziell ein Terrorist, am Besten bringen wir alle um, und fangen an mit den Babys, denn auch aus den Babys werden Terroristen“. Das ist der Kontext, den man in Deutschland geflissentlich übersieht.

Kommunalinfo: Von der israelischen Seite wird solches (Verurteilung der politischen Gewalt, Vermeidung ziviler Opfer) gleichermaßen wohl nicht verlangt, ja sogar von der Selbstverteidigung Israels gesprochen. Haben wir es hier mit einer Politik unterschiedlicher Standards zu tun?

Baumgarten: Ja, ganz eindeutig. Kein Mensch kommt auf die Idee, dass eine Gesellschaft, die seit 1967 unter einer brutalen Besatzung leidet, kein Recht auf Selbstverteidigung hat. Aber der stärkste Staat in der Region, eine Atommacht, dem steht man immer nur das Recht auf Selbstverteidigung zu. Laut internationalem Recht ist Israel eigentlich, da es nach wie vor den GAZA-Streifen und die Westbank besetzt hält, dazu verpflichtet, die Menschen dort zu schützen und zu versorgen. Nicht gegen sie zu verteidigen. Das ist absurd.

Kommunalinfo: Was ist das strategische Ziel Israels mit der Regierung Netanjahu an der Spitze in seinem Vorgehen in Gaza, im Westjordanland und im Libanon?

Baumgarten: Krieg, Krieg, Krieg und nochmal Krieg. Netanjahu will Israel in eine absolut hegemoniale Position versetzen, in der es niemanden mehr gibt, der es auch nur wagt, den Mund aufzumachen gegen Israel. Wenn er den GAZA-Streifen zerstört hat, den Libanon zerstört hat, die Hamas zerschlagen hat, die Hisbollah zerschlagen hat, will er die USA in einen Krieg gegen den Iran hineinziehen. Das ist sein Hauptziel.

Kommunalinfo: Vor der Gefahr eines Flächenbrandes, eines ganz großen Kriegs wird immer wieder gewarnt. Wohl zu Recht?

Baumgarten: Absolut zu Recht. Wir stehen momentan an einem Wendepunkt, wenn die Regierung Biden nicht endlich mal Tacheles redet mit den Israelis und Netanjahu, dann sieht es in der Tat ganz schlimm aus. Und dann ist dieser Flächenbrand im Bereich des Möglichen. Wir haben alle Angst. Alle warnen davor. Netanjahu ist jedoch nicht mehr zu zügeln.

Kommunalinfo: Sie sind Kennerin und Expertin der Nahostproblematik. Was müssten die ersten Schritte sein, um die Gewalt im Nahen Osten zu beenden?

Helga Baumgarten zu Beginn der Veranstaltung

Baumgarten: Nun das erste und wichtigste wäre sicherlich, dass der Westen allen voran die USA aber auch Europa und hier auch Deutschland klare Signale an Israel senden, so geht das nicht weiter. Man kann nie Frieden schaffen, indem man andere Völker unterdrückt und sie ständig mit Kriegen überzieht. Und ich denke, da sind durchaus auch Sanktionen gegen Israel notwendig, und auf der Basis kann man dann Israel zwingen, dass auch Israel bereit ist, in Verhandlungen einzutreten. Die Hamas war für Verhandlungen zur Freilassung der Geiseln und für eine schnelle Kriegsbeendigung bereit, und man hat es abgelehnt.  Hizbullah war auch bereit, und man hat es abgelehnt.

Kommunalinfo: Um die furchtbare Gewalt im Nahen Osten zu beenden, muss irgendwann ein politischer Dialogprozess in Gang kommen. Sehen Sie im jeweiligen Lager der Israelis und der Palästinenser Ansätze einer Bereitschaft hierfür? Ist sowas überhaupt denkbar angesichts der gegenwärtigen Gewaltspirale?

