Demokratiefeier 75 Jahre Grundgesetz – für viele ist ein „Gesetz“ vielleicht zu trocken?

Am Samstag, dem 25. Mai fand das große Demokratiefest im Schlosshof Mannheim statt. „Wir feiern 75 Jahre Grundgesetz – unser Garant für Demokratie und Vielfalt!“ war das Motto. Das Fest war ein Kooperationsprojekt von AWO Metropolregion und Mannheim sagt JA e.V.

Peter Kurz bei seiner Ansprache. (Bild: KIM)

Leider war das Fest nicht von Tausenden, sondern „nur“ von Hunderten besucht. Warum diese Veranstaltung nach dem riesigen Zuspruch zu der Kundgebung und Demonstration „Nie wieder ist jetzt“ vom 27. Januar nur schwach besucht war – darüber lässt sich trefflich spekulieren. Sie überschnitt sich mit dem Mannheimer Stadtfest, aber dort hätte man lange davor schon und wieder danach ausgiebig feiern können, selbst wenn man zwischendurch zum Demokratiefest gekommen wäre, um Grundgesetz-Flagge zeigen zu können. Gleichzeitig fand auch die zentral organisierte Kundgebung des Bündnisses Sahra Wagenknecht auf dem Alten Messplatz statt, zu der mehrere Hundert kamen. Vielleicht war der Zuspruch auch geringer, weil es letztlich nur die zwei Veranstalter gab und es manchen Menschen dadurch vielleicht zu speziell erschien.

Die AWO hatte sich mächtig ins Zeug gelegt, von perfekter Veranstaltungstechnik bis zu zahlreichen Informationsständen, die die ganze Breite der AWO-Aktivitäten zeigten. AWO-Kreisvorsitzender Alexander Manz stellte klar: „Die AWO hat im Mannheimer Schlosshof mit einer Kundgebung für Demokratie und Vielfalt gezeigt, dass sie ein werteorientierter Verband mit Haltung ist.“ „75 Jahre Grundgesetz war und ist nicht nur ein Grund zum Feiern, es ist vielmehr auch – gerade in Zeiten, in denen der Populismus immer mehr um sich greift – Mahnung, dass wir unsere freiheitlich demokratische Grundordnung nicht als Selbstverständlichkeit erachten dürfen, sondern sie jeden Tag auf Neue erringen und verteidigen müssen. Wir machen weiter!“.

Hauptredner der Kundgebung am Nachmittag, der dann noch abends ein Kulturfest folgte, war Ex-OB Peter Kurz. Seine Rede dokumentieren wir nachfolgend in Auszügen.

Thomas Trüper

 

Ansprache von Dr. Peter Kurz

Liebe AWO-Freunde, liebe Freundinnen und Freunde des Grundgesetzes, der Demokratie, Europas und der Menschenrechte, liebe Anwesende,

Nie wieder…

ich bin gerne der Einladung gefolgt am heutigen Fest  zu sprechen, weil „Nie wieder!“ – wie für viele meiner Generation – die wesentliche Begründung und Motivation für mein politisches Engagement war. Und dieses „Nie wieder“ begründet unser Grundgesetz und begründet die Idee eines vereinten Europas. Die hier versammelt sind, wissen: Ohne Demokratie und Rechtsstaat ist der Willkür und damit der Rechtlosigkeit von potentiell jeder und jedem und der Entmenschlichung Tür und Tor geöffnet.

Die Väter und Mütter des Grundgesetzes hatten dies schrecklich erfahren. Sie wussten um die Gefahren. Primo Levi hat diese Gefahr in den fundamentalen Satz gefasst: „es ist geschehen, also kann es wieder geschehen.“

Was folgt daraus?

Intoleranz gegenüber Demokratiefeinden

Der Bundespräsident hat in seiner wichtigen Rede zur Feier des Grundgesetzes Carlo Schmid zitiert, der unsere Stadt 23 Jahre im Bundestag vertreten hat, und sicher als die prägendste Persönlichkeit für das Grundgesetz gesehen werden darf. Wehrhafte Demokratie bedeutete für ihn „Mut zur Intoleranz gegenüber denen zu zeigen, die die Demokratie gebrauchen wollen, um sie umzubringen.“ Diese Aufforderung wird erst jetzt, nach Jahrzehnten, aktuell.

Wir hatten unverhofftes Glück: Wir mussten die Wehrhaftigkeit der Demokratie Jahrzehnte lang nicht ernsthaft bemühen.

Doch das darf uns den Blick nicht darauf verstellen, dass Wehrhaftigkeit notwendig ist.

Gefahren für die Demokratie – AfD

Heute sind wir nicht nur damit konfrontiert, dass zu viele Menschen die Gefahren unterschätzen. Wir sind mit der schockierenden Tatsache konfrontiert wie ungehemmt Rassismus und Fremdenfeindlichkeit als Partybelustigung zur Schau gestellt wird. Wir sind damit konfrontiert, dass heute der Nationalsozialismus, der verantwortlich ist für das größte Menschheitsverbrechen, von Abgeordneten – Mandatsträgern in unserer Demokratie –  verharmlost oder sogar positiv in Bezug genommen wird. Das ist unerträglich.

Wer das versteht und sich zu Demokratie und Menschenwürde bekennt, kann sich nicht engagieren in einer Partei, deren Mandatsträger, deren bestimmende Personen genau dies tun. Nicht einmal die radikalen Rechten im europäischen Parlament lassen das der AfD mehr durchgehen. Deshalb: Wer sich für welche Themen auch immer in dieser Gesellschaft politisch einsetzen will, muss dies nicht für eine Partei tun, in der Leute die Demokratie umbringen wollen, um mit Carlo Schmid zu sprechen. Und wer es tut, macht sich damit gemein, Die Ausrede „Das darf man nicht so ernst nehmen“ ist die aktuelle Variante von „ das haben wir nicht gewusst“. Das darf man nicht hinnehmen.
(…)

Demokratie – Rechtsstaat – Gleiche Rechte – Gleichwertigkeit

Zur Demokratie gehört der Rechtsstaat, der dafür sorgt, dass nicht nur Minderheiten, sondern jede und jeder Einzelne Schutz genießt, und dass der Staat sich rechtfertigen muss.

