Skandalöse und groteske Begleitumstände um die Veranstaltung mit Charlotte Wiedemann
Veranstaltung mit Charlotte Wiedemann stand kurz vor Absage
Am 23. Januar fand im Bürgerhaus Neckarstadt eine Veranstaltung der Nahostgruppe Mannheim statt.
„Den Schmerz der Anderen begreifen“ ist der Titel des in 2022 erschienen Buches von der bekannten Publizistin und Auslandskorrespondentin Charlotte Wiedemann. Der Untertitel heißt „Holocaust und Weltgedächtnis“. Wiedemann schreibt: „Wir müssen die Shoah im Zentrum unserer Verantwortung halten. Aber wer die Shoah benutzt, um anderes Leid zu degradieren, hat ihre wichtigste Lehre nicht verstanden.“ Wiedemanns Buch ist ein starkes Plädoyer für Humanität und die Universalität der Menschenrechte.
Das Buch ist ein überzeugendes Plädoyer für die Würdigung des Leids und des Freiheitskamps von Juden, von Sinti und Roma, von allen Menschen, die sich vom Kolonialjoch befreit haben und allen unterdrückten und diskriminierten Menschen.
Die Nahost-Gruppe Mannheim hat Charlotte Wiedemann auch deshalb nach Mannheim eingeladen, da sie sich erhoffte, einen Beitrag zu leisten, damit Juden und Palästinenser überhaupt ins Gespräch kommen. Auch hier in Mannheim. Den „Den Schmerz der Anderen begreifen“ schien hierfür ein geeigneter Ansatz zu sein. Neben Palästinenser von „Free Palestine“ ist auch die Jüdische Gemeinde zur Veranstaltung eingeladen worden.
Doch was macht die Jüdische Gemeinde?
Hinter dem Rücken des Veranstalters wurde alles versucht, um die Veranstaltung zu unterbinden. Es wurde auch versucht, die Stadt und das Bürgerhaus zu bewegen, die Veranstaltung abzusagen. Das wurde auch offensichtlich ernsthaft in Erwägung gezogen, allerdings scheute man das rechtliche Risiko bei einer Kündigung des bestehenden Mietvertrags. Da man offensichtlich damit rechnen musste, vor dem Verwaltungsgericht eine rechtliche Blamage zu erleben.
Verbot rechtlich unsicher – stattdessen absurde Erklärung
Erst einen Tag vor dem Stattfinden der Veranstaltung erfuhr der Veranstalter, dass eine Absage der Veranstaltung von der Stadt ernsthaft geprüft werde. Der Vorstand des Trägervereins Bürgerhaus machte die Unterzeichnung einer Erklärung zur Vorrausetzung für die Nichtabsage der Veranstaltung. In meiner Person (Roland Schuster) habe ich für die Nahost-Gruppe Mannheim eine Erklärung unterschrieben, dass „bei dieser Veranstaltung weder eine Leugnung des Holocausts von Seiten der Referentin oder des Veranstalters stattfinden werde noch eine Duldung solcher nicht zu erwartenden Äußerungen aus dem Publikum.“
So absurd diese Erklärung anmuten möge, waren die Veranstalter froh, damit die Vorrausetzung für das Durchführen der Veranstaltung geschaffen zu haben und vom Klageweg abzusehen. Trotz Unterzeichnung der Erklärung war erst einige Stunden vor Beginn das endgültige GO seitens der Stadtverwaltung bekannt.
Aufgrund eines Berichts im Mannheimer Morgen („Umstrittene Lesung und Diskussionsrunde zum Holocaust verläuft respektvoll“, MM 24.01.2024) hat die Diskussion um die Veranstaltung eine zusätzliche Dynamik erhalten.
„Laut der 1. Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde, Heidrun Deborah Kämper, galt die Kritik nicht nur den nach ihrer Ansicht Holocaust-relativierenden Formulierungen im Ankündigungstext, sondern dem Veranstalter: ‚Frau Wiedemann wurde von der Nahost-Gruppe eingeladen, eine antiisraelische Organisation, die auch mit der Free-Palestine-Gruppe zusammenarbeitet, derselben Gruppe, die uns bei unseren öffentlichen Veranstaltungen beschimpft und ihren Antisemitismus uns gegenüber öffentlich ausdrückt‘.“ (MM 24.01.2024)
Damit sich der geneigte Leser selber ein Urteil über die m.E. abwegigen „Holocaust-relativierenden Äußerungen“ machen kann, habe ich den besagten Einladungstext am Ende des Artikels angefügt. Der Text ist im Übrigen mit Frau Wiedemann abgestimmt.
Im besagten MM-Artikel wird der Kantor der Jüdischen Gemeinde, Amnon Seelig, sinngemäß zitiert, wonach es „unverständlich sei, dass die Veranstaltung einer ‚anti-israelischen-Gruppe‘ in den Räumen der Stadt Mannheim stattfinde“.
