OB im Gemeinderat: „Priorisierung jetzt ungerecht und epidemiologisch widersinnig“
In der letzten Gemeinderatssitzung legte der Leiter des Gesundheitsamtes Dr. Peter Schäfer erstmals Zahlen über die durchschnittliche Corona-7-Tage-Inzidenz in den einzelnen Stadtteilen auf (Durchschnittswerte für das 1. Quartal 2021).
Spitzenreiterin ist demnach – wenig überraschend – Neckarstadt-West, Schlusslicht Lindenhof. Doch was steckt hinter diesen Zahlen?
Die sozialen Verhältnisse sind maßgeblich
Die sozialen Verhältnisse der jeweiligen Stadtbezirke führen zu sehr unterschiedlichen Infektionsrisiken und -Zahlen. Das beginnt bei den Wohnverhältnissen: Mietshäuser mit vielen Bewohner*innen in kleinen Wohnungen, oft ohne Balkon gegenüber Einfamilienhäusern mit großen Gärten. Hohe Konzentration von gering qualifizierten Menschen gegenüber Bezirken mit hohem Anteil akademisch gebildeter Menschen; viele gewerblich Beschäftigte mit Präsenzarbeit in Handwerksbetrieben, Fabriken und auf Baustellen gegenüber Beschäftigten im Homeoffice; ÖPNV-Nutzende gegenüber Nutzer*innen eines eigenen PKW. Bei den sozial schlechter Gestellten ist der Anteil der Migrant*innen umso höher. Zum höheren Infektionsrisiko kommt der schwierigere Zugang zu den Impfungen: Weniger und schlechtere Informationen, Sprachbarrieren, fast aussichtslose Anmeldungsversuche über die 116117 (dem entspricht dann auch, dass die Informationsangebote (z.B. Film) im Impfzentrum nur auf deutsch angeboten werden). Ebenso ist für Menschen mit nicht-deutscher Muttersprache das Beantragen und Ausfüllen von Bescheinigungen zu medizinischen und sozialen Themen mit Bezug zur Impfberechtigung ein Hindernis.
Der OB resümiert: „Die höher Gefährdeten sind die am wenigsten Geimpften“. Das sei nicht nur ein Missstand in puncto Gerechtigkeit, sondern auch epidemiologisch sinnwidrig. Die Priorisierungsregelungen nehmen auf soziale Unterschiede keine Rücksicht. „Da müssen wir raus“ fordert der OB und berichtet von diesbezüglichen Gesprächen mit dem Sozialministerium.
Stadtrat Siegholt von der AfD will es nun wieder genau wissen, wo die Probleme herkommen: „Wie hoch ist der Migrantenanteil?“ Peter Schäfer gibt den mit etwa 60% der Infizierten an und ergänzt: Das entspricht auch etwa dem Anteil der Migrant*innen an den besonders betroffenen Altersklassen. Der OB antwortet Siegholt, die tatsächlichen Unterschiede würden wahrscheinlich sehr deutlich werden, wenn man nach der Zahl der gesetzlich und der privat versicherten Covid-19-Patient*innen fragen würde.
Grafiken: Stadt Mannheim, Streaming der Gemeinderatssitzung vom 22.04.2021
Cluster Betriebe
Mit der Durchleuchtung der sozialen Corona-Faktoren tritt auch wieder die Frage nach den Arbeitsbedingungen der Menschen, die weiterhin in Präsenz arbeiten müssen, in den Fokus. Stadtrat Chris Rihm fragt nach der Größe des Infektionsclusters Betriebe. Diese bilden lt. Schäfer den zweitgrößten Cluster nach den Familien. Die Kitas und Schulen sind zwar auch große Cluster, die Zahl der betroffenen Menschen ist jedoch gering.
Zur Frage, ob und wie die Einhaltung der Corona-Regeln in den Betrieben kontrolliert werde, war die Antwort wie im Dezember, als LI.PAR.Tie. danach fragte: Es gibt Kontrollen (nur) auf Baustellen und Baustellenfahrzeugen durch Polizei und Gewerbeaufsicht. Dabeiseien in knapp der Hälfte der Fälle Regelverstöße festgestellt worden.
Das systematische Wegschauen vom Geschehen in den Betrieben geht also weiter. Die Gewerbeaufsicht ist schon zu normalen Zeiten überfordert. Die Kontgroll- und Durchsetzungskraft der betrieblichen Belegschaftsvertretungen Vertrauensleute und Betriebsräte kämpfen an zwei Fronten: In sicherlich vielen Unternehmen gegen die Knauserigkeit der Geschäftsführungen. Aber sie werden auch bei einem Teil ihrer Kolleg*innen viel Überzeugungsarbeit zu leisten haben und sich nicht selten in vertauschten Rollen vorfinden: Stumme Vorgesetzte, die das Prinzip verfolgen: „Hauptsache der Laden läuft“ und gewählte Arbeitnehmer*innen-Vertreter*innen, die mit manchen Mitarbeitenden in Konflikt gehen müssen. Umso verfehlter sind die abermals laschen „Freiwilligkeits“-Regeln des Bundes zum Thema Bereitstellung von Schnelltests. Die Einbeziehung der Betriebsärzte in die Impfkampagne mit steigernder Verfügbarkeit der Vakzine ist dringend erforderlich. Anders wird angesichts der Bedeutung des Betriebsclusters die Überwindung der Pandemie und die Aufhebung der oft nicht mehr nachvollziehbaren Einschränkungen und Auflagen, die zudem bestimmte Teile der Gesellschaft ganz besonders treffen, nicht vorankommen. Auch hier geht es dann um die Aufhebung der Impfpriorisierung.
Benachteiligte Stadtteile
Hier setzt die Verwaltung auf dezentrale Impfteams z.B. in Neckarstadt West. Es gibt offenbar auch Planungen, die Quartiermanagements zur Werbung einzusetzen. Hinsichtlich der Kommunikation mit der vielfältigen Bevölkerung bedarf es sicher noch umfassenderer Anstrengungen als wenige mehrsprachige Hinweise auf der Website der Stadt Mannheim und Videoclips migrantischer Ärzt*innen aus dem Klinikum, die ihre Landsleute in deren Muttersprache ansprechen und aufklären können. Auch der Migrationsbeirat ist in die Mobilisierung. Allerdings sind in diesem Gremium zwar viele Sprachen vertreten, milieumäßig handelt es sich jedoch überwiegend um akademisch Gebildete, die vielleicht auch nicht „barrierefreie“ Kommunikation in die diversen Communities hinein betreiben können. Vielleicht kommt den Kindern und Jugendlichen aus Kitas und Schulen eine Übermittlungs- und „Postboten“-Funktion in die Elternhäuser zu – dazu müssten die Schulen aber auch wieder Präsenzunterricht haben. Stadtrat Beisel regte eine Maßnahme aus Duisburg an: Den Einsatz von Lautsprecherwagen mit mehrsprachigen Botschaften. Das ersetzt wiederum auch nicht die persönliche Ansprache. Es wird noch viel Phantasie notwendig sein, um in diesem Frühjahr und Sommer die Impfkampagne massiv vorantreiben zu können.
Thomas Trüper