Vor allem aber gehört zur Demokratie, dass alle Bürgerinnen und Bürger die gleichen Rechte und den gleichen Geltungsanspruch haben. Und das ist etwas, das uns alle bindet, nicht nur den Staat.

Dem parlamentarischen Rat sah „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ nicht nur als eine Anforderung an den Staat. E r verstand es als eine Anforderung an alle, die Teil der Gesellschaft sind. Das ist exakt das, was Margot Friedländer in den einfachen Satz kleidet „Seid Menschen!“

Das ist exakt das, was Margot Friedländer in den einfachen Satz kleidet „Seid Menschen!“

Es ist zuallererst die Anforderung, jeden anderen Menschen als gleichwertig anzuerkennen.

Dies ist der archimedische Punkt der Demokratie. Das ist ihre Rechtfertigung: Wir sind nicht Demokraten, weil das den meisten Wohlstand garantiert. Wir sind Demokraten, weil Menschen gleichwertig sind.

Angriffe auf die Gleichheitsidee

Der Angriff auf die Demokratie verbindet sich nicht zufällig mit dem immer offener formulierten Angriff auf die Gleichheitsidee. Der Ausschluss von Menschen ist das Wesensmerkmal der Bewegungen, die aktuell Demokratie untergraben.

Wer die Gleichwertigkeit von Menschen verneint, zerstört den für ein soziales und gewaltfreies Zusammenleben erforderlichen Grundkonsens. Wer so argumentiert und handelt,  wird nicht ausgeschlossen aus der Gemeinschaft der Demokraten, er schließt sich selber aus.

„Seid Menschen“ schafft ein Bewusstsein dafür, dass eine pflichtschuldige Distanzierung von Bedrohung und Gewalt nicht reicht! Wer Plakate hängt, dass Wohnungen frei werden, wenn man Menschen abschiebt, appelliert an die niedersten Instinkte. Wer sprachlich andere entmenschlicht, säht Gewalt. Die mörderische Bedrohung von Menschen, weil sie eine Synagoge besuchen, die gestern in unserer Region manifest wurde, hat etwas zu tun mit dem Klima, das in unserem Land erzeugt wird. Genauso wie die zunehmende Gewalt gegen politisch Engagierte..

Soll eine Gesellschaft menschlich sein, muss die Rhetorik der Ausgrenzung und Abwertung eingedämmt werden und Gewaltfreiheit konsequent und mit größtmöglicher Entschiedenheit eingefordert werden. Das unterscheidet Demokraten von den Feinden der Demokratie und muss sie unterscheiden.

Israelis und Palästinenser

Und das sind unsere Maßstäbe an alle:  Wenn auf einer Pro-Palästina-Demonstration in Mannheim gesagt wird, man werde keine Gewalt ausüben, aber man wolle einzelne, mit Namen Genannte den Hass spüren lassen, wenn Menschen, die an israelische Opfer erinnern, als Mörder beschimpft werden, dann kann dafür niemand Akzeptanz erwarten.

Umgekehrt darf nicht jeder Protest gegen die israelische Reaktion und jede differenzierte Position denunziert werden. Auch das passiert jedoch in zu hohem Maß.

Auch hier gibt der Satz „Seid Menschen!“ Orientierung.

Danach wäre es selbstverständlich, auf beiden Seiten Leiden und Opfer betrauern und wechselseitig anerkennen zu können.

Orientieren wir uns daran, muss es möglich sein, nicht nur der Trauer sondern auch politischen, kontroversen Diskussionen zu Israel und Palästina Raum zu geben. Daran fehlt es. Und auch das ist schädlich.

Denn auch innerhalb derer, die Demokraten sind, ist eine Maßlosigkeit in der Sprache und Ausgrenzung Alltag geworden, die unsere Fähigkeit, wirklich zu diskutieren und gemeinsam Lösungen zu finden, untergräbt. Und damit auch die Demokratie selbst. Vor allem verwischt diese Art der Auseinandersetzung die Grenze zwischen Demokraten und denen, die Demokratie bekämpfen.

„Seid Menschen“ kann auch hier eine gute Richtschnur sein.

Geht es noch um die Auseinandersetzung mit Meinungen oder geht es um Ausgrenzung von anderen aus einer Gemeinschaft?

Letzteres dürfen wir als Demokraten nicht tun und es ist schon längst verbreitete Praxis geworden. Das muss enden!

(…)

Europa

(…) Dennoch wird Europa und seine Idee bedroht – von außen und von innen. Werden seine wesentlichen Werte missachtet.

Mehr Nationalismus soll wieder eine Lösung für alle Themen sein, die Unbehagen auslösen, obwohl der Nationalismus nicht nur keine Lösungen anzubieten, sondern immer nur Leid gebracht hat.

Seien wir als Pro-Europäer selbstbewusster.

Mir hängen zu viele Plakate mit den Slogans , die ein starkes eigenes Land in Europa beschwören. Das ist die falsche Botschaft. Wir wollen ein stärkeres, wir wollen ein demokratischeres Europa. Ein Europa, das Demokratie in den Ländern besser sichert!




