DIDF, DGB-Jugend, DIDF-Jugend: Gedenkveranstaltung zum Anschlag von Ankara vom 10.10.2015
Wir dokumentieren die Reden des Pressephotographen Özcan Yaman und der Genossin Sükran Dogan, von EMEP (Partei der Arbeit, in der HDP organisiert), die diese auf der gemeinsamen Gedenkveranstaltung von DIDF, DIDF-Jugend, und DGB-Jugend am 13.10.2016 hielten. Die Mitschrift entstand aus einer Simultanübersetzung. Sie mag Fehler und Unvollständigkeiten enthalten. Aufgrund der besseren Lesbarkeit haben wir auch bewusste Kürzungen vorgenommen und die Aussagen thematisch geordnet. Wir hoffen dem Inhalt der Beiträge damit gerecht zu werden. Bitte verbreitet den Text weiter, die Genoss*innen aus der Türkei brauchen unsere Solidarität und obwohl inzwischen viele Schreckensnachrichten aus der Türkei die deutsche Öffentlichkeit erreichen, zeigt der folgende Text, dass die Lage noch weit schlimmer ist, als viele hier in Deutschland ahnen. Hoch die internationale Solidarität! (DIDF)
Wir veröffentlichen diese Mitschrift trotz ihrer Länge, weil wir der Meinung sind, dass in der Bundesrepublik ein absolutes Informationsdefizit über die gegenwärtigen Verhältnisse in der Türkischen Republik herrscht. Die Redebeiträge geben u.E. ein authentisches Bild. (Redaktion Kommunal-Info)
Redebeitrag von Pressephotograph Özcan Yaman:
Es handelte sich um eine zentrale legale Kundgebung, die am 5. Oktober genehmigt wurde. Alle staatlichen Stellen waren informiert.
Ich habe direkt nach der Explosion zum ersten Mal gefilmt ohne hinzuschauen. Ich habe reflexartig den Auslöser betätigt und die Szene eingefangen. Als Kriegsreporter habe ich mich wenigstens auf die Situation vorbereiten können, aber wenn man nicht damit rechnet und plötzlich um einen herum die Menschen in die Luft gesprengt werden, darauf kann man sich nicht vorbereiten. Wir standen unter Schock.
Fahrzeuge der Polizei – die dort überhaupt nichts zu suchen hatten – fuhren über die Leichen. Die Polizei verhinderte, dass die Krankenwagen auf den Platz fuhren. Erdogan sagte später, es wären nach 10 Minuten Krankenwagen vor Ort gewesen. Das ist eine Lüge, erst 50 Minuten nach der Explosion wurden Krankenwagen hereingelassen. Die Krankenwagen fuhren aber leer über den Platz und den Verletzten wurde nicht geholfen. Nur das Gesundheitspersonal auf dem Platz leistete erste Hilfe, auch aus den nahegelegenen Krankenhäusern kam keine Hilfe. Die Verletzten wurden auf den Kundgebungs-Transparenten weggetragen.
Obwohl viele Schwerverletzte und Sterbende auf dem Platz lagen fuhren Militärfahrzeuge rasend in die Menge und setzten Pfeffergas ein. Obwohl bei jedem Polizeieinsatz gefilmt wird gibt es von dieser Operation keine Aufnahmen von der Polizei.
Wir haben aber alles gefilmt und bewiesen, jedoch übernahm das Innenministerium in seiner offiziellen Darstellung keine Verantwortung. Davutoglu, spielte alles herunter und machte „eine Gruppe von gewalttätigen Jugendlichen“ verantwortlich. Der Strafgerichtshof in Ankara ist zuständig für das Verfahren. Es handelt sich um ein Spezialverfahren, das nicht in einem normalen Gerichtshof stattfindet. Die Staatsanwaltschaft stempelte die Akte als „vertraulich und geheim“ ab; damit gibt es keinen Zugriff mehr und die Beweisführung wurde erschwert. 10 von 36 Zeug*innen wurden in Untersuchungshaft genommen. Offizielle Verantwortliche von Polizei und Sicherheitskräften werden in der Anklageschrift nicht genannt. Die nächste Sitzung wird im November stattfinden. Wir alle müssen Solidarität zeigen und diesen Prozess kritisch begleiten.
Der Geheimdienst hat 62 Akten über die Kundgebung. Es gab eine Warnung, dass der IS einen Anschlag verüben würde, aber die Informationen wurden zurückgehalten. Die Regierung rechtfertigt dieses Vorgehen damit, dass sie die Bevölkerung nicht hätte verunsichern wollen. Es ist bekannt, welche Personen und Vereine für den IS aktiv sind, aber sie werden vom Geheimdienst geschützt. Der Name eines der Attentäter wurde schon Jahre zuvor in Geheimdienstakten genannt. Die Attentäter wurden über die Grenze gebracht und schnallten um 9:30 ihre Bomben um. Das war den Geheimdiensten bekannt. Wir wissen sogar, wer die Leute nach Ankara gefahren hat. Es gibt zwei Verdächtige von denen wir die Daten haben, aber die Daten decken sich nicht mit denen aus den offiziellen Ermittlungen. Es handelt sich um gefälschte Identitäten. Es besteht ein direkter Zusammenhang zwischen den Anschlägen in Suruç, Ankara und Diyarbakır.
