Berufsverbot-Betroffene verlangen Wiedergutmachung: Die Landesregierung kann sich nicht länger drücken! 

Am 28. Januar wurde der „Radikalenerlass“ 50 Jahre alt. Bundesweit gab es über 90 Presseartikel und 70 Veranstaltungen. Die ARD zeigte eine 45-minütige Dokumentation des Filmemachers Hermann Abmayr und berichtete in „Panorama“. Im Frühjahr wurde eine 684-seitige Studie eines Forschungsteams der Universität Heidelberg zu den Auswirkungen des Erlasses veröffentlicht: „Es war eine Hexenjagd gegenüber jungen Menschen, denen Verfassungsfeindlichkeit unterstellt wurde.“ Die „Süddeutsche Zeitung“ sprach „von einem der folgenreichsten Desaster in der Geschichte der Bundesrepublik“. 

Protest Betroffener vor der PH Heidelberg anlässlich des 50. Jahrestags des „Radikalenerlasses“

In Baden-Württemberg erfolgten von 1973 bis 1990 im Zuge der hiesigen „Schiess-Erlass“ 695.674 „Regelanfragen“ beim Inlandsgeheimdienst („Verfassungsschutz“). Offiziell gab es rund 300 Nicht-Einstellungen und Entlassungen aus dem öffentlichen Dienst. Die Dunkelziffer ist hoch. Betroffen waren zu 97 Prozent politisch linksgerichtete Menschen. 

Die Berufsverbote verstießen gegen Grundrechte, Meinungs- und Organisationsfreiheit. Sie waren kollektives Unrecht und gemäß der zitierten Studie ein Verstoß gegen Kernnormen der ILO (Internationale Arbeitsorganisation), somit völkerrechtswidrig. Während Betroffene bis heute um Rehabilitierung kämpfen, steht in Brandenburg – unter dem Vorwand „gegen rechts“ vorzugehen – im ersten Bundesland wieder ein neues „Radikalen-Gesetz“ vor der Verabschiedung („Verfassungstreue-Check“ im öffentlichen Dienst, siehe Rückseite). 

Beschlüsse zur Rehabilitierung der Betroffenen haben vier Landtage gefasst. Die „Süddeutsche Zeitung“ fragt, ob Ministerpräsident Kretschmann auf eine „biologische Lösung“ abziele. Elf Jahre hatte er eine Wiedergutmachung unter Verweis auf „fehlende Forschung“ verweigert. Bezogen auf die Studie erklärte er nun am 1. Juli in der „Stuttgarter Zeitung“: „Ich werde entscheiden, wie wir weiter mit dem Thema umgehen.“ 

Damit konfrontiert, die Studie liege seit längerem vor, antwortete er am 14. Juli: „Meine Zeit und die der Ministerien ist begrenzt. Ich habe gerade sehr, sehr große Probleme zu lösen, Stichwort Gaskrise. Die Betroffenen hatten schon lange Geduld. Und jetzt müssen sie sich halt noch mal gedulden.“ Die an Ignoranz kaum zu überbietende Stellungnahme hat die Sprecherin des Staatsministeriums in der „Rhein-Neckar-Zeitung“ vom 30. September wiederholt: „In der aktuellen Situation gibt es Fragen von akuter Dringlichkeit, die diesem Thema vorgelagert sind.“ 

Die Betroffenen haben das ewige Verschleppen satt. Viele haben rund 1.000 € weniger Rente im Monat, einige nur Armutsrenten um 600 € brutto. Entsprechende finanzielle Ausgleichsbeträge könnten aus einem Fonds gezahlt werden. Das Land müsste dafür nur einen mittleren einstelligen Millionen-Eurobetrag zur Verfügung stellen (einmalig 0,1 Promille eines Jahreshaushalts). 

DGB, GEW, ver.di und IG Metall unterstützen die Betroffenen und ihre Forderungen. Die SPD-Fraktion hat im Landtag eine Anfrage zur wissenschaftlichen Studie eingebracht. Im Ständigen Ausschuss des Landtags wurde sie mehrfach beraten. Ein Antrag der SPD-Mitglieder, sich „bei den Betroffenen zu entschuldigen“ und „erlittenes Unrecht finanziell angemessen zu kompensieren“, erhielt jedoch am 29. September im Ausschuss keine Mehrheit. Die „Initiativgruppe Baden-Württemberg gegen Radikalenerlass und Berufsverbote“ führt daher anlässlich einer am 26. Oktober anstehenden Landtagssitzung in Stuttgart eine Kundgebung vor der Oper auf dem Großen Schlossplatz durch. 


Kundgebung 

Berufsverbot-Betroffene endlich rehabilitieren und entschädigen! 

Mittwoch, 26. Oktober 2022, um 17 Uhr in Stuttgart vor der Oper, Großer Schlossplatz 

Es sprechen: Kai Burmeister (DGB-Vorsitzender Baden-Württemberg) und Betroffene: Sigrid Altherr-König (Esslingen), Martin Hornung (Heidelberg 




Berufsverbot-Betroffene bleiben dran an Rehabilitierung – Kretschmann sitzt aus

Berufsverbot-Betroffene bleiben dran an Rehabilitierung

Ergebnisse des Heidelberger Forschungsprojekts vorgelegt – Kretschmann zur Stellungnahme gezwungen

 Berichte in Rundfunk und Fernsehen, bundesweit über 90 Presseartikel und 70 Veranstaltungen – die Bilanz um den 50. Jahrestag des sogenannten „Radikalenerlasses“ am 28. Januar fällt für die Betroffenen positiv aus. Nie zuvor war das Interesse der Öffentlichkeit an den grundrechtswidrigen Berufsverboten größer. In Berlin führten die bundesweiten Initiativen vom 17. bis 19. Mai zentrale Aktionstage durch, die im Januar aufgrund der Pandemie verschoben wurden.

Berufsverbot-Betroffene bei einer Protestkundgebung vor der PH Heidelberg am 28.10. 2021

Am 20.5. wurden auch die Ergebnisse eines von August 2018 bis Ende 2021 durchgeführten Forschungsprojekts an der Universität Heidelberg zum „Radikalen“- bzw. „Schiess“-Erlass in Baden-Württemberg in Buchform veröffentlicht. (Letzterer war eine verschärfte Form des Erlasses, benannt nach dem damaligen Innenminister Karl Schiess, aufgrund seiner Nazi-Vergangenheit auch als „Hakenkreuz-Karle“ bekannt.)

11 Autorinnen und Autoren arbeiten im Buch auf 684 Seiten den Erlass und seine Auswirkungen wissenschaftlich auf. Sie stellen ihm ein „insgesamt schlechtes Zeugnis aus“ („Stuttgarter Zeitung“, 14.07.2022). Die baden-württembergische „Initiativgruppe gegen ‚Radikalenerlass‘ und Berufsverbote“ hat kurz nach Erscheinen der Studie am 25. Mai in einer achtseitigen Zusammenfassung und öffentlichen Stellungnahme erklärt:

„Die Beiträge, speziell die Ausführungen zur Nichteinhaltung der IAO/ILO-Bestimmungen … belegen eindrücklich die Auffassung der Betroffenen, dass die Maßnahmen im Zuge des ‚Radikalenerlasses‘ kollektives Unrecht darstellten. … Durch die Ergebnisse des Forschungsprojekts wird die Berechtigung der Forderungen der Initiativgruppe eindrucksvoll bestätigt. Sie erwartet daher von der baden-württembergischen Landesregierung und dem Landtag, dass alle Betroffenen schnell vollumfänglich rehabilitiert und entschädigt werden.“

Während der berüchtigten „Regelanfragen“ gab es von 2.10.1973 bis 31.12.1990 im „Ländle“ nach Angaben des Innenministeriums 695.674 (!) Anfragen beim sogenannten „Verfassungsschutz“ (ein Fünftel aller Bespitzelungen bundesweit). Davon wurden 1.927 als „Erkenntnisfälle“ behandelt (nicht mit eingeschlossen „Wiederholungsfälle“). 222 hätten zu Ablehnungen im öffentlichen Dienst und 66 zu Entlassungen geführt (Forschungs-Studie, S. 170). Die Dunkelziffer bei den offiziell 288 Berufsverboten (zu 97 Prozent gegen Linke) ist allerdings hoch. Im Stuttgarter Staatsarchiv schlummern rund 3.000 „personelle Akten“. Und Betroffene in der Rhein-Neckar-Region haben anhand eigener Recherchen nachgewiesen, dass es allein hier mindestens 176 Berufsverbots-Fälle gab, namentlich oder durch Unterlagen belegt (118 davon in Heidelberg, 32 in Mannheim und 26 im Umland).