OB Specht verkündet beim Neujahrsempfang eine Rolle rückwärts der Verwaltung

Kommunalpolitik light

Harte Worte findet der Lokalchef des Mannheimer Morgen, Florian Karlein, über die erste Neujahrsrede des neuen OB Christian Specht: „Mannheims OB Specht hat es verpasst, bei wichtigen Themen die Richtung vorzugeben“ (MM 17.1.24). „Es fehlte der konkrete Blick auf Mannheims Situation und konkrete Lösungen dafür – wie es Christian Specht bei seiner Amtseinführung im September auf dem Toulonplatz noch getan hatte.“ Damals, im September, habe er noch konkrete Projekte angesprochen (MM 27.9.23): „Kostenloser öffentlicher Personenverkehr“ am nächsten verkaufsoffenen Sonntag (gab es schon mal an den Advents-Samstagen), Maßnahmen zur Verkehrsberuhigung in der City (nur welche? Den Verkehrsversuch bewertet er als nutzlos und Episode der Vergangenheit). Er nannte als eines der drängendsten Themen den Ausbau der Kinderbetreuung, dem er mit einer „Personalgewinnungsoffensive für Erzieherinnen und Erzieher“ begegnen möchte (dass da noch niemand dran gedacht hat! Oder doch?). Und dann natürlich sein Eintreten für das Ehrenamt mit Menschen die sich für Stadtteilfeste oder bei Sportveranstaltungen einsetzen. „Diesen Menschen dürfen wir nicht auch noch mit immer neuen Vorgaben und Verpflichtungen das Leben schwermachen.“ (Kommen die meisten Schwierigkeiten und Bürokratismen nicht aus dem Ordnungsamt, dem Specht so lange Zeit den Weg wies?).

Diese und weitere konkrete Punkte vermisste Karlein also bei Spechts Neujahrsrede. Da war auch wirklich nur ganz wenig, wo sich Specht festlegte. So z.B. für eine selbsttragende Spundwand im Rheindeich, um Bäume zu retten. Dafür gibt es ja auch eine regelrechte Volksbewegung. Ansonsten verharrte Specht auf der Meta-Ebene und formulierte diverse Allgemeinplätze.

Mit dem „Leitbild Mannheim 2030“ auf Kriegsfuß

Aber man darf Spechts Rede nicht unterschätzen. Unauffällig formulierte er doch ein paar Grundsätze, die sich einem erst bei nochmaliger Lektüre erschließen.

Einen überraschend großen Raum nimmt in seiner Rede das „Leitbild Mannheim 2030“ ein, das der Gemeinderat nach intensiver Vorarbeit in der Verwaltung und nach einem bürgerschaftlichen Beteiligungsprozess vor knapp fünf Jahren verabschiedet hat.

Das Leitbild orientiert sich an den 17 Nachhaltigkeitszielen für eine sozial, wirtschaftlich und ökologisch nachhaltige Entwicklung, die 2015 von der UNO verabschiedet wurden und weltweite Gültigkeit haben sollen. Vorausgegangen war seit 2008 ein von OB Peter Kurz vorangetriebener Modernisierungsprozess für die gesamte Stadtverwaltung: „Das gesamte Modernisierungsprogramm basiert im Wesentlichen auf zwei Säulen: Ein Masterplan mit 36 Projekten bildet gewissermaßen das Rückgrat. Parallel dazu wird eine grundlegende Kulturveränderung angestrebt, die das Modernisierungsprogramm befördert. Veränderungen bei Haltungen und Herangehensweisen sollen weg vom Spartendenken führen, hin zu einer wirkungsorientierten Denkweise, die von gemeinsamen, für die gesamte Stadtverwaltung geltenden strategischen Zielen ausgeht.“ (V244/2013 Evaluationsbericht CHANGE²).  Die strategischen Ziele wurden auf Basis der 17 Nachhaltigkeitsziele auch in den Kommunalhaushalt überführt, kombiniert mit definierten Wirkungszielen für die einzelnen Fachbereiche. Aus dieser Systematik heraus wurde dann das Leitbild Mannheim 2030 entwickelt. Es basiert auf 7 strategischen Zielen und beinhaltet 90 Indikatoren für die Messung der Wirkung der Strategie.

Es kommt beispielsweise bei dem Strategie-Thema Herstellung der Bildungsgerechtigkeit nicht auf den Umfang der eingesetzten Ressourcen als Leitgröße an, sondern auf die erzielte Wirkung z.B. hinsichtlich des Anteils der Schüler*innen, die die Schulen ohne Hauptschul-Abschluss verlassen.

Dieses System von strategischen Zielen, Wirkungskennzahlen und auch noch TOP-Indikatoren ist zweifellos komplex – so komplex wie die ganze Stadtverwaltung mit ihren sehr vielfältigen Aufgaben. Aber es gibt erstmals evidenten Aufschluss über die Wirkung von Verwaltungshandeln und ggf. zu ändernde Maßnahmen.

Zuletzt wurden die Indikatoren von allen Fachbereichen im Jahr 2023 mit den Werten bis zum Jahr 2022 versehen, diskutiert und die Tauglichkeit der Indikatoren überprüft. Einige wurden geändert, weil sie für die strategische Steuerung unfruchtbar oder von der Kommune gar nicht beeinflusst werden können. Außerdem wurden überall Zielwerte definiert. Für die meisten Werte werden auch Vergleiche mit Städten über 250.000 Einwohner:innen dargestellt. Das ganze Werk liegt dem Gemeinderat und der Öffentlichkeit vor ( ANLAGE zur Beschlussvorlage V325/2023: II. TOP-Kennzahlen der Stadt Mannheim und Zielwerte Ergebnisse der Workshops und Zielwerte Dokumentation aus den Zielewerte -Workshops mit den Dienststellen).