Baumgarten: Momentan sieht es natürlich sehr schlecht aus. Aber im Prinzip ist es so, dass die Palästinenser seit vielen Jahren bereit sind zum Dialog. Der wird aber von Israel systematisch abgeblockt. Netanjahu ist nicht bereit mit irgendeiner palästinensischen Richtung, sei es mit der Regierung in Rammallah unter Mahmut Abbas, noch mit der Hamas im Gaza-Streifen zu verhandeln. Und er war auch die ganze Zeit nicht bereit, über die Freilassung der Geiseln zu verhandeln. Obwohl man ihm, auch in der israelischen Presse gesagt hat: Ja es gibt die Möglichkeit. Seit der letzten Woche gab es ein unterschriebenes Dokument der Hamas: Wir sind bereit zum Geisel-Austausch im Gegenzug mit einem Abzug der israelischen Armee. Netanjahu fegt es vom Tisch. Alle Versuche, auch aus den USA, zum Verhandlungsprozess zu kommen, hat Netanjahu immer wieder abgelehnt.

Kommunalinfo: Auf der Grundlage einer politischen Position, die eigentlich selbstverständlich sein sollte und auch vom Völkerrecht gedeckt ist, „Gleiche Menschenrechte für alle Menschen“, in diesem Fall für Israelis und Palästinenser, sollte m.E. von Außen auf die Konfliktparteien eingewirkt werden. Was ist ihre Position hierzu?

Baumgarten: Ich hoffe natürlich, wir hoffen auf Veranstaltungen und auf die ständigen Demonstrationen weltweit, in denen Druck ausgeübt wird, dass endlich in Israel eine Situation geschaffen wird, in der die Palästinenser nicht mehr Menschen zweiter Klasse sind oder überhaupt als Menschen wahrgenommen werden. In diesem Land zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan-Fluss müssen alle Menschen in Freiheit, in Gleichheit und denselben Rechten leben können. Nur so ist eine Lösung möglich.

Kommunalinfo: Vielen Dank für das Interview.

Das Interview führte Roland Schuster.




Mannheim: “Free Palestine” Demonstration gegen den Krieg in Gaza – aber wofür eigentlich? [mit Bildergalerie und Video]

In Mannheim haben am Samstagnachmittag zahlreiche Menschen gegen den Krieg im palästinensischen Gaza-Küstenstreifen demonstriert. Die Gruppe “Free Palestine Mannheim” hatte dazu aufgerufen. Die Demonstration zog lautstark vom Alten Messplatz in die Innenstadt und endete auf dem Marktplatz.

Vorgeschichte

Seit etwas mehr als vier Wochen tobt nun in Gaza der Krieg. Die erneute Eskalation begann mit einem Terrorangriff der in Gaza regierenden Hamas auf Israel, bei dem nach israelischen Angaben 1400 Menschen starben, die meisten davon Zivilist*innen. Mehr als 200 Menschen wurden als Geiseln nach Gaza verschleppt. Die israelische Armee begann daraufhin mit massiven Bombardierungen, es folgte eine militärische Bodeninvasion. Laut palästinensischen Behörden hat der Krieg bereits mehr als zehntausend Palästinenser*innen das Leben gekostet, die meisten im dicht besiedelten Küstengebiet sind Zivilist*innen, darunter viele Kinder. Hamas hat ihre militärischen Anlagen mitten in den Wohngebieten. Die Menschen sind in Gaza eingeschlossen und können nicht fliehen.

In Mannheim gab es seit Beginn des Krieges mehrere Kundgebungen: proisraelische, die den Terror der Hamas verurteilten und die Freilassung der Geiseln forderten und propalästinensische, die gegen die militärischen Angriffe auf Gaza und die Unterstützung durch Deutschland protestierten. Auch das Friedensbündnis hatte eine Kundgebung veranstaltet und beide Seiten aufgerufen, die Gewalt zu beenden.

Zunächst wurden propalästinensische Kundgebungen durch die Versammlungsbehörde verboten, dann unter strengen Auflagen genehmigt. Die Veranstaltung am 11. November war nun die erste große Demonstration nach mehreren stationären Versammlungen.

Eindrücke von der Demonstration im Video | Link zu Youtube: https://youtu.be/WI3xkqURl98

Demonstrationsrecht unter polizeilicher Beobachtung

Auf dem Alten Messplatz sprach dann auch zu Beginn ein Anwalt zum Thema Verbote und Repression gegen die propalästinensische Bewegung. Zunächst führte er Deutschland wegen seiner Israelsolidarität als Staatsräson anhand des eigenen Umgangs mit ehemaligen Nazi-Verbrechern vor “Das ist die deutsche Erinnerungskultur und nichts anderes”. Als Beispiel nannte er den Heidelberger OB Neinhaus, NSDAP Mitglied, später CDU und dann mit Großkreuz des Verdienstordens und Ehrengrab geehrt. In Richtung Polizei las er aus dem Grundgesetz vor und kommentierte “da steht nirgendwo, dass das für Palästinenser nicht gilt.”