In Wahrheit will die Regierung den Menschen zeigen, dass jede*r mit Angriffen rechnen muss, die/der in irgendeiner Weise Widerstand leistet oder Solidarität zeigt. Die Menschen sollten eingeschüchtert werden, damit sie sich nicht mehr an Kundgebungen und Demonstrationen und Kundgebungen teilnehmen.
Hacker*innen hackten die Twitter-Seiten der Bewegung und verhöhnten die Opfer mit Kommentaren unter den Fotos wie „Das ist der Platz der Freude.“.
Die Presse braucht internationale Solidarität um ihre Arbeit zu machen. Inzwischen wurden alle kritischen Nachrichtensender geschlossen. Die Bomben, die in der Türkei hochgehen können auch in Deutschland, auch in Mannheim hochgehen. Wir möchten nicht, dass dieses Leid hierherkommt.
Redebeitrag von Genossin Sükran Dogan (EMEP):
Wenige Tage vor dem Massaker, kurz vor den Wahlen rief Erdogan: Entweder ihr gebt mir 400 Abgeordnete, oder es wird schlimme Konsequenzen haben!
Hintergrund: Der türkische Staat hat einerseits das historische Ziel, das Osmanische Reich zurückzuerobern, gleichzeitig gibt es aber auch Verteilungskämpfe der imperialistischen Mächte um Ressourcen, die mithilfe von dschihadistischen Gruppen geführt werden. Es werden Waffen an die „Freie Syrische Armee“ und (damit?) auch an den IS geliefert. Diese wiederum befinden sich im Krieg mit Rojava im Norden Syriens. Zwei Jahre lang gab es einen Friedensprozess, aber schon bei den Wahlen im Juli verfolgte Erdogan das Ziel, seine Machtposition zu stärken, indem er ein Präsidialsystem, das ihn quasi zum Alleinherrscher macht, einführt. Der HDP gelang es als Bündnis verschiedener Parteien die kurdische Frage mit den Kämpfen der Arbeiter*innen zu verbinden und dies zu verhindern.
Bedroht werden alle Kräfte die sich mit den Kurd*innen solidarisieren, die sich für Frieden und Demokratie einsetzen. Der IS wird unterstützt mit Waffen, Logistik, und Bildungszentren innerhalb der Türkei.
Durch die Anschläge wurde ein Wahlkampf der HDP praktisch unmöglich gemacht, alle sollten eingeschüchtert werden, die sich für die HDP engagierten. Der 10. Oktober war der Höhepunkt dieses Terrors, am 1. Mai kam aus vielen Familien nur eine Person statt der gesamten Familie um sich an Kundgebungen und Demonstrationen zu beteiligen.
Weltweit zeigten viele Menschen Solidarität mit Kobane, auch im Westen der Türkei.
Erdogan war auf den Militärputsch vorbereitet. (…) Unter dem Vorwand des Ausnahmezustandes wegen des Kampfes gegen die Gülen-Bewegung ist das Parlament im Moment stillgelegt. Tausende unterstützen heuchlerische „Demokratische Mahnwachen“ die von der Regierung gepusht wurden, indem man den Menschen Versprechungen machte. Es gab eine große Verhaftungs- und Entlassungswelle gegen die Gülen Bewegung. Parallel dazu wurden Hunderte von Privatschulen und Konzerne die zur Gülenbewegung gehörten beschlagnahmt und enteignet. Im Grunde war das ein Konflikt innerhalb der kapitalistischen Klasse. Nun wird alles neu verteilt an die Wählerschaft der AKP. Bei dieser Neuverteilung wird es zu vielen Entlassungen kommen. Die Firmen werden Fachpersonal auswählen können. In der Türkei herrscht eine große Arbeitslosigkeit [auch weil aufgrund der politischen Situation, der Tourismus, ein wichtiger Wirtschaftsfaktor in der Türkei eingebrochen ist -A.d.R]. Merkel versteht die Situation nicht, oder sie nimmt sie nicht ernst: Wenn die Entwicklung in der Türkei so weitergeht, kann es dazu kommen, das Hunderttausende von Menschen – sowohl solche die auf der Flucht vor Verfolgung und Repression sind als auch solche die nur auf der Suche nach Arbeit sind – aus der Türkei hierher fliehen. Und niemand kann eine solche Wanderung aufhalten. Mehr als 3 Millionen werden kommen wenn die Türkei nicht demokratisiert wird. Die Türkei wird in das Chaos des Nahen Ostens verwickelt werden. Das wollen wir nicht, dass diese Konflikte und der islamistische Faschismus hierher importiert werden. (…)
Nun gibt es eine zweite Säuberungswelle gegen die linken oppositionellen Kräfte. In 28 Städten wurden die Bürgermeister*innen abgesetzt. In den kurdischen Gebieten wurden die Bürgermeister*innen und alle gewählten Repräsentant*innen abgesetzt und Statthalter eingesetzt. Tausende – Gülen Anhänger*innen wie linke Gewerkschafter*innen – wurden entlassen. Die Gefängnisse wurden geleert, das Regime hat Kriminelle entlassen um Platz für politische Gefangene zu schaffen. Seit dem Ausnahmezustand sind 200 Journalist*innen in Untersuchungshaft. 120 Journalist*innen und Autor*innen wurden verurteilt. Die Fälle von Folter und Gewalt nahmen zu, die Folter wurde legalisiert. Das Militär veröffentlichte Folterbilder. Selbst hohe Militärs wurden gefoltert. Jeder der sich gegen die Regierung stellt erlebt Folter und Gewalt, das ist die Botschaft des Regimes. Wir sind uns darüber im Klaren, dass uns das Gleiche erwartet hätte, wäre der Putsch erfolgreich gewesen. Aber die Türkei erlebt so etwas nicht zum ersten Mal, deshalb gibt es auch eine Tradition der Solidarität.