OB Specht charakterisiert das Leitbild 2030 zunächst – in einen „sehr herzlichen Dank“ an seinen Amtsvorgänger verpackt – als Produkt des Ehrgeizes von Peter Kurz: „Obgleich eine große Zahl an Bürgerinnen und Bürgern und Verwaltungsbediensteten an der Entwicklung des Leitbildes Mannheim 2030 beteiligt waren, war es doch vor allem der politische Wille von Dr. Kurz und sein persönlicher Einsatz.“

Sodann verkündet er, er wolle nach fünf Jahren Leitbild „in diesem Jahr eine Zwischenbilanz ziehen und prüfen, ob eine Anpassung der Strategie sinnvoll und erforderlich ist“. Die Vorlage 325/2023 scheint an ihm vorübergegangen zu sein. Oder besser ausgedrückt: Die ganze „Strategie“ mit den 7 strategischen Zielen scheint ihm nicht zu passen.

Corona-Pandemie und Ukraine-Krieg „haben neue Rahmenbedingungen geschaffen. Diese wirken sich unmittelbar auf die Kommune und die Kommunalverwaltung aus.“ Müssen deswegen die Ziele aufgegeben werden? Ist die Erfassung messbarer Wirkungen deswegen in Frage zu stellen? Die Indikatoren verzeichnen für die Krisenjahre seit 2020 schlechtere Werte. Daraus resultiert für die Verwaltung und ggf. für den Gemeinderat die Notwendigkeit, Maßnahmen für die Verbesserung der Situation zu entwickeln. Specht scheint die „Strategie“ zu verfolgen, die Ziele den schlechteren Rahmenbedingungen anzupassen. Als Begründung für seinen Ansatz nennt er sodann den Klimawandel, den Digitalisierungsbedarf und den sich verschärfenden Arbeitskräftemangel – alles Themen, die in den Fachbereichsstrategien berücksichtigt und in den Indikatoren abgebildet sind.

Und Specht legt noch eine Schippe drauf: „Zweitens: Es sind – auch in Mannheim – neue politische Strategien und Prioritäten dazu gekommen. Man denke hier nur an den Local Green Deal.“

Local Green Deal? Dazu äußert die Verwaltung in V325/2023 beispielsweise: „Bisher war die Einflussnahme der Stadtverwaltung auf diese Kennzahl begrenzt; nun hat der Local-Green Deal (LGD) dieses Aktionsfeld im Portfolio mit aufgenommen, die entsprechende Stelle ist besetzt – damit ist zunächst ein Netzwerkaufbau bzw. die Beteiligung an Netzwerken (Foodnet) vorgesehen. Es sollen künftig Vereinbarungen mit Akteuren geschlossen werden.“

Der Jahresbericht 2022 verwirrt den neuen OB

Specht: „Der 124 seitige Jahresbericht 2022 der Stadt Mannheim umfasst 7 strategische Ziele, 33 Teilziele, 30 Fachstrategien und 52 TOP-Indikatoren. Diese TOP-Indikatoren sollen anzeigen, inwiefern wir unsere Ziele erreichen. Besonders bemerkenswert fand ich, dass etwa die Zahl an Kita-Plätzen für die Stadt Mannheim derzeit kein TOP-Indikator ist. Umso dringlicher erscheint mir, dass wir unsere strategische Steuerung fokussieren und verschlanken.“

Dieser „124-seitige Jahresbericht 2022 der Stadt Mannheim“ ist Specht offensichtlich ein besonderer Stein des Anstoßes. So viele Teilziele und Fachstrategien und TOP-Indikatoren!
Der Jahresbericht der Stadt Mannheim, der wahrscheinlich seit den 80er Jahren nicht mehr erschienen war, ist zweifellos ein abschließender Rechenschaftsbericht des scheidenden OB Peter Kurz und so etwas wie ein politisches Vermächtnis.

Seine Position zu den „Rahmenbedingungen“ und ihrem Verhältnis zu den strategischen Zielen erklärt der Bericht im Schlusswort:

„Zusammenfasend bedeutet dies für die Zukunft, in dem Bemühen der Transformation, um Mannheim zu einer sozial gerechten, resilienten, wenig anfälligen und perspektivisch klima-neutralen Stadt zu machen, nicht nachzulassen. Es gilt, noch mehr Projekte, Investitionen und Strategien mit noch größerer Effizienz – unter Wahrung der sozialen Gerechtigkeit- zu entwickeln und fortzuführen, die einerseits der Krisenreaktion dienen, zugleich aber auch der Transformation und Weiterentwicklung der Stadt.“ (S. 113)

Kita-Populismus – in einem Jahr wird sich Specht messen lassen müssen

Specht bemängelt, dass „die Zahl an Kita-Plätzen für die Stadt Mannheim derzeit kein TOP-Indikator ist.“ Die Indikatoren bilden die Wirkung von Maßnahmen ab. Es ist schon ziemlich demagogisch, wenn Specht nach Blick in den Jahresbericht unterstellt, der Stadt sei die Zahl der Kita-Plätze schnurz um dann zu verkünden, er werde das nun zur Chefsache machen.
Vierteljährlich veröffentlich das Jugenddezernat die Entwicklung der Kinderbetreuungsplätze und der Nachfrage, differenziert nach den unterschiedlichen Bedürfnisarten. Es weist die Zahl der unversorgten Kinder aus.

Das System „Leitbild Mannheim 2030“. Innerhalb der Fachstrategien zum Strategischen Ziel 1 „Bildungsgerechtigkeit verwirklichen, Teilhabe sichern“ der zweite rote Riegel von oben (ganz links): „Ausbauplanung Kindertagesbetreuung“. Grafik: Stadt Mannheim, Jahresbericht 2022, S.11

Im Kapitel „Zentrale Fachstrategien“ kommt an zweiter Stelle die Ausbauplanung Kindertagesbetreuung: „Mit dem Gesamtkonzept zur Ausbauplanung für Kindertagesstätten sollen für möglichst viele Eltern adäquate Betreuungsangebote bereitgestellt und somit ein ausgeglichenes Tagesbetreuungsangebot über das gesamte Stadtgebiet sichergestellt werden. Die Ausbauplanung in den einzelnen Stadtteilen folgt dabei einer Priorisierung nach den jeweiligen Bedarfen. Dabei gilt es, sorgfältig zwischen den Faktoren Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Verbesserung der Bildungsgerechtigkeit sowie Entwicklung der Konversionsflächen und Neubaugebiete abzuwägen.“ (S. 27) In diesem Zusammenhang wird auf den Ausbau der Kindertagespflege u.a. als Überbrückungsangebote verwiesen. Es wird deutlich: Hier geht es immer noch um den Weg aus der Mangelverwaltung, nicht aber um Untätigkeit.