Gegen 16:30 Uhr setzte sich der Demonstrationszug in Bewegung. Die Polizei begleitete die Veranstaltung mit viel Personal, hielt aber Abstand und schloss den Demonstrationszug nicht komplett ein.

Der Veranstalter hatte den Teilnehmer*innen zur Auflage gemacht, ausschließlich Palästina-Fahnen mitzuführen. Fahnen anderer Nationen oder Organisationen waren verboten. Auf mitgeführten Schildern, viele in englischer Sprache, war beispielsweise zu lesen “Killing children is not self defense”, “End the genocide” oder “The rockets may be above us, but they have forgotten, ALLAH ist above them”.

Vom vorausfahrenden Fahrzeug wurden während des gesamten Demonstrationszugs Parolen vorgegeben, die von der Menge nachgerufen wurden. “Free Palestine”, “In Gaza gehen Kinder drauf”, “Netanjahu treib dich fort”, “Deutsche Medien lügen” und viele weitere.

Wassermelonen und Holocaust

Der gesamte optische und akustische Ausdruck der Versammlung bezog sich konkret auf die Ereignisse in Gaza. Religiöse Zeichen und Symbole anderer Nationen und Organisationen waren weniger zu sehen, als bei vorherigen Veranstaltungen.

Auf mehreren Schildern war eine Wassermelone abgebildet, ein Symbol des Widerstands, das sich in Israel etablierte, als die israelische Regierung das Zeigen der palästinensischen Fahne verboten hatte (1967 bis in die 90er Jahre und wieder seit Januar 2023). Die Wassermelone hat die selben Farben: Grün, Weiß, Schwarz und Rot.

Die Demonstration zog vom Marktplatz zum Paradeplatz, über die Kunststraße, zurück über die Planken und wieder zum Marktplatz. Dort fand eine Abschlusskundgebung statt. Die meisten Redebeiträge schlugen nationalistische Töne an. Auch wenn man es selbst nicht mehr erleben werde, so eine Rednerin in englisch, so könne man die Idee eines freien Palästinas nicht töten und irgendwann würden es unsere Kinder einmal erleben. Ein anderer Redner prophezeite “Wir werden das Buch der Geschichte schreiben.” Die deutschen Politiker “ohne Charakter” seien schon bald vergessen.

Der Veranstalter sagte bei der Abschlusskundgebung, es hätten sich 5000 Menschen beteiligt. Ein Polizeisprecher sprach gegen Ende von 2000 Personen. Größere Polizeieinsätze gab es nicht. Eine Frau, die ein Schild mit der Aufschrift “Stop Holokaust in Gaza” (sic) dabei hatte, durfte dieses nicht mitführen. Am Rande der Demo konnten zwei kleinere Störungen Einzelner beobachtet werden, vermutlich aus der rechten Ecke.

Gegen den Krieg – aber wofür eigentlich?

Alle inhaltlichen Beiträge kritisierten die israelische Regierung, die deutsche und US-amerikanische Unterstützung für Israel oder die deutschen Medien, die Lügen verbreiten würden. Kritik an den Gewalttaten der Hamas wurde von niemandem am Mikrofon geäußert. Die ca. 200 israelischen Geiseln, die immer noch von der Hamas gefangen gehalten werden, erwähnte keiner.

Überhaupt gab es keinerlei Auseinandersetzung mit der politischen Situation innerhalb der palästinensischen Autonomieregionen oder der internationalen Unterstützung des Konflikts, zum Beispiel durch Hisbollah, Türkei oder Iran. Die Nicht-Thematisierung solcher zentraler politischer Fragen dürfte unter anderem der Repression in Deutschland geschuldet sein.

Seit kurzem sind die Organisationen Hamas und Samidoun verboten. Wer sich positiv darauf bezieht, kann sich wegen Unterstützung strafbar machen. Auch die zahlreichen Auflagen der Versammlungsbehörde führten zu einer faktischen Selbstzensur der Veranstalter*innen. Einerseits bleiben so der Öffentlichkeit antisemitische Exzesse erspart, andererseits wird es schwieriger, die propalästinensische Bewegung politisch einzuschätzen.