Für die Landesregierung blockt Ministerpräsident Kretschmann die Forderungen der Betroffenen nach Rehabilitierung und Entschädigung seit 2012 mit der Begründung ab, erst müsse eine „wissenschaftliche Aufarbeitung aller Berufsverbote“ erfolgen – so der Regierungschef noch im Januar in einer ARD-Dokumentation. 2016 hat er einen „Runden Tisch“ von Grünen- und SPD-Landtags-Abgeordneten mit 13 Betroffenen abbrechen lassen. Und nur durch Zufall erfuhr die Initiativgruppe Ende 2018, dass vier Monate zuvor das Forschungsprojekt an der Uni Heidelberg eingerichtet wurde, vom Wissenschaftsministerium mit 338.000 Euro finanziert.

Obwohl der Text der Studie seit März Presse und Politik vorliegt (Ministerin Theresia Bauer verfasste für das Buch auch ein „Geleitwort“), erhielten die Betroffenen auf ihre öffentliche Erklärung vom 25. Mai und ein zusätzliches Schreiben Anfang Juni an Kretschmann von dort keine Antwort. Bewegung in die Auseinandersetzung brachten Presseartikel von Heribert Prantl („Süddeutsche Zeitung“, 26.6.), Andreas Müller („Stuttgarter Zeitung“, 1. und 14.7.) und „Kontext“ (Stuttgarter Wochenzeitung, 6.7.) Sie konfrontierten Kretschmann damit, die Studie liege nun seit Wochen vor, er brauche keine Aufarbeitung abzuwarten. Sie zitierten auch aus einem Schreiben der baden-württembergischen Gewerkschafts-Vorsitzenden Kai Burmeister (DGB), Monika Stein (GEW) und Martin Gross (ver.di) vom 30.6. an den Ministerpräsidenten: Die Berufsverbote seien laut veröffentlichter Studie nachweislich „Unrecht“; es sei nun „an der Zeit für eine Rehabilitierung und materielle Entschädigung durch die Landesregierung“.

Kretschmanns Antwort vom 1.7. (StZ): „Wir werten die Ergebnisse der Studie derzeit aus. Aufbauend darauf werde ich entscheiden, wie wir weiter mit diesem Thema umgehen.“ Am 14.7. legte er laut der Zeitung „genervt“ und „unwirsch“ nach: „Er habe gerade sehr, sehr große Probleme zu lösen, Stichwort Gaskrise, seine Zeit und die der Ministerien sei begrenzt. Nur weil irgendein Bericht zu einem Thema vorliegt, das seit zehn Jahren ausgewälzt wird, könne er die drängenden Fragen nicht hintanstellen. … Die (Betroffenen) hatten schon lange Geduld. Und jetzt müssen sie sich halt noch mal gedulden.“

Im Forschungsbuch werden beispielhaft 85 Fälle beschrieben, ausführlich oder auch nur erwähnt, einige mit vollem Namen (bei Interviews), andere aus Datenschutzgründen mit abgekürztem Nachnamen. Ein Viertel der 85 Betroffenen stammt aus dem Rhein-Neckar-Raum. Kretschmann fabuliert bis heute von der „Prüfung jedes Einzelfalls“. Das würde, wie leicht auszurechnen ist, bei 1.927 bzw. 3.000 Fällen Jahrzehnte dauern – was die „Stuttgarter Zeitung“ in einer Zwischenüberschrift zurecht so kommentiert: „Setzt das Land auf die ‚biologische Lösung’“? (Online-Ausgabe 13.7.)

Antrag im Gemeinderat Heidelberg mit Aufforderung an die Landesregierung

In Heidelberg, wo es allein an der PH rund 50 Berufsverbote gab, haben sieben Betroffene Mitte Juni auch verschiedene Fraktionen und Einzelmitglieder im Gemeinderat angeschrieben: Mit der Bitte um Unterstützung in Form einer Entschließung und Aufforderung des Gemeinderats an die Landesregierung und den Landtag, den Forderungen nach Rehabilitierung und Entschädigung nachzukommen.

Ein entsprechender Antrag (siehe unten) wurde von Grünen, Die Linke, Bunte Linke, GAL und „Heidelberg in Bewegung“ am 20. Juli in das Gremium eingebracht (zusammen 24 von 49 Stimmen). Die SPD mit sieben Sitzen hat den Antrag als Fraktion nicht mitgetragen, einige Gemeinderäte haben aber erklärt, ihn unterstützen zu wollen. Der Einzelstadtrat von Die Partei hat sich bisher nicht geäußert. Am 8.11. soll der Antrag in der nächsten Sitzung des „Ausschusses für Soziales und Chancengleichheit“ beraten werden, am 10.11. im Gemeinderat.

Nachdem von 2012 bis 2021 vier Landesparlamente Beschlüsse gefasst haben, scheinen nun auch Kretschmann, Regierung und Landtag um eine Entscheidung schwer herum zu kommen. Die Betroffenen-Initiative hat erneut klargestellt: Sie will uneingeschränkte politische Rehabilitierung und Entschädigung. Eine bloße Entschuldigung reicht nicht aus, erst recht nicht „Entschuldigungen nur individuell“ – wie es Kretschmann zuletzt vorschwebte. Es geht um Wiedergutmachung kollektiven Unrechts.

Während die Berufsverbot-Betroffenen bis heute um Rehabilitierung kämpfen, sind nach 50 Jahren inzwischen bereits neue „Radikalenerlasse“ in Arbeit – unter dem Vorwand, gegen Rechte im Öffentlichen Dienst vorgehen zu wollen. Vorreiter ist Brandenburg. Dort liegt bereits ein Gesetzentwurf („Verfassungstreue-Check“) vor. In seiner „Begründung“ ist er in weiten Teilen eine wörtliche Kopie des Schiess-Erlasses von 1973. Die bundesweiten Initiativen konnten durch Veröffentlichungen und Aktionen wie eine Mahnwache am 18.5. vor dem Potsdamer Landtag die Verabschiedung bisher verzögern, aber nicht verhindern. Nach der Sommerpause soll der Entwurf in den Landtag und beschlossen werden. In einer Veranstaltung des DGB Baden-Württemberg am 6. Juli in Stuttgart („Berufsverbote gestern, heute und morgen“) wurde eine Resolution an Landesregierung und Landtag in Brandenburg verabschiedet:

„Die Teilnehmenden wenden sich an die Landesregierung und den Landtag von Brandenburg …, den Gesetzentwurf zum sogenannten ‚Verfassungstreue-Check‘ zurückzuziehen. … Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) hat 1987 festgestellt, dass die Berufsverbote ein Verstoß gegen Kernnormen des Arbeitsrechts waren. Der Entwurf in Brandenburg und die darin enthaltene Regelanfrage beim Inlandsgeheimdienst stellen eine verschärfte Neuauflage des (Radikalen)-Erlasses in Gesetzesform dar und würden damit ebenfalls völkerrechtliche Bestimmungen verletzen. Rechtsextremes und faschistisches Gedankengut sind mit dem Grundgesetz unvereinbar. Um extreme Rechte vom Öffentlichen Dienst fernzuhalten bzw. zu entfernen, reicht die konsequente Anwendung von Strafrecht, Grundgesetz und Disziplinarrecht. Eines neuen ‚Radikalengesetzes‘ bedarf es dazu nicht.“


Forschungs-Studie Uni Heidelberg zum „Radikalenerlass“ (Zitate):

 „Vielmehr war ein unverhältnismäßig großer bürokratischer Aufwand getrieben worden, der sich letztlich vor allem auf die falschen Kandidaten und Kandidatinnen im öffentlichen Dienst richtete  – junge Menschen, die zwar ausgeprägt politisch dachten und handelten, aber im Grunde keine ‚Feinde‘ der Verfassung oder gar der Demokratie waren. So bleibt letzten Endes mit dem Diktum Helmut Schmidts aus dem Jahr 1978 zu konstatieren, dass mit dem Landesregierungsbeschluss über die ‚Pflicht zur Verfassungstreue im öffentlichen Dienst‘ aus dem Jahr 1973 ebenso wie mit dem zuvor verabschiedeten ‚Radikalenerlass‘ mit ‚Kanonen auf Spatzen‘ geschossen wurde. … Die Frage jedoch, ob die Betroffenen ihre Forderungen in naher Zukunft eingelöst wissen können, das zu entscheiden, ist freilich nicht die Aufgabe der Wissenschaft, sondern vor allem eine des politischen Wollens“ (Mirjam Schnorr: „Fazit“ in „Der Schiess-Erlass als Preis der Freiheit“, S. 192/193).

„Die Bundesregierung lehnte die Feststellungen und Empfehlungen des Berichts (der ILO) ab …, sie sehe … keinen Anlass, von ihrer Rechtsposition abzugehen; sie habe jedoch auch darauf verzichtet, den IGH (Internationaler Gerichtshof) anzurufen. … Dass die Bundesregierung in der Folge nicht, wie in solch einem Fall eigentlich vorgesehen, vor den IGH gezogen ist, stellte eine Missachtung der Verfahrensordnung der IAO dar, besonders, nachdem der Verwaltungsrat den Bericht des Untersuchungsausschuss in der Sitzung vom 28. Mai 1987 ohne weitere Diskussion angenommen hatte (S. 286/287). … Die Empfehlungen der ILO, stellen ‚verbindliche Handlungsanweisungen‘ dar, die in nationales Recht umgesetzt werden müssen, und die Praxis der Nichteinstellung in den öffentlichen Dienst war … ‚von Anfang an (ex tunc) als rechtswidrig einzustufen, soweit sie mit der ILO-Konvention Nr.111 im Sinne der Empfehlungen des ILO-Untersuchungsausschusses nicht übereinstimmt“. … Daraufhin wurde die Bundesrepublik Deutschland von der IAO gerügt“ (Leander Michael: „Die Internationale Arbeitsorganisation, IAO“, S.289).