Letztere unterstellt Specht dem Dezernat III, um dann das System der strategischen, wirkungsorientierten Steuerung in Frage zu stellen, „zu verschlanken“.

Die Obrigkeit und das Volk

Eine dritte Ansage von gravierender Bedeutung macht Specht, wenn er feststellt: Das Leitbild sei zeige ein „Zielbild“ auf, was er als Vorteil wertet. „Der Nachteil besteht aber darin, dass die Grenzen zwischen Verwaltung einerseits und Bürgerschaft andererseits verschwimmen. Damit verwischen aber auch die Rollen von Auftraggeber und Auftragnehmer und die Verantwortlichkeiten der jeweiligen. Mir ist wichtig, dass wir wieder klar formulieren, welche Erwartungen Bürgerschaft, Ehrenamt und Unternehmen an die Verwaltung haben können bzw. welche Leistungen die Verwaltung in welcher Qualität und Quantität erbringen soll.“

So kann man bürgerschaftliche Beteiligungsprozesse und z.B. ehrenamtliche Leistungen, wie sie z.B. in Zusammenarbeit mit der überforderten Verwaltung und den Hilfsorganisationen bei der sog. „Flüchtlingskrise“ 2015 ehrenamtlich geleistet wurde auch bezeichnen: „Verschwimmen der Grenzen“. Das Leben der Stadtgesellschaft, die Gestaltung der Stadt werden schlicht als Verhältnis „zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer“ definiert.

Schnell beeilt sich Specht aber, klarzustellen, dass nicht „der Einzelne die Verantwortung für das Gemeinwesen auf die Verwaltung delegieren kann. Wir alle sind gefordert, Verantwortung für ein respektvolles Miteinander, für Sauberkeit im öffentlichen Raum und die Einhaltung von Regeln selbst zu übernehmen.“ Der Bürger, die Bürgerin soll also ordentlich und ehrenamtlich tätig zu sein.

Meinungsumfragendemokratie

Noch ein Schmankerl bietet Specht in seiner Neujahrsrede: „Bei der Überarbeitung unserer Strategie müssen wir zwei maßgebliche Zielgrößen in den Blick nehmen, die sich gegenseitig bedingen: Zum einen die Qualität unserer Leistungen als Verwaltung, zum anderen die Zufriedenheit der Bürgerinnen und Bürger mit unseren Leistungen. Die aktuellen Erkenntnisse der OECD zur Messung von Nutzer-Zufriedenheit mit dem öffentlichen Dienst können uns hierbei wichtige Impulse geben.“ Um was dreht sich das System der wirkungsbasierten strategischen Steuerung und vorher schon der aufwändige „CHANGE-Prozess“ der Stadtverwaltung anderes als um die Qualität der Leistungen. Die vielen Indikatoren der Wirkungsmessung will Specht aber offensichtlich durch die subjektive Messung der Nutzer-Zufriedenheit mit dem öffentlichen Dienst ersetzen. Wie wenig eine solche Messung zielführend ist, zeigt das Thema „Videoüberwachung“ des öffentlichen Raums als Placebo für das „subjektive Sicherheitsempfinden“.

Abschließend wartet Specht noch mit dem großen Schlager der „Aufgabenkritik“ (in den 80er Jahren ein großer Verwaltungshit), mit der „Ressourceneffizienz unserer Leistungen“ (Überprüfung durch Umfragen oder der Wirkung?) und der „regionalen Arbeitsteilung“ in der Metropolregion auf, also v.a. mit Ludwigshafen und Heidelberg. Ganz neu ist auch dieser Vorschlag nicht (die RNV ist ein lebendiger Beweis). Aber die Leistungsfähigkeit der gebeutelten Stadt Ludwigshafen dürfte sicher bei der Arbeitsteilung Grenzen haben.

Trauriges Fazit: Specht macht Anstalten, die „Verschlankung“ in einer Weise zu praktizieren, die die Erfüllung der notwendigen Leistungen gerade für die Nichtwohlhabenden verschlechtern wird und die politische Mitwirkung der Gesellschaft unterbindet.

Und ach ja: „In unserer Stadt ist Armut real.“ Dazu braucht Specht keinen Blick in den Sozialatlas oder auf die viel zu vielen Indikatoren. Es reicht der Blick in die Vesperkirche. Und mehr Antwort auf die Armut bietet er auch nicht als: die ehrenamtliche Vesperkirche.

Noch eine Schlussanmerkung: Nicht alles in der Ära Kurz war glänzendes Gold. Wirklich nicht. Aber kommunalpolitisches Blech braucht niemand!

 

Thomas Trüper




„Mehr Liebe wagen“ begeistert 100.000 Menschen (mit Fotogalerie und Kommentar)

Der CSD Rhein-Neckar e.V. veranstaltete am 11.08.18 zum 10ten Mal die CSD (Christopher Street Day) Demonstration in Mannheim. Rund 7.000 Teilnehmer, mehr als je zuvor, nahmen an der Demo für die Rechte und Interessen von Schwulen, Lesben, Transgendern, einem Wort: für die LSTIQ-Community – teil. Nach offiziellen Angaben der Veranstalter und der Polizei besuchten einhunderttausend Menschen die Veranstaltung bei allerbestem Wetter.