Krieg verwischt die Unterschiede

Die Nicht-Thematisierung der innenpolitischen Situation in Palästina lässt verschiedene Deutungsweisen offen. Entweder stehen alle Teilnehmer*innen geschlossen und unkritisch hinter der Hamas – das scheint eher unwahrscheinlich. Kritische Redebeiträge oder auch Botschaften auf Schildern gegen die Hamas wären aber rechtlich unproblematisch gewesen.

Die Mitglieder der palästinensischen Community könnten auch einen langen Arm der Hamas, der bis nach Deutschland reicht, fürchten, so dass sich niemand traut, gegen die konservativ-islamische Diktatur in Gaza den Mund aufzumachen.

Wahrscheinlicher ist aber die Bemühung um ein Bild der Geschlossenheit. In Kriegszeiten wird der Nationalismus allmächtig und politische Unterschiede geraten in den Hintergrund. Nicht nur bei den Palästinenser*innen ist das so, auch in Israel muss dies beobachtet werden. Noch vor zwei Monaten gab es massive Proteste gegen die Regierung Netanjahu. Mit dem Krieg sind diese verstummt und die Opposition hat sich mit den rechts-religiösen zur Einheitsregierung als Kriegsregierung zusammen geschlossen.

Der “Zwei-Staaten-Kompromiss” scheint in weiter Ferne

Die Forderung nach einer Zwei-Staaten-Lösung spielte auf der Demo praktisch keine Rolle, obwohl sie seit vielen Jahren von internationalen Vermittler*innen als Kompromisslösung angestrebt wird. Nur eine kleine Delegation der linken deutsch-türkischen Organisation DIDF verteilte entsprechende Flugblätter und trug ein Schild mit der Forderung “Zweistaatenlösung sofort”.

Die arabische und muslimische Identität dürfte bei den meisten weiterhin der kleinste gemeinsame Nenner innerhalb der Bewegung sein. Unterstützung aus der nicht arabisch geprägten Bevölkerung, auch aus der linken Szene, gab es nur vereinzelt.

Während bei vergangenen Veranstaltungen von “Free Palestine” die Religion klar im Vordergrund stand – am 28. Oktober wurde auf dem Marktplatz noch zwischen jedem Rebeitrag “Alahu Akbar” gerufen – tritt die Gruppe nun zurückhaltender, säkularer und weniger aggressiv auf. Damit wird sie potentiell anschlussfähiger.

Kurz vor Schluss kam ein junger Rapper auf die Bühne, der ein Stück für die Demo geschrieben hatte. Er sagte mit seinem Text, dass ihm neben den palästinensischen Opfern auch die israelischen Opfer leid tun. Es war der erste, der das auf dieser Bühne geschafft hatte. (cki)

 

Bildergalerie zur Demonstration „Free Palestine“ am 11. November 2023 in Mannheim




Pauschalverbote von Palästina-Kundgebungen – Sicherheitspolitische Notwendigkeit oder schwere Grundrechtseingriffe?

Kundgebung der Gruppe Free Palestine Mannheim | KIM-Archivbild 2021

In Mannheim, wie auch in vielen anderen deutschen Städten, werden zur Zeit pauschal fast alle Pro-Palästina-Solidaritätskundgebungen verboten. Grundsätzlich werden die Verbote mit Sicherheitsaspekten begründet. Zu erwartende, fiktive Straftaten, sowie Erfahrungen aus der Vergangenheit, dienen als Begründung dafür. In Berlin ist die Situation besonders angespannt. Von unterschiedlichen politischen Gruppierungen werden alle möglichen Arten von kleinen wie großen Mahnwachen, Kundgebungen und Demonstrationen angemeldet. Diese schlagen zunehmend auch in gewaltsame Auseinandersetzungen um, wie zuletzt in Berlin Mitte und Neukölln.