„Weil es sich … im wesentlichen um den Ausdruck politischer Meinungen, nicht um Betätigung gegen die Sicherheit des Staates im Sinne des Artikel 4 des Übereinkommens handelte, waren Einschränkungen von Grundrechten nach Artikel 4 des Übereinkommens Nr. 111 der ILO zu verurteilen (Wilfried Knauer in „Der ‚Radikalenerlass‘ in Niedersachsen 1972 bis 1990 – Möglichkeiten und Grenzen eines Aufarbeitungsprojekts“, S. 475, RN 12).

(Aus „Verfassungsfeinde im Land? Der ‚Radikalenerlass‘ von 1972 in der Geschichte Baden-Württembergs und der Bundesrepublik“, Forschungsprojekt an der Universität Heidelberg zum „Radikalen“- und „Schiess-Erlass“, 2018 bis 2021)

(MH)


A n t r a g N r . : 0081 / 2022 / A N
Gemeinsamer TOP-Antrag der Fraktionen und Gruppierungen B‘90/Die Grünen, DIE LINKE; GAL, Bunte Linke, HiB
Heidelberg, 05.07.2022

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,
für die nächste Sitzung des Gemeinderates stellen wir gemäß § 18 Absatz 3 der Geschäftsordnung des Gemeinderates der Stadt Heidelberg den Antrag, folgenden Tagesordnungspunkt
aufzunehmen:

Entschließung zum sogenannten „Radikalenerlass“ beziehungsweise Berufsverboten

Am 28. Januar 2022 jährte sich zum 50. Mal der sogenannte „Radikalenerlass“. Er wurde 1972 von der Ministerpräsidentenkonferenz unter dem Titel „Grundsätze zur Frage verfassungsfeindlicher Kräfte im Öffentlichen Dienst“ beschlossen. In der Folgezeit wurden etwa 11.000 Berufsverbots- und 2.200 Disziplinarverfahren eingeleitet und offiziell 1.256 Bewerber:innen nicht eingestellt sowie 265 Beamte entlassen. Auch für über 100 Betroffene, die in Heidelberg studiert, gelebt und gearbeitet haben, hatte der Erlass schwerwiegende Folgen.
Im Vorfeld des 50. Jahrestages des Erlasses hat 2021 eine Vielzahl von Persönlichkeiten aus Politik, Gewerkschaften, Wissenschaft und Kultur gemeinsam einen Aufruf unterzeichnet: den
Radikalenerlass generell offiziell aufzuheben, alle Betroffenen vollumfänglich zu rehabilitieren und zu entschädigen und die Folgen der Berufsverbote und ihre Auswirkungen auf die demokratische Kultur wissenschaftlich aufzuarbeiten.

Entschließung:

Der Gemeinderat der Stadt Heidelberg schließt sich dem ausdrücklich an und fordert die baden-württembergische Landesregierung und den Landtag auf, den Forderungen der
Betroffenen nach Rehabilitierung und Entschädigung sowie Aufarbeitung und Entschuldigung nachzukommen.

Begründung:

Der sogenannte „Radikalenerlass“ hat der Demokratie und dem gesellschaftlichen Klima in der Bundesrepublik schweren Schaden zugefügt. Einige Menschen wurden in ihrer Existenz bedroht.
Eine offene, tolerante, demokratische Gesellschaft braucht den uneingeschränkten Erhalt der Grundrechte. Nach nunmehr 50 Jahren ist es an der Zeit, das Kapitel Berufsverbote endgültig
abzuschließen.
Die Praxis der Berufsverbote wurde 1987 von der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO beziehungsweise ILO) und 1995 vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) als
Unrecht verurteilt. Von 2012 bis 2021 haben die Landesparlamente von Bremen, Niedersachsen, Hamburg und Berlin Beschlüsse zur Aufarbeitung gefasst, gegenüber den Betroffenen kollektiv
Entschuldigungen ausgesprochen bzw. Rehabilitierung zugesagt und zum Teil auch Entschädigungen angekündigt.
Ministerpräsident Winfried Kretschmann (in einer ARD-Dokumentation im Januar) und Innenminister Thomas Strobl (in einem Antwortschreiben im Februar auf eine SPD-Landtagsanfrage) haben zuletzt erklärt, den Abschluss eines an der Universität Heidelberg laufenden Forschungsprojekts zum „Radikalen- und Schiess-Erlass“ abwarten zu wollen.
Die Ergebnisse dieser von 2018 bis 2021 mit finanzieller Unterstützung des Wissenschaftsministeriums durchgeführten Studie liegen seit Mai in Buchform vor. Sie bestätigen:
damals wurde politisch „mit Kanonen auf Spatzen geschossen“ (Seite 193). Insbesondere sei auch rechtlich „die Praxis von Anfang an als rechtswidrig einzustufen“, weil sie „mit der ILO-Konvention Nummer 111 nicht übereinstimmt“ (Seite 289). Viele der damals Betroffenen spüren die Auswirkungen der Berufsverbote durch Kürzungen bei ihren Ruhegehältern oder sogar
Altersarmut bis heute. Ihre materiellen Nachteile müssen ausgeglichen werden.

g e z e i c h n e t F r a k t i o n B ü n d n i s 9 0 / D i e G r ü n e n ,
g e z e i c h n e t F r a k t i o n D I E L I N K E ,
g e z e i c h n e t A r b e i t s g e m e i n s c h a ft G A L ,
g e z e i c h n e t B u n t e L i n k e ,
g e z e i c h n e t W a s e e m B u t t , H i B

 




50 Jahre Berufsverbot: Kapitel immer noch offen

50 Jahre »Radikalenerlass«

Betroffene kämpfen für Rehabilitierung, Entschädigung und gegen neue »Radikalen«-Gesetze

Berufsverbot-Betroffene bei einer Protestkundgebung vor der PH Heidelberg am 28.10. 2021

Am 28. Januar 2022 jährte sich der »Radikalenerlass« zum 50. Mal. Ein Jahr zuvor haben Initiativen der von Berufsverbot Betroffenen in Baden-Württemberg, Nieder­sachsen, Bremen, Hamburg, Hessen, NRW, Berlin und Bayern eine Kampagne einge­leitet. Über 80 bekannte Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Politik, Kultur und die Vorsitzenden von DGB, GEW, ver.di und IG Metall haben Ende Januar 2021 als Erstunterzeichner:innen einen Aufruf unterschrieben: generelle und bundesweite Aufhebung des Erlasses, vollständige Rehabilitierung und Entschädigung der Betrof­fenen sowie wissenschaftliche Aufarbeitung der Folgen der Berufsverbote.

Hatten Aktivitäten zum 40. und 45. Jahrestag wenig Beachtung gefunden, war dies anlässlich des 50. »Jubiläums« des Ministerpräsidenten-Beschlusses der Länder unter Vorsitz des damaligen Kanzlers Willy Brandt anders. Auf der Internetseite der Initiativen sind von Oktober bis März mehr als 70 (meist Online-) Veranstaltungen, Ausstellungen, Radio- und Fernsehberichte und über 90 Presseartikel verlinkt: von der ARD-Doku »Jagd auf Verfassungsfeinde« über Berichte in der Süddeutschen Zeitung, Frankfurter Rundschau oder im Spiegel bis zu Aufarbeitungen in allen linksgerichteten Publikationen. Auch Dutzende kleinerer Zeitungen wie Cuxhavener Nachrichten, Harz Kurier, Beueler Extradienst oder seemoz (Bodensee-Magazin) haben ausführlich über den Erlass und die Betroffenen berichtet, zum Teil ganz- bis mehrseitig. Kundgebungen gab es auf Grund der Pandemiebedingungen nur in Heidelberg und Erlangen, mit jeweils rund 100 Teilnehmenden.

Im Zuge des Erlasses von 1972 wurden in den 1970er und 1980er Jahren 3,5 Millionen Bewerber:innen für den Öffentlichen Dienst auf ihre Gesinnung überprüft. Der sich »Ver­fassungsschutz« nennende Inlandsgeheimdienst hatte die Deutungshoheit, wer als »Verfas­sungsfeind«, »Radikaler« oder »Extremist« galt. Nach den bekannten, offiziellen Zahlen gab es bundesweit rund 11.000 Berufsverbots- und etwa 2.200 Disziplinarverfahren sowie 1.256 Ablehnungen von Verbeamtungen und 265 Entlassungen auf Lebenszeit Verbeamteter. Überwiegend traf es Lehrer:innen (rund 70 Prozent), aber auch Briefträger, Lokomotivführer u.a. Betroffen waren Kommunist:innen, Mitglieder der VVN-BdA und anderer linker bis SPD-naher Organisationen und Gewerkschaften. In Bayern traf es auch Sozialdemokrat:innen und in der Friedensbewegung Engagierte.

