Weichenstellung: IG Metall Mannheim stellt sich für die Zukunft auf
Den folgenden Artikel haben wir mit freundlicher Genehmigung von express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, abgedruckt. (Kommunalinfo, die Red.)
Die Gewerkschaft von morgen?
Die IG Metall Mannheim stellt die Weichen auf »gesamthaftes« Organizing

Warnstreiktag der IG Metall Mannheim am 19.02.2015 – 4000 TeilnehmerInnen bei Sternmarsch und zentraler Kundgebung auf dem Alten Messplatz (© by helmut-roos@web.de)
Im Organisationsbereich der IG Metall sorgte Mannheim in den letzten zwei Jahren vor allem für Schlagzeilen durch die Schließung der Turbinenfabrik, die vorher den Besitzer gewechselt hatte – von Alstom zu General Electric. Das Werk hatte eine lange Widerstandstradition, vom BBC-Werk, das in der Weimarer Republik Hochburg des Syndikalismus war, über die »wilden« Streiks der frühen 1970er Jahre und eine Tradition der Betriebsintervention, die bereits die Aufspaltung des Betriebs in ABB und Alstom erleben musste, bis hin zu den Kürzungsplänen in den frühen 2000ern.1
Der Verkauf an GE und die anschließenden Stellenkürzungen ließen eine Mannheimer Tradition wieder aufleben: das überbetriebliche Solidaritätskomitee. Insofern wurde der kapitalistische Sachzwang hier zu einer organisatorischen Chance, die die Geschäftsstelle der IGM Mannheim mit vorantrieb und nicht ungenutzt verstreichen ließ.
Bereits im Jahr 2018 konnte die IGM Mannheim in der Metall- und Elektro-Tarifrunde ihren Mitgliederstand auf 28.000 erhöhen. Das darf, so Klaus Stein im Interview (siehe S. 4), aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Organisationsgrad in vielen Betrieben dennoch sinkt – sinkende Tarifbindung, Produktionsauslagerung in andere Staaten, das Outsourcing von Geschäftsbereichen, Leiharbeit und die vom Horizont winkende Konjunkturkrise sowie zunehmendes Union Busting setzen die Gewerkschaft unter Druck, aktuell kommen die Herausforderungen Digitalisierung und Elektromobilität hinzu.
Ferner verändert sich die Beschäftigungsstruktur im Metallsektor rasant, in vielen Betrieben stellen Verwaltungsangestellte mittlerweile die Mehrheit.
Was das bedeutet, hat Peter Kern im express 12/2019 deutlich gemacht. Noch sind die Machtressourcen stabil, aber sie müssen auch gesichert werden.
Ein zweites kam hinzu: Das seit 2015 arbeitende »Gemeinsame Erschließungs-Projekt« (GEP) des Bezirks Baden-Württemberg, das den Geschäftsstellen personelle Unterstützung und strategisches Know-how in Sachen Organizing bietet. Vom GEP ging auch die Idee aus, die Geschäftsstellen zu Beteiligungszentralen zu machen, anstatt, wie in der ersten Runde des Projekts 2015 bis 2018, nur einzelne Betriebe für mehr Beteiligung zu erschließen. Die systematische und fokussierte Arbeit, das Aufgreifen der Themen der Beschäftigten und ihre Beteiligung an der Entwicklung und Umsetzung von Lösungen, wie Andreas Flach, Projektleiter des GEP Baden-Württemberg, es beschreibt (spw 233), soll flächendeckendes Prinzip der gesamten Geschäftsstelle und für alle Betriebe der vertretenen Branche sein. In Mannheim stieß das auf offene Ohren. 20 Betriebe wurden in das Organizing-Konzept aufgenommen, von nicht-tarifgebundenen Textilbetrieben bis hin zu den großen Konzernen wie Benz, John Deere und Caterpillar. »Wir gehen an jeden Schreibtisch und an jede Werkbank und reden mit den Leuten«, so Klaus Stein in der metall. In allen beteiligten Betrieben wurden Befragungen durchgeführt, anhand derer betriebsspezifische Kampagnenpläne ausgearbeitet wurden. »Die Ziele reichen (…) von mehr Parkplätzen über Verbesserungen für Leiharbeiter oder Angestellte bis zum Erreichen der Tarifbindung« (metall, Mai 2019). Apropos Angestellte: Die direkte Ansprache zeigt, dass das Interesse dieser Berufsgruppe größer ist, als man vermuten würde.
Der Clou ist der gemeinsame Kampagnenrahmen: gemeinsame Workshops für alle Betriebe, hohe Verbindlichkeit für Haupt- und Ehrenamtliche.
Im Januar 2019 hatte die IGM Mannheim Beschäftigte aller Betriebe der Region zu einem dreitägigen Organizing-Workshop nach Oberursel geladen, 100 KollegInnen aus 16 Betrieben folgten der Einladung. Das Ziel: 1.000 Neumitglieder bis Anfang 2020. Als ich Ende November mit Klaus Stein gesprochen habe, war dieses Ziel schon übertroffen.