Versammlungen in Mannheim

Kundgebung der DIG nach den Terroranschlägen der Hamas | KIM-Archivbild

Trotz Verboten war bislang auch hier schon einiges los. Direkt nach den Terroranschlägen der Hamas organisierte die Deutsch-Israelische-Gesellschaft (DIG) eine Mahnwache in Solidarität mit den Menschen in Israel (KIM berichtete). Eine für vergangenen Samstag geplante Kundgebung der Gruppe Free Palestine Mannheim wurde von der zuständigen Versammlungsbehörde der Stadt Mannheim verboten. Die Veranstalterin legte Beschwerde ein, das Verbot wurde jedoch vom Verwaltungsgericht Karlsruhe bestätigt. Die Polizei überwachte die Einhaltung.

Nach dem Einschlag einer Rakete in einem Krankenhaus in Gaza, bei dem offenbar viele Menschen starben, versammelten sich am Dienstagabend spontan rund 100 Menschen zu einer Kundgebung am Marktplatz. Die Polizei beobachtete die Versammlung, schritt aber nicht ein.

Eine weitere nicht-angemeldete Versammlung am Mittwochabend in Heidelberg wurde dagegen von der Polizei aufgelöst.

Für Samstag ruft die Gruppe Free Palestine zu einer weiteren Kundgebung um 18 Uhr auf dem Marktplatz auf, Motto „Gemeinsam gegen Krieg, Gewalt, Besatzung und Unterdrückung“. Diese ist laut Veranstalter aktuell ebenfalls verboten, es wurde aber angekündigt, gegen das Verbot zu klagen – notfalls bis in höhere Instanzen.

Am Samstag ist außerdem eine weitere Mahnwache der Deutsch-Israelischen-Gesellschaft um 18 Uhr auf dem Paradeplatz geplant.

Wann kann eine Versammlung verboten werden?

Ein Redner vor Hamas Fahnen bei eine Free Palestine Kundgebung in Mannheim | KIM-Archivbild 2021

Grundsätzlich müssen Versammlungsverbote mit realen Tatsachen begründet werden. Oft nutzen die Behörden aber auch eine allgemeine Situationsbeschreibung, wie aktuell die internationalen Auswirkungen der Eskalation in Nahost. Ereignisse an anderen Orten, beispielsweise die Ausschreitungen in Berlin, können für die Begründung der Sicherheitslage hier vor Ort angeführt werden. Speziell in Mannheim gibt es aber eine Vorgeschichte.

Die zur Zeit aktivste Pro-Palästina-Gruppe Free Palestine Mannheim hatte im Mai 2021 eine Kundgebung auf dem Friedensplatz veranstaltet, die massiv ausgeartet war (KIM berichtete). Radikale Islamist*innen hatten die Veranstaltung übernommen und Hassreden gegen Israel skandiert. Ein wütender Mob verbrannte eine Israel Fahne. Daraufhin kam es zu Auseinandersetzungen mit der Polizei, zahlreichen Verletzten und Festnahmen.

Dieses Ereignis blieb an der Gruppe Free Palestine Mannheim haften. Zukünftige Veranstaltungen wurden verboten oder mit weitreichenden Auflagen versehen. Zuletzt wurde zum 75. Jahrestag der Staatsgründung Israels, von Palästinenser*innen als Nakba-Tag (Tag der Katastrophe) bezeichnet, im Mai diesen Jahres eine Demonstration durch die Mannheimer Innenstadt veranstaltet. Diese verlief unter strenger polizeilicher Aufsicht störungsfrei (KIM berichtete).

Rückblick im Video: 2021 eskalierte eine Kundgebung der Gruppe Free Palestine Mannheim: Hamas-Symbole, Hassreden radikaler Islamist*innen und brennende Israel-Fahnen. Video bei Youtube: https://www.youtube.com/watch?v=F0ApBVlxds8

Was ist strafbar?

Neben offensichtlich strafbaren Handlungen, wie Steine werfen und brennenden Barrikaden, gibt es bei den Veranstaltungen mit Nahost-Bezug einen großen inhaltlichen Graubereich. Die meisten pro-palästinensischen Veranstaltungen thematisieren – verständlicherweise – das große Leid der Zivilbevölkerung im Gaza-Küstenstreifen. Dem Staat Israel werden mal mehr, mal weniger sachlich, Kriegsverbrechen vorgeworfen. Soweit so legitim. Doch zur Hamas hört man in der Regel nichts, kein Wort zu den Massakern der in Gaza herrschenden Terrororganisation. Genau so macht es auch die Gruppe Free Palestine Mannheim mit ihren Veröffentlichungen bei Instagram.