1973 protestierten 20.000 Teilnehmer:innen in Dortmund bei einer bundesweiten Demon­stration gegen den Radikalenerlass. Auch in den Ländern wurde massenhaft demonstriert, wie in Berlin oder 1976 in Stuttgart mit 6.000 Teilnehmenden. Komitees gegen Berufsverbote gab es in fast allen Universitäts- und größeren Städten. Wenn Betroffene gegen Nichtein­stellungen oder Entlassungen vor Gericht gingen, wurden die Klagen in sieben von zehn Fällen abgelehnt. Eine aus dem Ruder laufende Generation, die Studierendenbewegung und außerparlamentarische Opposition (APO), die in der Tendenz im Kapitalismus nicht das Ende der Geschichte sehen wollte, bekam von den Herrschenden gezeigt, in welchem Rahmen sich oppositionelle Politik zu bewegen hat.

Knapp zwei Jahrzehnte später, nach dem Anschluss der ehemaligen DDR an die BRD, erhielten ab 1990 ein Viertel aller Lehrer:innen und über die Hälfte der Wissenschaftler:innen und Hochschullehrer:innen die Kündigung, meist ohne Begründung. Von den über zwei Mil­lionen Beschäftigten im öffentlichen Dienst der DDR verlor nahezu die Hälfte den Arbeits­platz, war nach der »Abwicklung« oft jahrelang paralysiert. Erst in letzter Zeit haben Betroffene mit der Aufarbeitung dieses zahlenmäßig noch viel größeren, »vergessenen« Kapitels begonnen.

In Baden-Württemberg wird für die 1970er Jahre von 300 bis 400 Berufsverboten aus­gegangen. Viele sind darin aber nicht erfasst, wenn etwa Einstellungen erst Jahre später oder nach langen gerichtlichen Verfahren erfolgt sind. In der Rhein-Neckar-Region haben Betroffene allein 168 Fälle dokumentiert (davon 105 namentlich), was die hohe Dunkelziffer belegt. Rund zwei Drittel der um Heidelberg und Mannheim von lebenslangem oder zeit­weisem Berufsverbot Betroffenen waren Lehrer:innen. 15 Prozent kamen aus dem Justiz-, jeweils sechs Prozent aus dem Klinik- sowie dem Sozial- und Erziehungsbereich. Bei angehenden Rechtsanwält:innen aus dem Umfeld des damaligen Sozialistischen Büros (SB), des KBW oder der DKP wurde auf Grund politischer Aktivitäten vor allem die erforderliche Referendarausbildung verschleppt. Linke Lehrer:innen verzichteten in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre oft auf Bewerbungen, weil sie diese für aussichtslos hielten.

Als Begründung der Ablehnungen wurden überwiegend Kandidaturen für kommunistische und andere linke Organisationen genannt, vor allem bei Hochschulwahlen. Auch Teilnahme an Demonstrationen gegen Kriege oder Fahrpreiserhöhungen dienten als Grund. Im Fall des Autors reichte 1975 die Unterschrift unter eine Erklärung an der Pädagogischen Hochschule (PH) Heidelberg gegen den sogenannten Schiess-Erlass (baden-württembergische Variante des Radikalenerlasses; nach dem damaligen Landesinnenminister Karl Schiess, Anm. d. Red.), in der dieser als »Erpressung« bezeichnet wurde. Von dort wurden allein rund 50 Lehrer:innen nicht in den Schuldienst übernommen. Zwei von ihnen haben danach Medizin studiert und als Ärzte gearbeitet, vier sind Metaller geworden, die in den Betrieben auch in die Betriebsräte gewählt wurden. Dem bundesweiten Zahlenverhältnis vergleichbar stehen den 168 Berufsverboten für Linke im Rhein-Neckar-Raum nur zwei Disziplinarverfahren gegen extrem Rechte bzw. Nazis gegenüber (1,2 Prozent).

Braune Wurzeln im Beamtenrecht

Die Grundlagen der Berufsverbote liegen im deutschen Beamtenrecht. Danach darf im Staatsdienst nur beschäftigt werden, wer die sog. »Gewährbieteklausel« erfüllt, »jederzeit für die freiheitlich demokratische Grundordnung einzutreten« – wobei die Beweislast bei den Beschäftigten liegt. Die Formulierung ist fast wörtlich aus dem »Gesetz zur Wiederher­stellung des Berufsbeamtentums« vom 7.April 1933 übernommen. Bei den Nazis hieß es, Staatsdiener müssen »die Gewähr bieten, jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat einzutreten«. International ist die Rolle der Beamt:innen im deutschen Staat, ohne Streikrecht und mit eingeschränkter Meinungs- und Organisationsfreiheit, ziemlich einzigartig. Nicht umsonst haben »le berufsverbot« und »the berufsverbot« als Fremdworte Eingang in französische und englische Wörterbücher gefunden.

Überwiegend wurden Ablehnungen mit ausführlichen Zitaten aus einem Grundsatz­beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 22. Mai 1975 begründet, auch beim Autor. Maßgeblich wurde der Beschluss von Dr. Willi Geiger verfasst (NSDAP-Mitglied, SA- »Rottenführer« und als Ankläger verantwortlich für fünf Todesurteile). Er legte fest: »Die politische Treuepflicht erfordert mehr als nur eine formal korrekte, im Übrigen uninteres­sierte, kühle, innerlich distanzierte Haltung gegenüber Staat und Verfassung.«

Verstoß gegen ILO-Übereinkommen Nr. 111

Bei der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) mit Sitz in Genf gingen nach Inkrafttreten des Radikalenerlasses ab 1975 Hinweise auf Diskriminierungen im Öffentlichen Dienst der BRD ein. Anhand von 70 als Beweismittel übermittelten Einzelfällen richtete die ILO 1985 einen »Untersuchungsausschuss zum Ausschluss politisch ›Radikaler‹ aus dem Öffentlichen Dienst« ein. Geprüft wurde, ob die Praxis mit den Bestimmungen des von der BRD 1961 ratifizierten »Übereinkommens Nr. 111 über die Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf« in Einklang stand.

Der frühere ILO-Koordinator für Menschenrechtsfragen Klaus Samson hat zum Unter­suchungsausschuss einen 22-seitigen Bericht verfasst (veröffentlicht 2004). Zusammengefasst heißt es darin: »Obwohl der Begriff ›Verfassungsfeindlichkeit‹ weder im Grundgesetz noch in sonstigen Gesetzen vorkommt, (…) diente er als Grundlage für die Einschränkung von Grundrechten (…) wie Meinungs- und Vereinigungsfreiheit (…) Der Ausschuss kam zu dem Ergebnis, dass die getroffenen Maßnahmen zur Gewährleistung der Treue zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung in mehrfacher Hinsicht nicht im Rahmen (…) des Übereinkommens Nr. 111« erfolgt sind. Infolgedessen habe »eine erhebliche Anzahl beamteter Personen durch Verlust des Arbeitsplatzes (und) verweigerte Einstellung (…) Nachteile erlitten«. Die BRD wurde vom Ausschuss aufgefordert, »die Einhaltung des Übereinkommens Nr. 111 zu gewährleisten«.

Die Bundesregierung schrieb der ILO 1987, sie sei mit dem Ergebnis nicht einverstanden, brachte aber gleichzeitig zum Ausdruck, sie beabsichtige nicht, die Angelegenheit dem Internationalen Gerichtshof vorzulegen. Da keine Beschwerde eingereicht wurde, haben die »Schlussfolgerungen und Empfehlungen des Untersuchungsausschusses« gemäß ILO-Richt­linien und Bundesgesetzblatt II (Völkerrecht) eindeutig »rechtlich bindenden Charakter«.