 

 

 

„Es bleibt für die Gleichberechtigung von Homosexuellen und Intersexuellen noch viel zu tun, aber wir sind auch durch die Verabschiedung der längst überfälligen Ehe für alle auf einem guten Weg.“

Dies sagte Katarina Barley (SPD), Bundesministerin für Justiz und Verbraucherschutz, als Schirmherrin der diesjährigen CSD-Demo bei einer Pressekonferenz in den Räumlichkeiten des Vereins für Psychologische Lesben- und Schwulenberatung Rhein-Neckar e.V. in der Max-Joseph-Straße. Weiter sagte Frau Barley, dass ihr das gewählte Motto „Mehr Liebe wagen“ besonders gefallen würde und dass die Rechte lesbischer Mütter weiter zu stärken seien. „Der Gesetzesparagraph 175 hätte viele Lebensläufe zerstört. Auch für die Interessen von Inter- und transsexuellen Menschen wurde schon viel erreicht. Es müsse aber noch nachgearbeitet werden in der Bundesregierung“.

Der Mannheimer OB Dr. Kurz (SPD) betonte in der Pressekonferenz die Wichtigkeit der gesellschaftspolitischen Botschaft, die vom CSD ausgeht, und dass Vielfalt funktionieren muss. „Partnerstädte wurden erneut eingeladen und sie sind da“, so das Stadtoberhaupt. Geworben hat Dr. Kurz für eine themenbezogene Ausstellung im Mannheimer Hauptbahnhof und für das innerstädtische „Mannheimer Bündnis“, welches sich für Toleranz, Verständnis und Dialog einsetzt.

„Regenbogenfamilien sind keine Familien zweiter Klasse. Die Frage des 3. Geschlechts muss im Grundgesetz geregelt werden. Transsexuell sein ist keine Spaßveranstaltung. Das Motto ist wichtig in der von Hass geprägten Gesellschaft. Die Gesellschaft muss zusammenhalten, muss dagegenhalten. Wir brauchen eine Gesellschaft in der alle zusammen leben können.“, so Harald Blaull (Vorsitzender des CSD Rhein-Neckar). Er begrüßte auch, dass zunehmend mehr Heteros an CSD-Veranstaltungen teilnehmen würden.

Alle RednerInnen der Pressekonferenz waren sich final einig. Ein Plus-Redner fasste dies so zusammen: „Wichtig ist das stabile Netzwerk in der Community. Offen für alle, auch für Heteros. Es wird generationsübergreifend und interessensübergreifend zusammengearbeitet. Es müssen Mauern durchbrechen werden für Akzeptanz im Alltag. Dank an die Stadt Mannheim für ihre Unterstützung.“

Mannheim ist hiermit die sechstgrößte Stadt im Bundesgebiet was CSD-Veranstaltungen angeht.

 

Starker Auftakt bei der CSD-Demo und „Party-Stimmung“ bis zum Ende

Grußbotschaften wurden von den RednerInnen in Richtung der Teilnehmer gerichtet. Begrüßt wurden die Menschen traditionell von Harald Blaull. Es sprachen dann Katarina Barley, Thorsten Riehle (SPD), Jutta Steinruck (SPD) und der Sprecher der Community aus Heidelberg. Der Mannheimer OB Dr. Kurz ergriff ausserplanmässig auch das Mikrofon. Vorgetragen wurden inhaltlich dieselben Botschaften, die auch größtenteils in der Pressekonferenz transportiert wurden.

Thorsten Riehle, als CSD-Sprecher des Gemeinderats in Mannheim, betonte, dass er „an diesem Tag für alle Fraktionen im Rat sprechen würde, die für Vielfalt und Offenheit stehen würden und sich auf dem Boden des Grundgesetztes befinden würden. Er selbst begrüßt die Ehe für Alle, aus privaten Gründen sowieso.“

Jutta Steinruck (SPD) war 2017 Schirmherrin des CSD in Mannheim, damals noch als OB-Kandidatin. Frau Steinruck hat ihr Versprechen eingelöst und kam auch dieses Jahr wieder zum CSD, als erstes Stadtoberhaupt aus Ludwigshafen überhaupt.

Eine party-launige Stimmung kennzeichnete den CSD am 11.08. in Mannheim. Sehr viele junge Menschen nahmen teil und feierten ab.

Das Straßenfest endete auf dem Ehrenhof vor dem Mannheimer Schloss, von wo aus es mit einer attraktiven und bunten Bühnenshow in den Abend startete.

Kommentar: Nicht Kommerz und Firmensponsoring bestimmten den Tag. Bestimmt wurde der Tag durch Leute im Party-Modus. Das ist so gesehen nicht weiters von Bedeutung. Hätten nicht, laut vieler Besucher des CSD, die klaren und wichtigen politischen Botschaften beim Demozug gefehlt. Nicht gemeint waren damit die zahlreichen Fahrzeuge und Fußgruppen politischer Parteien. Kritisiert wurde die vergleichsweise geringe Präsenz aus der LSTIQ-Community, die aus Gründen, nicht so sehr, wie z.B. Faschingsverein, Parteien und Gewerkschaften auf sich aufmerksam machen konnten. Wo bleibt die Solidarität, fragt sich der Beobachter? Und der Beobachter fragt sich, wo die Disziplin, bei allem Spass auf den Straßen, bei einigen Demozugteilnehmern bleibt, wenn mehrminütige Lücken entstehen und die Stimmung am Abflauen ist? Ist dies purer Egoismus oder was soll ein solches Verhalten bedeuten? Als unsäglich und widerwärtig zu bezeichnen ist der sexuell motivierte Angriff auf eine Besucherin des Demozugs. Ich hoffe, dass der „Antänzer“ alsbald von der Polizei geschnappt werden kann. Was benötigt es u.a. mehr zur Motivation für den CSD 2019 in Mannheim, als den Spruch den ein Alt-Nazi einer Infostand-Besatzung auf dem Ehrenhof hingedrückt hat: „Unter Adolf Hitler hätte es das nicht gegeben. Der hätte dies hier alles ganz schnell weggemacht“. Komplett nicht nachvollziehen kann ich die Kritik am CSD, was die SPD-Dominanz an den RednerInnen anging. Jeder, der den CSD alljährlich besucht kann sich eigenen Auges feststellen, dass auch in den Vorjahren auch „Größen“ aus der Politik in der ersten Reihe standen. Auch am 11.8. habe ich keinen Mangel anderer Parteienvertreter festgestellt: linke, wie grüne, ParteienverteterInnen waren z.B. auch engagiert bei der Sache.