Allerdings sind Anhänger*innen der Hamas auch in Deutschland präsent. Bei der oben genannten Kundgebung 2021 wurden zahlreiche Fahnen und Banner mit den Logos und Symbolen islamistischer Terrororganisationen, wie Hamas und IS, gezeigt.

Unter Jurist*innen wird die Frage diskutiert, ob eine pauschale, nicht näher definierte Solidaritätsbekundung mit dem „palästinensischen Widerstand“ im Kontext der aktuellen Ereignisse bereits eine Billigung von Straftaten, namentlich den Gewalttaten der Hamas, darstellen könnte.

Konkret wird es am Beispiel der international populären Parole „From the river to the sea, palestine will be free“. Hier erkennen Polizei und Staatsanwaltschaften einen Anfangsverdacht der Billigung von Straftaten (§140 StGB) oder auch der Volksverhetzung (§130 StGB) und es kam nach entsprechenden Rufen bereits zu Festnahmen und Ermittlungsverfahren. Ob die Parole so gemeint ist, dass das israelische Staatsgebiet „frei von Israelis“ sein soll oder man dort einfach nur „in Freiheit“ leben wolle, dürfte bei kommenden Gerichtsprozessen ausführlich diskutiert werden.

Auch Abseits juristischer Geplänkel ist das Schweigen zur Hamas das größte Problem der pro-palästinensischen Bewegung. Wer nur die israelischen Kriegsverbrechen anklagt, aber kein Wort zu den vielen Opfern des Hamas-Terrors verliert, macht sich unglaubwürdig – gerade dann, wenn man von Frieden und Gewaltfreiheit spricht. Warum wird die Hamas nicht deutlich und auf breiter Front abgelehnt, wo doch jedem klar sein müsste, wer die aktuelle Eskalation verursacht hat, die zu tausenden Toten auf allen Seiten geführt hat?

Wenn man der israelischen Regierung vorwirft, in den letzten Jahren zu wenig für Gerechtigkeit, Aussöhnung und einen neuen Friedensprozess getan zu haben, so muss man doch gleichzeitig erkennen, dass Hamas alles dafür tut, jeglichen noch zu kleinen Vorstoß in Richtung Frieden, mit brutalster Gewalt zu bekämpfen. (cki)




Eindrücke von der FreePalestine-Demo

Ein Erlebnisbericht von Gertrud Rettenmaier.

Als ich am 17.05 im Mannheimer Morgen den Bericht über die Kundgebung der Palästinenser am vergangenen Samstag am Friedensplatz gelesen habe, war ich sprachlos und habe überlegt, ob ich bei einer anderen Veranstaltung war. Hier meine Eindrücke: Ich bin ca. eine Viertelstunde nach Beginn der Kundgebung eingetroffen und durfte nicht mehr auf den Platz, weil nach den Pandemie-Vorgaben schon genügend Personen anwesend waren. Daher hielt ich mich auf der erhöhten Grasböschung am Rand auf, wie viele andere Teilnehmer*innen auch. Ich schätze die Zahl der Anwesenden auf ca. 1000, und erfuhr auch, dass einige aus der Region angereist waren. Ich sah nur eine einzige grüne Fahne mit arabischen Schriftzeichen, jedoch sehr viele Palästinafahnen und einzelne türkische Fahnen.

Weder die Plakate von Teilnehmer*innen, noch die Kundgebungsreden waren antisemitisch ausgerichtet. Es wurde ausdrücklich betont: Wir sind nicht gegen Juden, wir sind gegen Gewalt und die Besatzung und das Unrecht, das dem palästinensischen Volk angetan wird. Auch die Raketen der Hamas wurden verurteilt. Wahrgenommen habe ich, dass es einige Unruhe in der Nähe der Bühne gab. Es gab Ansagen, bitte die Reden nicht zu stören und die Pandemie-Abstandsregeln einzuhalten. Ich habe die Kundgebung verlassen, als es eine für mich sehr langweilige muslimische Predigt von der Bühne gab, die sehr anders war, als das vorher Gesprochene. Diese Rede schien ein anderes Konzept zu verfolgen als die Veranstalter*innen der Kundgebung zuvor. Möglicherweise gab es eine Gruppierung, die versuchte, die Veranstaltung für ihre Zwecke zu missbrauchen.