Seit 2012 Beschlüsse von vier Landesparlamenten

Der Bremer Senat hat 2012 einstimmig beschlossen, den »Radikalenerlass« vollständig auf­zuheben und die Betroffenen zu rehabilitieren. 2016 sprach der Landtag von Niedersachsen eine »Entschuldigung und ausdrückliches Bedauern« aus. Zur »Aufarbeitung der Schicksale im Zusammenhang mit dem Radikalenerlass« wurde eine Kommission eingerichtet, die ein Jahr später einen Bericht vorgelegt hat. Auch die Hamburger Bürgerschaft brachte 2018 ihr »ausdrückliches Bedauern« zum Ausdruck und sprach »den aus heutiger Sicht zu Unrecht Betroffenen ihren Respekt und ihre Anerkennung« aus. »Bedauern« ausgesprochen hat im September 2021 auch das Abgeordnetenhauses Berlin und erklärt: »Die auf der Grundlage des Radikalenerlasses erteilten Berufsverbote und deren Folgen sollen für die Betroffenen wissen­schaftlich aufgearbeitet werden.«

In den Landtag von NRW ist seit November 2021 ein Antrag von Grünen und SPD einge­bracht: Der Landtag solle bedauern, »dass diese Praxis bei den zu Unrecht Betroffenen zu Leid und persönlichen Nachteilen geführt hat. Er beauftragt die Landesregierung, innerhalb eines Jahres Vorschläge für eine eventuelle rechtliche Rehabilitierung und eine eventuelle finanzielle Entschädigung der Betroffenen zu unterbreiten.«

In Baden-Württemberg hat 2015 ein »Runder Tisch« von Landtagsabgeordneten und Betroffenen getagt. Ein fertig formulierter Antrag wurde aber auf Betreiben von Minister­präsident Kretschmann (als ehemaliger KBW´ler zeitweise selbst von Berufsverbot betroffen) im Landtag nicht eingebracht. Seit 2018 läuft an der Uni Heidelberg mit Unterstützung des Wissenschaftsministeriums ein Forschungsprojekt zur Aufarbeitung des »Radikalenerlasses«. Ergebnisse sollen Ende Mai in Buchform auf 640 Seiten veröffentlicht werden. In Hessen sind 2017 und im Februar 2022 entsprechende Entschließungsanträge der Linken und der SPD von der CDU/Grünen-Mehrheit abgelehnt worden.

Neue »Radikalen«-Gesetze in Arbeit

Während die Berufsverbots-Betroffenen der 1970er und 1980er Jahre bis heute um Rehabi­litierung und Entschädigung kämpfen, hat die »Ampel«-Regierung im Koalitionsvertrag von Dezember in bester »Extremismustheorie«-Manier angekündigt: »Um die Integrität des Öffentlichen Dienstes sicherzustellen, werden wir dafür sorgen, dass Verfassungsfeinde schneller als bisher aus dem Dienst entfernt werden können. (…) Wir treten allen verfas­sungsfeindlichen, gewaltbereiten Bestrebungen entschieden entgegen – ob Rechtsextre­mismus, Islamismus, Verschwörungsideologen, Linksextremismus oder jeder anderen Form des Extremismus.« Die Landesregierungen in Berlin (SPD/Grüne/Linke) und Mecklenburg-Vorpommern (SPD/Linke) haben in ihren Koalitionsverträgen nachgezogen (siehe express
2-3/2022, S. 16f.).

In Brandenburg (SPD/CDU/Grüne-Regierung) liegt bereits ein Entwurf eines Gesetzes für den gesamten Öffentlichen Dienst vor (statt »nur« ein Erlass), inklusive Regelanfrage beim »Verfassungsschutz«. Noch im ersten Halbjahr soll er verabschiedet werden. Alle Vorhaben sollen selbstverständlich unter dem Vorwand »gegen rechts« erfolgen – wobei völlig klar ist, dass für den für die Überprüfung zuständigen Inlandsgeheimdienst der Feind links steht. Die bundesweiten Initiativen fordern daher neben Aufhebung des Erlasses, Rehabilitierung, Ent­schädigung und Aufarbeitung, dass auch die Pläne für neue »Radikalen«-Gesetze wieder vom Tisch müssen. Wenn man ernsthaft gegen rechte Netzwerke im Öffentlichen Dienst vorgehen wolle, sei dies mit konsequenter Anwendung von Disziplinarrecht, Strafgesetzen und Grundgesetz möglich. Was den sog. »Verfassungsschutz« angehe, sei die Forderung demo­kratischer Jurist:innen nach dessen Auflösung das einzig Richtige.

Anfrage im Bundestag – Antwort der Regierung

Die Fraktion Die Linke hat im Bundestag im Januar eine Anfrage zum »Radikalenerlass« gestellt. Die Antwort der Bundesregierung vom 22. Januar 2022 ist an Hohn und Zynismus kaum zu überbieten: Sie habe bereits 2017 darauf verwiesen, dass der Ministerpräsidenten­beschluss durch den grundlegenden Beschluss des Bundesverfassungsgerichts von 1975 »überholt« sei. (Deutscher Bundestag, Drucksache 20/453) Statistische Betroffenen-Zahlen lägen der Regierung nicht vor. Ermittlungen seien »aufgrund der Vielzahl der Akten und der Notwendigkeit, diese einzeln zu sichten, nicht zumutbar«. »Schon aufgrund datenschutz-, personalakten- und archivrechtlicher Vernichtungs- und Löschungssfristen« sei dies nicht mög­lich. Die »Verfahrenspraxis im Bereich der Länder und Kommunen« liege »außerhalb des Verantwortungsbereichs des Bundes«. Und: »Eine eigene wissenschaftliche und historische Untersuchung des Beschlusses von 1972 ist nicht Bestandteil des Koalitionsvertrags.« Weitere politische Schritte zur politischen und gesellschaftlichen Rehabilitierung der Be­troffenen plane die Regierung nicht. Sie habe schon 2017 auf die »Möglichkeit der Betroffenen zur Geltendmachung von Amtshaftungsansprüchen gegenüber der zuständigen Körperschaft« verwiesen. Zu ihrer Ankündigung, »Verfassungsfeinde schneller aus dem Öffentlichen Dienst zu entfernen«, behauptet die »Ampel« abschließend: »Die Frage konstruiert einen weder bestehenden noch beabsichtigten Zusammenhang aktueller politischer Vorhaben mit dem gegenstandlosen Beschluss von 1972.« (Bundestag, Drucksache 20/453)

Unterstützung durch Gewerkschaften

Die Gewerkschaften hatten in den 1970er Jahren Berufsverbote durch Unvereinbarkeits­beschlüsse noch befeuert (vgl. die Rubrik revisited in dieser Ausgabe). Jahrzehnte später haben sie sich dafür wenigstens entschuldigt und wieder aufgenommene Mitglieder rückwirkend und zukünftig beitragsfrei gestellt. Seit 2012 unterstützen DGB, GEW, ver.di und IG Metall die Berufsverbot-Betroffenen solidarisch und durch Gewerkschaftstagsbeschlüsse.

Während Entschuldigung, Aufarbeitung und teilweise »Rehabilitierungs«-Ankündigung in den oben genannten vier Parlaments-Beschlüssen enthalten sind, gilt dies für Entschädi­gungen nicht. Nur in Bremen gab es Einzelfälle, bei denen geminderte Renten durch Anhe­bung von Rentenpunkten erhöht wurden. Darüber hinaus bekamen nur zwei Betroffene Schadensersatz, Dorothea Vogt aus Hannover (1995 nach einem Grundsatzurteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Strasbourg) und Michael Csaszkóczy (Heidelberg). Letzterer war in einer Art »Nachzügler«-Fall« auf Grund seines antifaschis­tischen Engagements ab 2004 vier Jahre mit Berufsverbot belegt. Der Verwaltungsgerichtshof Mannheim hob die Nichteinstellung des Lehrers rechtskräftig als grundrechtswidrig und Verstoß gegen die Meinungs- und Vereinigungsfreiheit auf.

Der DGB hat in Niedersachsen 2014 im Rahmen der dortigen Anhörungen im Landtag zur Frage der Entschädigung folgende Forderungen erhoben: Prüfung von Renten-Nachversiche­rungsmöglichkeiten, finanzieller Ausgleich für Rentner:innen mit unwiderruflichem Bescheid durch einen vom Land finanzierten Fonds und Einrichtung eines Beirats aus Betroffenen, Land und Gewerkschaften. In Baden-Württemberg hat die Initiativgruppe im Rahmen des erwähnten »Runden Tisches« den Landtagsabgeordneten 27 Fälle von Altersarmut infolge des Berufsverbots übergeben. Zum Teil liegen Renten unter 600 Euro, was gegenüber der sogenannten Standardrente einen Rentenverlust von insgesamt rund 150.000 Euro bedeutet.

Die DGB-Landesbezirkskonferenz hat am 29. Januar 2022 in Stuttgart die Forderungen nach Rehabilitierung und Entschädigung bekräftigt. In dem Beschluss sprechen sich die Delegierten auch für ein »demokratie-orientiertes Berufsbeamtentum« aus: »Der DGB setzt sich (…) für eine demokratische Grundhaltung der Beamtinnen und Beamten ein. Rechtsextremistisches und faschistisches Gedankengut sind nicht mit den Grundwerten des öffentlichen Dienstes und des Berufsbeamtentums vereinbar. Um jegliche Unterwanderung (…) aus diesen Kreisen zu verhindern, braucht es transparente Verfahren.« Falsche Gleich­setzungen von Rechtsextremismus und fortschrittlichen, linken Menschen und Bewegungen werden im Gegensatz zum Parteien-Mainstream nicht vorgenommen.