Die Situation der Frauen ist sehr schlimm. In den letzten Jahren gab es mehr Frauen im Erwerbsleben, aber das ist auch ein Anzeichen dafür, dass die Arbeitskraft billiger geworden ist. Die Gewalt gegen Frauen hat zugenommen. Stellt euch vor, der Ministerpräsident sagte auf der Hochzeit seiner Nichte zu ihr: „Wenn du dich unterordnest wirst du dich als Frau ausruhen können.“ Selbst in offiziellen Stellungnahmen sagten sie, dass Frauen nicht gleich sind und nicht gleich sein können. Generell ist das die Botschaft an die Frauen: Ordnet euch unter, dann geht es euch gut! Monatlich werden 25-40 Frauen ermordet. Es gibt eine massive Anzahl von Vergewaltigungen und Belästigungen. Es besteht ein direkter Zusammenhang zu den Aussagen des Regimes. Es ist in öffentlichen Krankhäusern kaum noch möglich Abtreibungen durchführen zu lassen. Selbst Vergewaltigte mussten die Kinder zu Welt bringen. Vergewaltiger werden wenn überhaupt ganz milde verurteilt. Es gibt aber auch eine große Solidaritätsbewegung der Frauen.
Die Geflüchteten ertrinken. In der Türkei und in Europa will man unter den Geflüchteten selektieren. Die Qualifizierten sollen übernommen, der Rest aussortiert werden. Die Menschen werden ausgebeutet, sie sind gewerkschaftlich nicht organisiert. Sie werden gegen andere Arbeitende ausgespielt. Es wurden Gesetze eingeführt um die Arbeitnehmer*innenrechte der Geflüchteten außer Kraft zu setzen. Es wird eine Konkurrenzdebatte geführt. Aber die Organisierten können hier vieles tun und sich mit den Geflüchteten solidarisieren und dafür sorgen, dass sie den gleichen Lohn bekommen. Unsere Partei setzt sich dafür ein, dass Geflüchtete den Gleichen Status erhalten wie alle Arbeitenden.
Mit der HDP gibt es eine demokratische Plattform, in der verschieden Organisationen vertreten sind, weil wir den Kampf gemeinsam führen müssen. Wir brauchen aber auch internationale Solidarität und Unterstützung. Wir müssen die internationale Solidarität stärken. Es geht uns nicht um Mitleid, sondern darum den Widerstand aufzubauen. Die Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes plant eine große Kundgebung am Samstag in Ankara. Man versucht immer die Kundgebungen aus Sicherheitsgründen zu verbieten, man sagt: „Es könnten wieder Bomben explodieren.“
Vor dem Anschlag war die Solidarität viel stärker und wir hatten das Gefühl dem Frieden näher zu kommen. Wir haben einen Schritt vorwärts getan und wurden 3 Schritte zurückgeworfen. Ich möchte mit dem Andenken an die Getöteten schließen. Sozialdemokratische bis anarchistische Gruppen wurden durch den Anschlag geeint. Während wir rechtliche Schritte unternehmen versuchen wir die Hinterbliebenen zu unterstützen. Es gab immer wieder Bombenanschläge. Wir wissen nicht wie wir so etwas bewältigen sollen. Wir haben viele Menschen verloren, viele Verletzte brauchen medizinische Unterstützung, viele Angehörige brauchen psychologische Unterstützung.
Unsere Wunden sind groß und wir versuchen gemeinsam diese Wunden zu pflegen. Wir haben die Biografien der 16 Leute unserer Partei, die bei dem Anschlag getötet wurden, in einem Buch gesammelt. Es hätte jeder von uns sein können.