Die Pressesprecherin der Stadt Mannheim, Monika Enzenbach, wird zitiert: „Die Stadt Mannheim fungiert nicht als Vermieterin für die Veranstaltung, sondern das Bürgerhaus Neckarstadt-West e.V.“ und „Wir haben aber wohl geprüft, ob eine kurzfristige rechtssichere Absage dennoch möglich ist, leider ist dies nicht der Fall.“
Mit anderen Worten: Man kann eine solche Veranstaltung zwar nicht rechtssicher verbieten, aber man werde im Vorfeld dafür sorgen, damit solche Veranstaltungen erst gar nicht stattfinden.
Israel-Kritisch = antisemitisch?
Es werden sehr fragwürdige Behauptungen über Veranstalter und die Referentin gemacht. Vermutlich kein Gericht würde diese Behauptungen als Absagegrund anerkennen. Meines Erachtens ist das Buch alles andere als eine Leugnung oder Verharmlosung des Holocausts. Der Vorwurf ist einfach unsäglich, ja ungeheuerlich. Der Vorwurf ist geeignet, den Ruf von Personen nachhaltig zu beschädigen.
Außerdem ist der Vorwurf geeignet, das politische Klima, das sowieso schon nicht gut ist, noch mehr zu beschädigen. Deutschland, aber auch der Stadt Mannheim, wäre geraten, auch im Hintergrund des Krieges in Israel/Palästina/Gaza die Kommunikation nicht nur mit den Jüdischen Gemeinden sondern auch mit Palästinensern zu führen. Nicht alles, was angeblich „anti-israelisch“ oder „israel-kritisch“ ist, ist gleich antisemitisch. Man sollte in dieser Sache auch verbal etwas abrüsten. Quasi-Verbote und Absagen von Veranstaltungen können kontraproduktiv sein.
Zu Recht haben sich die Veranstalter und Teilnehmer der Großkundgebung “Nie wieder ist jetzt – für Demokratie und Vielfalt“ und auch die Jüdische Gemeinde darüber beschwert, dass viele Palästina-Flaggen auf dem Alten Messplatz gezeigt worden sind und völlig unpassend aus einem Block Parolen gerufen worden sind. Meines Wissens ist diese bescheuerte Aktion nicht auf dem Mist von Free Palestine sondern einer verhältnismäßig kleinen palästinensischen Gruppierung entstanden. So unerfreulich diese Aktion gewesen sein mag, sollte man nicht die gesamte palästinensische Community verurteilen. Aber das Anliegen der Palästinenser, die das Leid der Zivilbevölkerung in Gaza und Westjordanland thematisieren will, sollte grundsätzlich wahrgenommen werden.
Auch dieses Beispiel zeigt, wie dringlich ein Dialog wäre.
Roland Schuster
Einladungsflugblatt der Nahostgruppe Mannheim zur Veranstaltung
Charlotte Wiedemann zu Holocaust und Weltgedächtnis
Vortrag und Lesung 23. Januar 2024 19.30 Uhr Bürgerhaus Neckarstadt
Welche Opfer sind uns nahe, welche bleiben fern und stumm? Welches Leid hat Stimme, welcher Schmerz spricht zur Welt?
Holocaust und Weltgedächtnis
Charlotte Wiedemann erforschte die Geschichte polnischer Zwangsarbeiter und besuchte auch das ehemalige KZ Mannheim-Sandhofen. Sie beschrieb die Schwierigkeiten der Anwohner, darüber zu sprechen. Als Auslandsreporterin berichtete sie viele Jahre aus Asien und Afrika. Sie sprach mit Menschen, deren Erinnerungen unterschiedliche Schwerpunkte hatten. Dabei entdeckte sie auch blinde Flecken in der deutschen Wahrnehmung.
Moralische Asymmetrie
So haben Millionen Kolonialsoldaten gegen Nazi-Deutschland gekämpft, aber bis heute verbinden wir die Befreiung vom Nationalsozialismus nicht mit der Freiheit und Würde des kolonisierten Menschen. Parallel zu den Nürnberger Prozessen wurden in den Kolonien nie geahndete Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen. Eine moralische Asymmetrie, die bis heute andauert. Wiedemann stellt fest: Erinnerungskulturen sind geprägt vom kolonialen Machtgefüge.
Erinnerungskultur radikal universell
In ihrem Buch sucht die Publizistin nach Wegen, Erinnerungskultur im Geist globaler Gerechtigkeit neu zu denken und ein eurozentrisches, weißes Geschichtsdenken zu überwinden. Sie plädiert dafür, Erinnerungskultur im Geist globaler Gerechtigkeit neu zu denken: radikal universell. Die Verantwortung für die Shoah steht der Anerkennung kolonialer Verbrechen nicht im Wege – im Gegenteil: Es gilt, Opferhierarchien zu überwinden und eine Ethik der Solidarität zu entwickeln. Dazu gehört auch, die Stimmen von Palästinenser:innen zu hören. Sie zahlen seit 75 Jahren mit ihrem Fluchtschicksal den Preis für den europäischen Antisemitismus; dennoch wird ihnen Empathie verweigert.
Charlotte Wiedemann: Den Schmerz der Anderen begreifen. Holocaust und Weltgedächtnis. Propyläen 2022