Aktivitäten gehen weiter

Geplante zentrale Veranstaltungen in Berlin mussten Ende Januar auf Grund der Pandemie verlegt werden. Eine Aktionskonferenz mit Podiumsdiskussion, Termine mit Abgeordneten, Übergabe von Unterschriften und Ausstellungen sind nun in der Woche ab dem 17. Mai 2022 geplant. Die GEW Berlin hat nach dem Beschluss des Abgeordnetenhauses erklärt, sie werde weiter darauf dringen, dass es zur vollständigen Rehabilitierung und einer Entschädigung im Einzelfall gegenüber den Betroffenen komme. Das unrühmliche Jubiläumsjahr 2022 solle verstärkt genutzt werden, um »im Bündnis mit anderen demokratischen Kräften gegen Demokratieabbau, Überwachung und Bespitzelung zu agieren«.

Das Studierendenparlament der PH Heidelberg hat bereits 2017 in einer Entschließung an den Landtag die Forderungen der Betroffenen unterstützt. Im November 2021 stand dies erneut auf der Tagesordnung, im kommenden Semester ist unter anderem eine Veranstaltung geplant. Auch der Rektor hat am 50. Jahrestag in der Rhein-Neckar-Zeitung erklärt: »Als besonders empörend wurde der Widerspruch empfunden, dass es einerseits die Praxis der Berufsverbote gab, aber noch wenige Jahre zuvor mit ehemaligen Nationalsozialisten anders umgegangen wurde.« Im Frühsommer könnte auch Kretschmann um eine konkrete Stellung­nahme schwer herumkommen. Im ARD-Film »Jagd auf Verfassungsfeinde« im Januar 2022 hat er sich immerhin gegen neue »Radikalenerlasse« ausgesprochen. Ansonsten werde er, wie er kürzlich auch in der Antwort auf eine Anfrage der SPD-Landtagsfraktion mitteilen ließ, den Forschungsbericht der Uni Heidelberg abwarten. Grundsätzlich habe er vor, es »im Fall von Unrecht« bei »individuellen Entschuldigungen« zu belassen. Die baden-württember­gische Initiativgruppe hat ihm daraufhin Ende Februar ein dreiseitiges Schreiben geschickt, mit dem Bericht von Klaus Samson von 2004 und weiteren 170 Seiten ILO-Belegen als Anlagen: Unrecht ist allen Betroffenen geschehen, Rehabilitierung muss es für alle geben!

 

Martin Hornung

* Martin Hornung lebt in Eppelheim, war bis zur Rente in Heidelberg Betriebsrat und Metaller.
Als 1975 Betroffener ist er in der baden-württembergischen Initiativgruppe gegen Radikalenerlass und Berufsverbote aktiv.(Weitere Hinweise und Dokumente auf www.berufsverbote.de)

zuerst veröffentlicht in: Express – Monatszeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit 4/2022

(mit freundlicher Genehmigung von express veröffentlicht – KIM)

 




Ampel-Koalitionsvertrag: „Radikalenerlass“ geplant

„Ampel“ plant neuen Radikalenerlass

Am 28.10.2021, drei Monate vor dem 50. Jahrestag des sogenannten Radikalenerlasses, hat vor der PH Heidelberg eine Kundgebung mit knapp 100 Teilnehmenden stattgefunden. 16 Betroffene aus der Rhein-Neckar-Region haben sich vor dem Eingang versammelt, hinter dem Transparent: „Aufarbeitung, Entschuldigung, Rehabilitierung, Entschädigung!“

Die Grünen hatten schriftlich eine Unterstützung der Kundgebung abgelehnt. In einem Redebeitrag wurde eingangs gegen die Ankündigung im „Sondierungspapier“ der künftigen „Ampel“-Regierung protestiert: Man werde „entschlossen gegen jede Form der Menschenfeindlichkeit“ vorgehen, wozu auch der „Linksextremismus“ zähle – im gleichen Atemzug genannt mit „Rechtsextremismus“, „Rassismus“ oder Queer-Feindlichkeit“ – nach dem Motto „Links gleich rechts“.

Der Skandal, Linke mit Rassisten und Nazis gleichzusetzen, ist nun auch im Koalitionsvertrag zu finden, verbunden mit der gleichzeitigen, ausdrücklichen Ankündigung einer Neuauflage des Radikalenerlasses.

Der Bundesausschuss der Initiativen gegen Radikalenerlass und Berufsverbote hat dazu am 26.11. folgende Presseerklärung herausgegeben:

 Wir, Betroffene der Berufsverbotspolitik in der Folge des Radikalenerlasses von 1972, haben mit Entsetzen zur Kenntnis genommen, dass im Koalitionsvertrag der neuen Ampelkoalition Passagen enthalten sind, die eine Wiederbelebung eben dieser Berufsverbotepolitik befürchten lassen.

So heißt es gleich zu Beginn des Koalitionspapiers wörtlich: „Um die Integrität des Öffentlichen Dienstes sicherzustellen, werden wir dafür sorgen, dass Verfassungsfeinde schneller als bisher aus dem Dienst entfernt werden können.“ Und später wird unter der Rubrik ‚Innere Sicherheit‘ präzisiert: „Die in anderen Bereichen bewährte Sicherheitsüberprüfung von Bewerberinnen und Bewerbern weiten wir aus und stärken so die Resilienz der Sicherheitsbehörden gegen demokratiefeindliche Einflüsse.“

Es wird ehrlicherweise nicht einmal der Versuch unternommen, diese Maßnahme mit den tatsächlich bedrohlichen rechten Unterwanderungsversuchen von Polizei und Bundeswehr zu begründen. Stattdessen werden in plumpster extremismustheoretischer Manier „Rechtsextremismus, Islamismus, Verschwörungsideologien und Linksextremismus“ gleichgesetzt.

Den Nachrichtendiensten – damit auch dem sogenannten „Verfassungsschutz“ spricht die neue Regierung allen rechten Skandalen zum Trotz ihr vollstes Vertrauen aus.

Aus eigener bitterer Erfahrung wissen wir, dass eine solche Politik allein den Rechten in die Hände spielt.

Im Februar 2022 jährt sich der unter Bundeskanzler Willy Brandt verabschiedete Radikalenerlass. Er hat nicht nur Tausende von Linken diffamiert, ausgegrenzt und ihre Lebensperspektiven zerstört, sondern vor allem die gerade erst im Wachsen begriffene demokratische Kultur dieses Landes schwer beschädigt. Rechte blieben von der damaligen Hexenjagd so gut wie vollständig verschont.

Wir sind fassungslos und schockiert, dass die neue Bundesregierung nicht nur weiter die Augen vor diesem jahrzehntelangen staatlichen Unrecht verschließt, sondern sich anschickt, dieselben Fehler zu wiederholen.

Wie damals wird der rechtlich völlig unbestimmte Begriff „Verfassungsfeind“ verwendet. Ausgerechnet der tief in die rechte Szene verstrickte Inlandsgeheimdienst soll vorschlagen dürfen, wer als „Verfassungsfeind“ angesehen und entsprechend behandelt werden soll. Dies kommt einem Suizid der Demokratie und des Rechtsstaates gleich.

Anlässlich des 50. Jahrestages des Radikalenerlasses fordern wir nicht nur die Rehabilitierung und Entschädigung der Betroffenen, wir wenden uns auch entschieden dagegen, erneut die Prüfung politischer Gesinnungen anstatt konkreter Handlungen zur Einstellungsvoraussetzung im Öffentlichen Dienst zu machen. Grundgesetz und Strafrecht würden schon heute vollkommen ausreichen, rechte Netzwerke in Polizei, Militär und Justiz zu bekämpfen. Bedauerlicherweise wird davon nur sehr selten Gebrauch gemacht. Der Kampf gegen rechte Demokratiefeinde bleibt in erster Linie eine gesellschaftliche Aufgabe.

Klaus Lipps für den Bundesarbeitsausschuss der Initiativen gegen Berufsverbote und für die Verteidigung der demokratischen Grundrechte




50 Jahre Radikalenerlass: Kundgebung vor der Alten PH, Keplerstraße 87 in Heidelberg, 28.10.2021, 16.30 Uhr

Betroffene rehabilitieren!
Gesetzliche Grundlagen aus den Beamtengesetzen streichen!
Kein neuer Radikalenerlass!

Am 28. Januar 1972 verabschiedeten die Ministerpräsidenten der Länder unter Vorsitz von Willy Brandt den „Extremistenbeschluss“ oder sogenannten Radikalenerlass. Grundlage bildete die aus der Nazizeit übernommene „Gewährbieteklausel“ in den deutschen Beamtengesetzen, die beim bloßen Verdacht einer „falschen Gesinnung“ die Entfernung aus dem Öffentlichen Dienst ermöglichte.

In den folgenden Jahren wurden ca. 3,5 Millionen Bewerber*innen für Berufe im öffentlichen Dienst überprüft. Der Verfassungsschutz erhielt den Auftrag zu entscheiden, wer als „Radikaler“, als „Extremist“ oder als „Verfassungsfeind“ zu gelten hatte. Personen, die „nicht die Gewähr bieten, jederzeit für die freiheitlich-demokratische Grundordnung einzutreten“, wurden erst gar nicht eingestellt oder aus dem öffentlichen Dienst entfernt.