Ich habe die Kundgebung besucht, weil ich vorher persönlich in Kontakt mit einer in Gaza lebenden Familie war. Das Elternpaar und ihre kleinen Kinder sind in höchster Panik, weil ringsum Bomben auf Hochhäuser abgeworfen werden. Die Bomben treffen auch ganz normale Menschen, die überwiegend mit der Hamas nichts zu tun haben. Es gibt kein aufbereitetes Trinkwasser mehr, kaum Strom, die Straßen sind kaputt, Verletzte können nicht mehr versorgt werden, weil das Gesundheitssystem zusammenbricht. Mein Empfinden bei der Kundgebung war, dass viele Menschen zusammenkamen, die aus Palästina stammen und Verwandte dort haben, weil sie ihre Angst und ihr Entsetzen mitteilen wollen.

Was geschieht in Deutschland, wenn trotz der seit 54 Jahren andauernden völkerrechtswidrigen Besatzung einseitig Partei für Israel ergriffen wird, während die Situation der Palästinenser ausgeblendet wird und sie nur als Terroristen diffamiert werden?

Ich befürchte eine zunehmende Spaltung unserer Gesellschaft. Denn alle, die sich mit der Not der Palästinenser*innen befassen oder solidarisieren, werden nicht mehr glauben, dass Deutschland sich international für Menschenrechte einsetzt.

Gertrud Rettenmaier

 

Siehe auch

Brennende Israelfahnen und Pfefferspray: Eskalation bei FreePalestine-Demo in Mannheim [mit Video und Bildergalerie]




Brennende Israelfahnen und Pfefferspray: Eskalation bei FreePalestine-Demo in Mannheim [mit Video und Bildergalerie]

Kundgebung „FreePalestine“ auf dem Friedensplatz

Eine Demonstration in Solidarität mit Palästina hat am Samstag ein unfriedliches Ende gefunden. Nach einer Kundgebung auf dem Friedensplatz eskalierte die Lage. Es gab zahlreiche Verletzte und Festnahmen. Die Veranstalter*innen hatten mit wesentlich weniger Teilnehmer*innen gerechnet und auf einen friedlichen Verlauf gehofft. Auf der Veranstaltung prägten jedoch radikale Islamist*innen das Bild. Die Polizei beendete die Veranstaltung vorzeitig.

Hunderte kamen, 150 waren angemeldet

Mit dem Motto „FreePalestineMannheim“ wurde die Kundgebung auf dem Friedensplatz vor allem über Instagram beworben. Es sollte auf die „Unterdrückung des palästinensischen Volkes“ und den aktuellen militärischen Konflikt im Nahen Osten, ausgelöst durch Konflikte um Wohnraum im Jerusalemer Stadtteil Sheikh Jarrah, hingewiesen werden. Die Veranstalter*innen forderten einen Rückzug der israelischen Siedler*innen und ein friedliches Zusammenleben der verschiedenen Religionen. Doch die Forderungen nach Frieden waren später zwischen „Allahu Akbar“-Rufen nicht mehr zu hören.

Die Kundgebung war für 150 Personen angemeldet und schon auf dem Weg zum Friedensplatz war klar zu sehen, dass weit mehr Personen kommen werden. Die Polizei sperrte einzelne Bereiche ab, hielt Ankommende zunächst zurück und ließ sie später doch auf den Platz. Genauer gesagt, auf einen hinteren Teil des Parkplatzes in Höhe Carl-Benz-Stadion.

Video: Eskalation nach FreePalestine-Kundgebung in Mannheim | Linke zu Youtube: https://youtu.be/F0ApBVlxds8

Heterogenes Publikum, viele von außerhalb angereist

Auslöser der Proteste sind Wohnungsräumungen im Jerusalemer Stadtteil Sheikh Jarrah

Auf und um die Bühne herum waren vor allem junge Menschen zu sehen, die versuchten, die Menge unter Kontrolle zu halten. Einige der Organisator*innen waren auch bei den Black Lives Matter Protesten im letzten Jahr dabei. Es gab zahlreiche Aufrufe von der Bühne herab, friedlich zu bleiben, keine rassistischen und antisemitischen Reden zu halten und keine religiöse Propaganda zu machen. Doch genau das passierte.

