Haldex macht Graubremse platt
Heidelberg: Weiteres Kapitel Industriegeschichte nach 95 Jahren geschlossen
Die Schließung und damit das Aus für die Belegschaft der Haldex GmbH Heidelberg (bis 1998 Graubremse) sind besiegelt. Am 20. März wurden per Einigungsstelle ein Interessenausgleich und Sozialplan abgeschlossen. Die ersten Arbeitsverhältnisse werden Ende Juni beendet, die meisten zum 30. September, die letzten zum 31. Dezember, darunter die der Mitglieder des Betriebsrats. Die 80 Beschäftigten wechseln für sechs bis 12 Monate in die Transfergesellschaft „weitblick“.
Der bis 31.03.2020 laufende Mietvertrag mit der Commerzbank-Leasing (Eigentümer des 2002 neu gebauten Fabrikgebäudes in Wieblingen) ist, wie offensichtlich lange geplant, ausgelaufen. Haldex hat für rund fünf Millionen Euro von seinem Vorkaufsrecht Gebrauch gemacht und verkauft die Fabrik jetzt weiter an ein anderes Heidelberger Industrieunternehmen.
Haldex verbreitet weiterhin, an der Verlagerung der Produktion nach Ungarn zum 30.6. und der Entwicklung zum 30.9. nach England festzuhalten – auch wenn man damit angesichts Wirtschaftskrise, Corona-Pandemie und Grenzsperren an die Wand fährt.
Übrig bleiben bei Haldex Deutschland nur 19 Beschäftigte. Acht Verwaltungsangestellte in Heidelberg sollen in ein Büro umziehen. 11 Vertriebs-Beschäftigte waren auch bisher schon im Home Office bundesweit tätig. Praktisch soll der deutsche Haldex-Rest vor allem noch als Durchgangsstation für Produkte aus Ungarn oder Slowenien dienen (ins Lager Weyersheim bei Straßbourg). Da die Haldex GmbH immer noch Verlustvorträge aus der Vergangenheit geltend macht, lassen sich so massiv Gewinnsteuern sparen (2017 zum Beispiel sind für 3 Millionen Euro Gewinn nur 3.900 Euro Steuern angefallen.)
FAST EIN JAHRHUNDERT GRAUBREMSE (HALDEX) SIND GESCHICHTE
Vor 95 Jahren hat Ingenieur und „Pionier“ August Grau im Stadtteil Kirchheim mit einem Beschäftigten begonnen. 1984 hat sein Enkel den Familien-Betrieb an den Rand des Konkurses gefahren. Der US-Konzern Echlin konnte für ein Butterbrot übernehmen. Nach dessen Ausstieg übernahm der schwedische Haldex-Konzern. Ein Jahr nach dem Umzug vom Pfaffengrund nach Wieblingen, wurde 2003 die mechanische Fertigung nach Ungarn, Slowenien und Polen verlagert. Fast 100 der damals 260 Beschäftigten mussten gehen.
2015 folgten große Teile der Montage ins Haldex-Werk Ungarn. Wieder wurden 60 Beschäftigte abgebaut. Übrig blieben noch 100. Die Heidelberger Belegschaft hatte 1984 und 1997 verhindern können, vom Weltmarktführer Knorr-Bremse unter Milliardär Thiele geschluckt und zerschlagen zu werden. Auch 2016/17 leistete sie, gelobt von der schwedischen Presse, den größten Widerstand innerhalb Haldex gegen den Übernahme-Versuch durch Knorr-Bremse.
In Heidelberg wird damit nach vielen anderen ein weiterer Metallbetrieb dicht gemacht. In seiner langen Geschichte hatte der Zulieferer von Nutzfahrzeug-Bremssystemen einschließlich Zweigwerken bis zu 930 Beschäftigte (1980). Insgesamt mussten über ein Dutzend Sozialpläne durchgestanden werden. Traditionell galt die Graubremse als bedeutender Streikbetrieb der IG Metall Heidelberg.