Die Überprüfungen führten bundesweit zu etwa 11.000 Berufsverbotsverfahren, 2.200 Disziplinarverfahren, 1.256 Ablehnungen von Bewerbungen und 265 Entlassungen. Betroffen waren Kommunist*innen, andere Linke bis hin zu SPD-nahen Studierendenverbänden, der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes VVN-BdA und Gewerkschafter*innen.

Mitglieder und Sympathisant*innen rechter Parteien und Gruppierungen wurden dagegen im öffentlichen Dienst geduldet und bei Bewerbungen fast nie abgelehnt. Baden-Württemberg bildete eine besonders unrühmliches Zentrum der Berufsverbote.

„Berufsverbote-Hochburg“ war die Pädagogische Hochschule (PH) Heidelberg. Bei den meisten der dort rund 50 abgelehnten Lehrerinnen und Lehrer erfolgte dies mit der Begründung „Kandidatur für linke Hochschulgruppen“; aber auch Teilnahme an einer Demonstration gegen Fahrpreiserhöhungen oder wie bei Hornung die bloße Unterschrift unter eine Protesterklärung gegen den „Schieß-Erlass“ – der baden-württembergischen Variante des Ministerpräsidentenerlasses von 1972, benannt nach dem damaligen CDU-Innenminister Karl Schieß, unter den Nazis als „Hakenkreuz-Karle“ bekannt.

Der Radikalenerlass war der Auftakt für eine beispiellose Hetzjagd gegen Linke. Ungezählte berufliche und private Biographien wurden zerstört und ein Klima der Einschüchterung und des Duckmäusertums verbreitet.

Heute, 50 Jahre später, warten die Betroffenen noch immer vergeblich auf eine Rehabilitierung. Die gesetzlichen Grundlagen für Berufsverbote bestehen nach wie vor fort.

Deshalb fordern wir:

  • Die Baden-württembergische Regierung muss sich für das begangene Unrecht entschuldigen und die Betroffenen endlich rehabilitieren und entschädigen!
  • Jedem Versuch, einen neuen Radikalenerlass zu etablieren – auch unter dem durchsichtigen Vorwand, diesmal gegen Rechts vorgehen zu wollen – ist eine klare Absage zu erteilen.
  • Die gesetzlichen Grundlagen für Gesinnungsschnüffelei und politische Repression müssen aus den Beamtengesetzen gestrichen werden!

Dieser Aufruf wurde im Januar 2021 u. a. von folgenden ErstunterzeichnerInnen initiiert:

Esther Bejarano, Auschwitzüberlebende und Ehrenvorsitzende der VVN/ BdA

Alfred Grosser, Publizist und Soziologe; Gregor Gysi, Politiker, Reiner Hoffmann, DGBVorsitzender; Jörg Hofmann, 1. Vorsitzender IG Metall; Beate Klarsfeld, Publizistin; Volker; Pispers, Kabarettist; Bodo Ramelow, Politiker; Marlis Tepe, GEW-Vorsitzende, Max Uthoff, Kabarettist; Hannes Wader, Liedermacher.

MH, Komitee gegen Berufsverbote Heidelberg

 




Zum Stand der Rehabilitierung und Entschädigung von Betroffenen der Berufsverbote

Bei der Aufarbeitung der Berufsverbote in Baden-Württemberg (Kommunal-Info Mannheim berichtete 2015) scheint es inzwischen voranzugehen, nach Meinung der Initiativgruppe „40 Jahre Radikalenerlass“ allerdings viel zu langsam. Letztere fordert seit 2012 eine Entschuldigung bei den Betroffenen und ihren Familien für das erlittene Unrecht, eine Rehabilitierung und in besonderen Fällen materielle Entschädigung. Ein mit zwei Grünen- und einer SPD-Landtagsabgeordneten besetzter „Runder Tisch“ tagte erstmals am 19. Juni 2015 mit Betroffenen. Nach einer Pause von viereinhalb Monaten, laut den Abgeordneten aufgrund „Arbeitsüberlastung durch die Flüchtlinge“, traf man sich Ende Oktober und eine Woche vor Weihnachten wieder.

Grundlage der Berufsverbote war der sogenannte „Radikalenerlass“ von 1972. Tausende Betroffene, hauptsächlich politisch links stehende Lehrer, mussten damals erfahren, was es heißt, von der bundesdeutschen „streitbaren Demokratie“ die Standbeine ihrer Existenz weggezogen zu bekommen. Als Gründe galten bereits die Anmeldung für einen genehmigten Infostand gegen die damalige faschistische Diktatur in Chile oder die bloße Bezeichnung des „Radikalenerlasses“ als „Erpressung“. Viele Betroffene haben die Maßnahmen selbst nicht aufgearbeitet, sind gelähmt und traumatisiert oder haben sich mit ihrem Schicksal abgefunden. Andere waren verbittert, haben nun aber Hoffnung, dass doch eine gewisse Gerechtigkeit hergestellt werden kann.

Einen der Hauptverantwortlichen für Widerstände im letzten Jahr gegen die politische Aufarbeitung sieht die Initiativgruppe im baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann. Sie wirft ihm „Verschleppung“ und „Aussitzen“ vor. Obwohl in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre kurzzeitig selbst betroffen, äußerte dieser im Frühjahr 2015 zumindest Verständnis für die Berufsverbotsmaßnahmen. Briefe Betroffener von Januar und Februar ließ er erst kürzlich, zwei Tage vor Weihnachten von seinem Staatsministerium beantworten: Es bedürfte einer „konkreten Auseinandersetzung mit den einzelnen Sachverhalten. Aus diesem Grund kann es auch keine allgemeine Rehabilitierung aller Betroffenen geben.“

Während die Abgeordneten im „Runden Tisch“ Ende Oktober trotz vorhandener Skepsis eine politische Erklärung des Landtags noch in dieser Legislaturperiode und in bestimmten Fällen eine Entschädigung für vorstellbar hielten, spricht Kretschmann von „weiteren Handlungsoptionen“ nur in der Zukunft und pocht erst mal auf eine „wissenschaftliche Aufarbeitung“. Die möchte die Initiative auch, aber „nicht 2030 für unsere Grabsteine“, wie sie feststellt, sondern unabhängig von der heute notwendigen politischen Rehabilitierung. Denn ein Teil der Betroffenen ist über 70, der älteste schon 80. Zehn sind mittlerweile bereits verstorben.

In Heidelberg waren 1974/75 vier Lehrer infolge Berufsverbot gezwungen, in Metallbetriebe zu wechseln. Später wurden sie in den Betriebsrat gewählt und waren als gewerkschaftliche Interessenvertreter aktiv. Inzwischen sind sie in Rente. Einer der vier erhielt 2012 einen Rentenbescheid von 583 Euro. Da der Betrieb 1996 geschlossen worden war und er danach durchgehend prekäre Jobs, Arbeitslosigkeit und Hartz IV hinnehmen musste, macht er deshalb unter Bezugnahme auf die sogenannte Standardrente eine monatliche Aufzahlung von 748 Euro geltend.

In Niedersachsen hat der Landtag bereits 2014 mit den Stimmen aller Fraktionen einen Beschluss zur Aufarbeitung der Berufsverbote gefasst. Dort hat der DGB die Forderung eingereicht, betroffenen „Rentnerinnen und Rentnern, deren Renten unwiderruflich beschieden sind, über eine Fondslösung einen finanziellen Ausgleich zu ermöglichen“. In Bremen, wo der Radikalenerlass 2012 ebenfalls vollständig abgeschafft wurde, erhielt eine Lehrerin für entstandenen Gehaltsausfall während des Berufsverbots bereits nachträglich Rentenpunkte angerechnet. Der Heidelberger Realschullehrer Michael Csaszkóczy musste 2007 gemäß Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Mannheim nach vier Jahren in den Schuldienst eingestellt werden und erhielt 33 000 Euro Schadensersatz für die Jahre seines Berufsverbots zugesprochen.

Zur Unterstützung der Berufsverbote-Betroffenen verabschiedete im Oktober 2015 auch der Gewerkschaftstag der IG Metall in Frankfurt auf Antrag der Geschäftsstellen Heidelberg und Frankfurt einstimmig einen Beschluss, in dem Rehabilitierung und bei Altersarmut Entschädigung der Berufsverbote-Betroffenen gefordert wird. Die Antragsberatungskommission hatte ihre Empfehlung Annahme des „etwas außergewöhnlichen Antrags“ so begründet: „Wir wollen damit ein Signal geben, damit dieser unselige Radikalenerlass endgültig gestrichen wird, damit er sozusagen als Drohpotenzial endlich aus der Welt kommt.“ Auf der jährlichen bundesweiten Berufsverbote-Konferenz in Hannover kurz darauf löste die Nachricht von dem Beschluss große Begeisterung aus. Auch der ver.di-Bundeskongress hatte im September 2015 in Leipzig beschlossen: „ver.di setzt sich für eine umfassende Rehabilitierung und Entschädigung der Betroffenen der Berufsverbote ein.“ Von DGB und GEW werden die Betroffenen schon länger unterstützt.