Starke Beteiligung mit über 4.000 Beschäftigten beim Warnstreikauftakt am 29. 04.2016 bei Mercedes Benz/EvoBus und Transco in Mannheim. (© by helmut-roos@web.de)
Höhepunkt der Kampagne »Wir in Mannheim – Gemeinsam stark!« war ein dreitägiger Organizing-Blitz Mitte Mai 2019 (siehe die Kurzberichte dreier beteiligter Ehrenamtlicher auf S. 5). 4.150 ArbeiterInnen aus 16 Betrieben wurden in diesen drei Tagen von insgesamt 200 OrganizerInnen aus dem GEP, hauptamtlichen GewerkschaftssekretärInnen, vor allem aber ehrenamtlichen HelferInnen, direkt angesprochen. 2.240 KollegInnen haben sich zudem aktiv an Aktionen (Betriebsratssprechstunde, Beratungsgespräch, Flugblattaktionen, Abteilungsbesuche) im Rahmen des Blitzes beteiligt. Bei Bopp & Reuther, Bosch Rexroth, Caterpillar, Benz, Rhenus, Südkabel, Wabco und VAG fanden aktive Mittagspausen statt. 100 Neumitglieder brachte allein diese öffentlichkeitswirksame Aktion.
Es bleibt natürlich die Frage, inwieweit die insgesamt über 1.700 neuen Mitglieder der IGM Mannheim tatsächlich beteiligt werden und beteiligungsbereit sind – die Hürden sind hoch, und das liegt weniger an der Verfassung der Gewerkschaft als an der Verfassung der Gesellschaft. Das Beispiel Mannheim zeigt aber: Der Wille ist da – bleibt zu hoffen, dass das Beispiel Schule macht und sich diese Strategie – »aus dem Betrieb heraus« – verallgemeinert. Mannheim hat gemeinsam mit dem GEP einen Weg heraus aus dem Stellvertreterdenken und der Vorstellung von der Gewerkschaft als Dienstleistungsbüro aufgemacht. Dazu »bedarf es des Aufbaus harter und aktionsfähiger betrieblicher Kerne« (SoZ, September 2019).
»Letztlich«, so betont auch GEP-Projektleiter Andreas Flach, »geht es um selbständige und handlungsfähige Aktivenstrukturen in den Betrieben« (spw 233).
Und was in Mannheim begonnen hat, könnte durchaus Vorbildcharakter für eine Gewerkschaft von morgen haben: »Das Beispiel Mannheim strahlt aus. Sechs Geschäftsstellen in Baden-Württemberg haben inzwischen ähnliche Projekte gestartet«, berichtet Andreas Flach in der Zeitschrift Sozialismus (1/2020).
Ist dieses Ziel einer gewerkschaftlichen Erneuerung ernst gemeint, so wird es für die IG Metall darauf ankommen, nicht nach einigen messbaren Erfolgen bei den Mitgliederzahlen wieder in gewohnte Routinen zurückzufallen. Aktivierung, Beteiligung und Beweglichkeit sind keine »Projekte«, die sich nach einem einmaligen Kraftakt von der To-Do-Liste streichen lassen. Auf der anderen Seite stellt sich die Frage, wie sich die betriebsnahe Herangehensweise dauerhaft so gestalten lässt, das sie trotz aller Sensibilität für die konkrete Situation vor Ort nicht zum Einfallstor wird für eine weitere Aushöhlung des Tarifgefüges in der Fläche – genau das hat sich die Arbeitgeberseite für die nächste Metall- und Elektrotarifrunde auf die Fahnen geschrieben.
Im besten Fall allerdings schickt Mannheim sich an, wieder zu der »roten Hochburg« zu werden, die die Stadt historisch einmal war (siehe dazu die Buchrezension von Heiner Dribbusch auf S. 16). Auch andere Akteure entwickeln Interesse an Organizing-Ansätzen. Im ver.di-Bezirk hat sich mittlerweile ein team:organize gebildet, dass aber anders als die IGM ausschließlich auf Ehrenamtliche setzt. IGM, ver.di, die ver.di-Jugend und die DGB-Hochschulgruppe Heidelberg haben jüngst gemeinsam die von der Rosa Luxemburg-Stiftung organisierte Online-Lecture von Jane McAlevey2 im Gewerkschaftshaus angeboten. An dieser Schulung via Videokonferenz durch die Autorin des Buches »Keine halben Sachen – Machtaufbau durch Organizing« teilgenommen haben auch Mitglieder der Partei Die Linke, der Interventionistischen Linken, der FAU und der ISO. Dennoch: Außerhalb der Gewerkschaften ist das Interesse am Organizing in den sozialen Bewegungen und den parlamentarischen wie außerparlamentarischen Organisationen bislang ein eher theoretisches, das nur selten praktisch wird.
Torsten Bewernitz
Das im VSA-Verlag erschienene Buch zum GEP »aufrecht gehen. Wie Beschäftigte durch Organizing zu ihrem Recht kommen« (Hamburg 2018) gibt es als Prämie für express-NeuabonnentInnen!
Anmerkungen:
1 Siehe dazu den Film »Resistance – unsere Chance« (2012) der IGM-Bildungsstätte Sprockhövel.
2 Siehe https://www.rosalux.de/veranstaltung/es_detail/ELDFI/wie-wir-lernen-kaempfe-zu-gewinnen/
express im Netz unter: www.express-afp.info