Die Kundgebung kippte schnell in religiös-fanatische und antizionistische Hetze. Zwar gab es immer wieder von den Veranstalter*innen Hinweise, auf die „Kindermörder Israel“ Schilder zu verzichten. Kurz darauf skandierte jedoch ein Redner selbst von der Bühne lauthals „Kindermörder Israel“ – die Menge grölte mit.

Mit viel Mühe gelang es den Veranstalter*innen ihr Programm durchzuziehen. Der Inhalt der Reden drehte sich vor allem um die schwierige Situation der Palästinenser*innen in Israel und den Autonomieregionen. Es wurde sich um Einheit bemüht: „Wir danken allen, die heute hier sind und ihre Stimme gegen die Besatzungsmacht Israel erheben.“ sagte eine Rednerin. Dafür gab es Applaus.

Doch immer wieder wurden die – zum großen Teil von Frauen gehaltenen Reden – von „Allahu Akbar“- und anderen Zwischenrufen unterbrochen. Unbeteiligte kletterten auf die Bühne und versuchten, das Programm zu übernehmen. „Wir werden Allah noch preisen, habt Geduld“, sagte einer, der das Mikrofon ergattern konnte. Höhepunkt der Vereinnahmung war eine Art Vorbeter, der offenbar nicht zum geplanten Programm gehörte, aber doch auf die Bühne durfte. Er redete ohne Ende, immer wieder das gleiche: Der Koran sei das einzige Gesetz. Nur daran dürften sich Muslime halten. Das eigentliche Thema der Veranstaltung ging unter.


Ein Islamist auf der Bühne | Quelle: Antifa Report Pfalz auf Twitter

Zwischenzeitlich gab es teils handfeste Auseinandersetzungen unter den teilnehmenden Personen. Regierungstreue Syrer*innen lieferten sich verbale Gefechte mit Erdogan-treuen Türk*innen. Männer mit Hizbollah-Stirnbändern standen sunnitischen Islamist*innen gegenüber. Immer wieder gab es Schubsereien. Die Emotionen kochten hoch. Die Veranstalter*innen suchten Unterstützung bei der Polizei. Diese schritt ein und trennte verfeindete Gruppen auf dem Platz. „Die meisten sind von außerhalb angereist“, sagte später ein Polizeisprecher dem KIM.

Als Israelfahnen angezündet wurden, eskalierte die Veranstaltung

Veranstaltungsende mit Knüppel, Pfefferspray und Festnahmen

Nach Auflösung der Kundgebung zogen hunderte Richtung Innenstadt

Gegen 17:30 Uhr beendete die Polizei die Veranstaltung per Durchsage von der Bühne. Alle Menschen auf dem Platz sollten sich in kleinen Gruppen entfernen. Jede Folge- oder Ersatzveranstaltung sei ebenso untersagt. Doch statt einem friedlichen Ende eskalierte die Lage endgültig. Israelfahnen wurden ausgepackt, angezündet und ein Mob junger Männer trampelte wie wild geworden darauf herum. Die Polizei schritt sofort ein und beendete die Aktion mit Schlagstöcken. Es kam zu Gerangel, Festnahmen, Steinwürfen und die Polizei trieb die Menge mit Pfefferspray.

Dabei gab es einige Verletzte. Da die Polizei an verschiedenen Stellen den Platz absperrte, wussten viele Teilnehmer*innen nicht, wie sie das Veranstaltungsgelände verlassen sollten. Manche wurden von der einen Polizeikette zur nächsten getrieben und bekamen Prügel von allen Seiten. Nach und nach bewegte sich ein Großteil der Personen über die Theodor-Heuss-Anlage in Richtung Innenstadt. Es begann ein Katz-und-Maus-Spiel mit nicht genehmigten Demonstrationszügen. Die Polizei setzte an verschiedenen Stellen kleinere und größere Gruppen fest. In der Augustaanlage wurden mehr als 300 Personen festgehalten und erkennungsdienstlich behandelt. In der gesamten Innenstadt löste die Polizei kleinere Ansammlungen auf. Über der Stadt kreiste am Abend ein Hubschrauber. Auch vor der Synagoge in den F-Quadraten musste die Polizei Einsatzkräfte abstellen. (cki)

 

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