Ende November 2015 wandte sich die Initiativgruppe in einem Brief erneut an alle Landtags-Abgeordneten von Grünen, SPD und FDP und forderte nochmals Unterstützung ihrer Forderungen. Beim „Runden Tisch“ vor Weihnachten übergab sie neben einem Exposé für die wissenschaftliche Aufarbeitung und Vollmachten für Akteneinsicht auch eine Liste mit 25 Betroffenen, die aus ihrer Sicht für eine Entschädigung aufgrund Altersarmut in Betracht kommen. Ende Oktober hatte die Initiative zuvor folgenden Entwurf für einen Beschluss des Landtages bzw. der Landesregierung überreicht:

Die Landesregierung / der Landtag von Baden-Württemberg stellt fest, dass die in der Folge des Radikalenerlasses in Baden-Württemberg verhängten Berufs- und Ausbildungsverbotsmaßnahmen im Öffentlichen Dienst nicht nur ein politischer Fehler waren. Sie haben – wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte 1995 festgestellt hat – Grundrechte verletzt und der Demokratie in unserem Land schweren Schaden zugefügt. Wir bitten die Betroffenen und ihre Familien um Verzeihung für das politische, persönliche und materielle Unrecht, das ihnen zugefügt wurde. Es wird eine Stelle eingerichtet, an die Betroffene sich wenden können, um ihre Entschädigungsansprüche prüfen zu lassen. Für die Abgeltung solcher Ansprüche wird ein Fonds eingerichtet.

Der Abgeordnete der Grünen beim „Runden Tisch“ erklärte dazu beim letzten Treffen, er wolle bis Anfang Januar eine überarbeitete, erweiterte Fassung vorlegen. Mitte Januar finden Klausurtagungen der Fraktionen statt, die letzte Landtagssitzung vor den Wahlen Mitte März ist auf 17. Februar 2016 terminiert. Die Initiative kämpft trotz aller Bremsversuche weiter dafür, dass ein entsprechender Beschluss des Landtags verabschiedet wird. Von Grünen und SPD im Land erwarten sie, sich an den Beschlüssen in Niedersachsen und Bremen ein Beispiel zu nehmen.




„Was die Gesinnungsschnüffelei für die Familien der Betroffenen bedeutete, wurde uns bewusst“

Die Initiative vom Radikalenerlass Betroffener kommt auch in Baden-Württemberg voran: 13 der rund 500 im Land waren am 19. Juni von den Regierungs-Fraktionen (vertreten durch zwei Grünen- und eine SPD-Abgeordnete) zu einem ersten „Runden Tisch“ zur Aufarbeitung der Berufsverbote in den Landtag eingeladen. Das nächste Treffen ist im September.

mho – Die 13 Betroffenen aus 10 Städten konnten alle ihre persönlichen Schicksale vortragen. Mit dreieinhalb Stunden dauerte der Termin fast doppelt so lang wie geplant. Presse und SWR-Fernsehen berichteten. In der Region hat die Rhein-Neckar-Zeitung (RNZ) am 18.6. auf über einer halben Seite den Fall Martin Hornung dargestellt (später Metaller und Betriebsratsvorsitzender bei Haldex/Graubremse in Heidelberg). Grund seines Berufsverbots: Er hatte 1975 den baden-württembergischen Schiess-Erlass öffentlich als „Erpressung“ bezeichnet. Auch die abgelehnten Lehrer Reinhard Gebhard, Wolfgang Mohl und Harald Stierle waren später als Metaller bei Kraftanlagen/ARB, Stieber und Furukawa/Harvester in Heidelberg in den Betriebsrat gewählt worden.

Laut Bundesregierung hat es seit dem Ministerpräsidentenerlass 1972 unter Kanzler Brandt bundesweit rund 11 000 Berufsverbots- und 2 200 Disziplinarverfahren, 1250 Ablehnungen und 265 Entlassungen gegeben. Fast ausschließlich war dies gegen Linke gerichtet, überwiegend Lehrkräfte, aber auch Briefträger und Lokführer. Viele leiden bis heute an den Folgen, materiell wie seelisch. Noch 2010 kam es in Baden-Württemberg zum Suizid einer 57-Jährigen. Das letzte Berufsverbot gegen den Heidelberger Antifaschisten Michael Csaszkóczy musste 2007 aufgehoben werden.

267 Betroffene haben bundesweit die „Erklärung 28.01.2012: 40 Jahre Berufsverbot – Betroffene fordern: endlich Aufarbeitung und Rehabilitierung!“ unterzeichnet. In Bremen hat darauf die Bürgerschaft 2012 einstimmig beschlossen, den Radikalenerlass vollständig abzuschaffen, und einen Ausgleich bei der Altersversorgung in Aussicht gestellt. Auch in Niedersachsen wurde 2014 mit den Stimmen aller Fraktionen der Beschluss gefasst: „Radikalenerlass, ein unrühmliches Kapitel – Kommission zur Aufarbeitung der Schicksale der von Berufsverbot betroffenen Personen einrichten.“ In Stuttgart haben sich am 10.12.2014 rund 30 Betroffene zu einer Kundgebung vor dem Landtag versammelt. In der Folge wurden eine Vielzahl von Schreiben an SPD- und Grünen-Abgeordnete verfasst, sich ebenfalls für einen entsprechenden Beschluss einzusetzen. Nach mehrmaligem Verschieben kam es am 19.6. zum ersten „Runden Tisch“, bei dem die Initiative ihre Forderungen übergeben hat.

In 27 Fällen waren den Fraktionen im Vorfeld schriftliche Darstellungen übergeben worden. Ein Betroffener muss mit einer Rente von 589 Euro auskommen. Ein anderer hatte nach seiner Entlassung als Lehrer 1976 laut Urteil 50 000 DM zurückzuzahlen. Drei der 27 sind bereits verstorben, in einem Fall an Hirnblutung mit 44 Jahren, nach zwischenzeitlich 10 Jahre dauernder Entlassung (alle Fälle und Berichte unter www.berufsverbote.de).

Die Initiative strebt an, dass auch die FDP-Fraktion sich an dem „Runden Tisch“ beteiligt. Bisher hat es mit dem Abgeordneten Goll ein getrenntes Gespräch gegeben. Laut dem früheren Justizminister sei die FDP stets gegen Berufsverbote gewesen. Der ehemalige FDP-Fraktionsvorsitzende Hinrich Enderlein, später Wissenschaftsminister in Brandenburg, hat Anfang 2015 Ministerpräsident Kretschmann (Grüne) in einem Brief aufgefordert, der Forderung nach Rehabilitierung nachzukommen. Die hiesige CDU will anders als die Landtage in Bremen und Niedersachsen und entgegen dem Urteil des Europäischem Gerichtshofs die Praxis beibehalten. Gegenüber der RNZ (23.06.2015) bekannte sich Fraktionschef Wolf grundsätzlich zu der Maßnahme: „Radikalen Kräften, von links wie rechts, muss entgegengetreten werden.“ Auch von Kretschmann (1975 selbst von Berufsverbot betroffen), dem Fraktionsvorsitzenden Schmiedel und Innenminister Gall (beide SPD) bekommt die Initiative deutlich Gegenwind. Kretschmann spricht von „damaligem Tunnelblick“ und „politischen Sekten“; er wolle „keine Kommunisten als Lehrer“. Auch Schmiedel versucht es mit der „Links gleich Rechts“-Lüge und Demagogie: Von dem Erlass seien „auch NPD-Mitglieder betroffen“ gewesen, seine Fraktion habe „überhaupt keine Lust, diese nachträglich zu rehabilitieren“ (Stuttgarter Nachrichten, 26.05.2015).

Die Betroffenen werden weiterhin größte Hartnäckigkeit und Ausdauer brauchen. Die drei Abgeordneten haben ihnen zugesagt, in den Fraktionen detailliert über ihre Erkenntnisse und tiefe Betroffenheit zu berichten. Neben den Forderungen nach Aufhebung sämtlicher Bestimmungen zum Radikalen-Erlass und der Auflösung des Verfassungsschutzes bleibt Ziel der Initiative, letztlich zu einem Landtagsbeschluss über die Forderungen Entschuldigung, Rehabilitierung und gegebenenfalls auch Entschädigung zu kommen. GEW und ver.di unterstützen dies. Auch in der IG Metall haben im Frühjahr die Delegiertenkonferenzen in Heidelberg und Frankfurt entsprechende Anträge an den Gewerkschaftstag im Oktober verabschiedet (siehe „Kommunal-Info“, 7. Mai 2015 und „junge Welt“, 15.07.2015).