(Bericht: Erik Butz und Christian Ratz / Kommentar: Christian Ratz / Bilder: Alexander Kästel, Erik Butz und Christian Ratz)

Fotogalerie:

 




Neubau Kunsthalle: Gelingt die „Einbürgerung in die Stadtgesellschaft“?

Stolz präsentiert Sie ihren Neubau: Museumsdirektorin Dr. Ulrike Lorenz (links)

Mit einer großen, medienwirksamen Kampagne, wurde die Fertigstellung der Kunsthalle am Wochenende 15. bis 17. Dezember gefeiert und am 18. Dezember feierlich vom Bauherren an die Stadt Mannheim, die künftige Betreiberin, übergeben. Zum Festakt kamen zahlreiche prominente Gäste, allen voran Ministerpräsident Winfried Kretschmann und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier.

Da stellt sich die Frage, ob bei der Vereinnahmung des Gebäudes durch die high society der eigentliche Zweck des Bürgermuseums in öffentlicher Hand überhaupt noch gegeben war? Denn für den „Bürger“ war der Festakt mit Prominenz natürlich nicht frei zugänglich. Die 700 geladenen Gäste aus Politik, Wirtschaft, Verwaltung und Kunstszene blieben ein exklusiver Kreis. Den Verantwortlichen der Kunsthalle um Museumsdirektorin Dr. Ulrike Lorenz gelang mit der Kampagne jedoch ein geschickter Spagat.

Zwischen Tradition und Neuerfindung

Der Eingang mit Glasskulptur, die Fassade ziert Edelstahl-Mesh

Die geschichtlichen Umstände um die Entstehung der Kunsthalle im Jahr 1907 lassen aufhorchen. Im Rahmen einer Kunst- und Gartenbauausstellung zum 300 jährigen Stadtjubiläum wurde das Gebäude eröffnet, zwei Jahre später folgte die Gründung als Museum. Der Zusammenschluss „Freier Bund zur Einbürgerung der Kunst in Mannheim“ wurde kurz darauf durch den ersten Direktor Fritz Wichert ins Leben gerufen. Mit 5000 Anmeldeformularen und 5000 Bleistiften sei er 1911 vor eine Bürgerversammlung getreten. 1000 Mannheimer*innen seien seinem Aufruf gefolgt und spontan dem Verein beigetreten – mit dem Bleistift in der Hand als Teil einer kunstschaffenden Stadtgesellschaft. Wicherts Ziel: Das Haus mit Leben füllen.

Der Verein betonte schon früh die tiefe Verankerung des Museums in der Bürgerschaft. Etwa 12 000 Mannheimer*innen sollen Mitglieder geworden sein, also ungefähr jeder zehnte Bürger der Stadt. Eine beeindruckende Zahl, die heute trotz Internet und Crowdfunding Kampagnen kaum vorstellbar ist.

So waren auch die bürgerschaftlichen Kunstsammlungen stets fortschrittlich und modern. Besonders hervor zu heben, ist die in den 20er Jahren durch Direktor Gustav Friedrich Hartlaub gezeigte Ausstellung „Neue Sachlichkeit“, die einer ganzen Stilrichtung den Namen gab.

Blick zur Decke des Atriums

Die Geschichte der Kunsthalle war am vergangenen Wochenende aber nur am Rande Thema. Der Fokus lag auf dem Neubau, auf Architektur. Und diese ist durchaus beeindruckend. Die äußere Ansicht wird durch das Edelstahl-Mesh bestimmt, eine Art Gittergeflecht, das sich um den gesamten Neubau herum zieht und im Tageslicht zu einer bronzefarbenen Erscheinung wird. Man konnte es auch mit verschiedenen Brauntönen beschreiben, was weniger edel klingt, aber der Realität näher kommt. Auf die baulichen Besonderheiten, Daten, Fakten, Materialien und architektonischen Stilrichtungen soll an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden. Das Architekturbüro gmp und die Kunsthalle geben sich alle Mühe, ihr Werk in Szene zu setzen. Details können daher an entsprechender Stelle nachgelesen werden.

Eine „Stadt in der Stadt“?

Die Besuchergruppe wird durch den Neubau geführt. Fotografieren war hier eigentlich verboten.

Mich interessierte mehr das konzeptionelle Motto der „Stadt in der Stadt“. Idee ist hierbei die freie Zugänglichkeit des Museums von der Straße als Erweiterung des öffentlichen Raums. Das war zumindest beim Festakt nicht gegeben, soll aber im Normalbetrieb im Rahmen der Öffnungszeiten gewährleistet sein. Der*die Besucher*in kann über den Eingangsbereich ohne Barriere (löblicherweise auch wirklich barrierefrei für Rollstühle) ins Atrium geleitet werden, das eine Art Halle in vertikaler Ausrichtung mit großem Oberlicht darstellt. Dieser Bereich, über den Museumshop, Restaurant sowie die Ausstellungsräume erreicht werden, wird von den Architekten auch als „Marktplatz“ bezeichnet. Ob es eine „Stadt in der Stadt“ werden kann, bleibt zum jetzigen Zeitpunkt noch offen. Eine solche Entwicklung dürfte nur durch entsprechende Angebote realisierbar sein, denn ein Museumsshop und ein Restaurant alleine dürften kaum die nötige Strahlkraft haben. Immerhin ist auch ein Veranstaltungsraum an das Atrium angeschlossen, eine gute Voraussetzung, um ab Sommer Leben ins Haus zu bekommen.

Die Einbürgerung der Kunsthalle

Die Prominenz bei der Ankunft

Wie geht der Anspruch der bürgerschaftlichen Verankerung mit den repräsentativen, exclusiven Events der Kunstszene zusammen – gerade bei einer so darstellungsorientierten Prestigeveranstaltung, wie der Übergabe des Neubaus. Den Verantwortlichen gelang ein geschickter Spagat. Am Wochenende 15. bis 17. Dezember öffnete der fertige Neubau seine Tore und empfing alle Interessierten bei freiem Eintritt. Dazu gab es eine reduzierte Ausstellung weniger Werke und ein Rahmenprogramm. Das Highlight sollte das Bauwerk sein. Stadtprominenz ließ sich blicken, dominierte aber nicht das Programm. Eine beeindruckende Besucherzahl von über 20 000 Personen wurde an diesem Wochenende gezählt. Ein voller Erfolg der bürgerschaftlichen Idee.

Am darauf folgenden Montag, wenn der einfache Bürger sowieso wieder arbeiten gehen muss, feierte sich die Kunst- und Politszene dann selbst. Die Stargäste Kretschmann und Steinmeier prägten den exclusiven Rahmen. Alles war ins kleinste Detail durchorganisiert und für die Öffentlichkeitsarbeit gestyled.

Bundespräsident looking at Kunst

Nach einem Abstecher in die Johannes-Kepler-Schule erreichte der Bundespräsident pünktlich um 15 Uhr die Kunsthalle. Die Presse durfte (und sollte) den Besuch dokumentieren, ein freies Bewegen durch die Halle war aber untersagt. Stattdessen wurden Medienpunkte eingerichtet, Orte an denen schöne Bilder im Sinne der Veranstalter angefertigt werden durften (diese können im Rahmen dieses Artikels und in der Bildergalerie weiter unten angesehen werden).

Das Interesse war groß. Zahlreiche Journalist*innen drängten sich mit ihren Foto- und Videokameras hinter den kleinen abgesperrten Bereichen. Die Besuchergruppe um Bundespräsidenten, Ministerpräsidenten, Oberbürgermeister, deren Ehefrauen, Museumsdirektorin, Stiftungsvorstand, Mäzene und einige wenige andere füllten ihre Rollen professionell aus: Empfang, Händeschütteln, Eintrag ins goldene Buch der Stadt, Kunstwerke anschauen. Sie beendeten ihren Rundgang auf der Party, zu der 700 geladene Gäste aus den Bereichen Politik, Wirtschaft, Verwaltung und Kunstszene zusammen kamen – das offensichtliche Kontrastprogramm zur bürgerschaftlichen Offenheit des Wochenendes. Die Reden und ein anschließender Kunst-Talk durften noch durch die Medienvertreter*innen dokumentiert werden, danach endete die (Presse-)Öffentlichkeit der Veranstaltung und die hohe Gesellschaft feierte unter sich weiter.

Wer zahlt eigentlich das Vergnügen?

Gruppenfoto für die Presse: Alle wichtigen Personen posieren im Anselm-Kiefer-Raum

Bleibt noch die Frage nach den Kosten. Das bürgereigene Museum muss naturgemäß von den Bürgern finanziert werden – es sei denn, es finden sich private Sponsoren, sogenannte Mäzene, die ein gutes Werk tun wollen. Dies war beim Neubau der Kunsthalle der Fall. Von den 68,3 Millionen Euro Gesamtkosten finanzierten die Privatleute Josephine und Hans-Werner Hector einen großen Teil. Als Mitgründer der Firma SAP ist Hector wohlhabend geworden, heute gilt er als einer der hundert reichsten Deutschen. Er betätigt sich als Mäzen und Stifter. Für den Neubau der Mannheimer Kunsthalle, der „Hector-Bau“ benannt wurde, ließ das Ehepaar 50 Milionen Euro springen. Den Rest finanzierte die Stadt zum Großteil selbst über Geld, das vor Jahren aus der Privatisierung der MVV stammte – dem Energiekonzern, der bekanntermaßen nicht mehr in öffentlicher Hand ist. Die Abhängigkeit der Stadt von reichen Privatleuten, die sich mit solchen Spenden ihre positive Erwähnung in den Geschichtsbüchern sichern, wird hier offensichtlich. Dennoch ist die Stadt als Betreiberin langfristig für die hohen Betriebskosten selbst verantwortlich. Aus der Erfahrung des Nationaltheaters wissen wir, dass große Kunst- und Kulturprojekte im laufenden Betrieb nicht gerade günstig sind.

Die Kunsthalle jedenfalls möchte ihrem Gründungsmotto „Kunsthalle für alle“ auch weiter treu bleiben. Daher soll zur Wiedereröffnung im Sommer 2018 das Museum weiterhin am ersten Mittwoch im Monat bei freiem Eintritt besucht werden können. Anfang Juni soll es ein „Grand Opening“ geben, bevor die ersten Ausstellungen mit Werken des Fotokünstlers Jeff Wall und zwei Sonderausstellungen zur Geschichte der Kunsthalle, speziell auch in der Zeit von 1933 – 1945, starten.

(Text und Bilder: cki)

Weblinks

Kunsthalle Mannheim

Presseinformation der Stadt Mannheim

 

Bildergalerie
Festakt zur Übergabe der Kunsthalle mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Ministerpräsident Winfried Kretschmann

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