ENDE OKTOBER HAT HALDEX DIE SCHLIESSUNG ANGEKÜNDIGT
Am 22.10.19 wurden Betriebsrat und Belegschaft in Heidelberg mit der Ankündigung überfallen, das Werk werde Ende des Jahres verlagert und geschlossen. Die Beschäftigten antworteten im Oktober/November mit Protest-Aktionen und Ausfall mehrerer Schichten durch Arbeitsniederlegungen. 50 fuhren am 22.11. mit dem Bus zur landesweiten IG Metall-Kundgebung in Stuttgart gegen Massen-Entlassungen.
Zur Protestversammlung am 6. Dezember vor dem Haldex-Gebäude kamen zur Unterstützung auch über 50 Haldex-Betriebsrentnerinnen und -Rentner sowie 20 Metaller anderer Betriebe. In Reden wurde angekündigt, mit allen gewerkschaftlichen Mitteln zu kämpfen, einschließlich einem, möglichen Arbeitskampf für einen Sozialtarifvertrag.
Auch in einem Sachverständigen-Gutachten wurde im Januar die Verlagerung als betriebswirtschaftliche Fehlentscheidung beurteilt: Die Entwicklung sei ohne das Heidelberger Know How nicht arbeitsfähig; bei der Produktion in Ungarn würden vordergründige Kosten-Einsparungen (Lohnverhältnis eins zu vier) durch die dort nachweislich viel geringere Produktivität (ein Drittel bis zu 50 Prozent), steigende Logistik- und Transportkosten sowie Qualitätsverluste wieder kompensiert.
Wabco, nach Knorr-Bremse zweitgrößter Konkurrent von Haldex (inzwischen von ZF übernommen), geht einen anderen Weg. Laut Vereinbarung mit IG Metall und Betriebsrat von 3.12.2019 investiert Wabco (nach 9,1 Millionen Euro 2017) weitere 8,9 Millionen Euro in Mannheim-Friedrichsfeld. Der Standort wird in ein Forschungs- und Entwicklungs-Kompetenzzentrum für Druckluftbremsen ausgebaut und eine neue 4.500 m² Produktionshalle gebaut.
90 Prozent der in der Haldex-Betriebsversammlung Mitte Januar Anwesenden unterzeichneten einen Brandbrief an Vorstand und Aufsichtsrat in Schweden: Rücknahme des Schließungs-Beschlusses! Nachdem das Schreiben in Schweden und den USA veröffentlicht wurde, sagte Haldex-CEO und -Präsidentin Helene Svahn zu, nach Heidelberg zu kommen – um kurze Zeit später wieder abzusagen. Per E-Mail teilte sie mit, es bleibe bei der Schließung. Einer der entscheidenden Berater bei Haldex, mit Sitz im Aufsichtsrat, ist seit einem Jahr das frühere, für Nutzfahrzeuge zuständige Daimler-Vorstandsmitglied Bernd Gottschalk.
Statt im Januar erneut Kampfmaßnahmen vorzubereiten, beschränkte sich der Betriebsrat auf Anraten des zuständigen IG Metall-Betriebsbetreuers darauf, nur auf Verhandlungen zu setzen. Eine bereits im Dezember geplante mehrtägige Betriebsversammlung wurde wieder verschoben. Während im alten Jahr noch Erfolg versprechend auf gewerkschaftliche Kampfkraft und Belegschaft gesetzt worden war, wurde dies nach Jahreswechsel kaum mehr in die Waagschale geworfen. Stimmen, umgehend Warnstreiks und eine Urabstimmung für einen Sozialtarifvertrag einzuleiten, wurden in den Hintergrund gedrängt.
In der Folge meinte der Geschäftsführer die Beschäftigten verhöhnen zu können, sie würden ohnehin „hauptsächlich nur Dinge verschrauben“. Ohne den Betriebsrat vorher überhaupt unterrichtet zu haben, durfte er am 31.1. in der Presse verkünden: Der Abschluss des Gebäudeverkaufs „steht kurz bevor“. Und schon am 3.3. (vor Krisenausbruch und vor Beginn der Coronapandemie-Welle) konnte er in der RNZ melden, die Schließung sei durch; es gehe nur noch um den Abschluss eines Sozialplans.
In der ab 9.3. tagenden Einigungsstelle unter Vorsitz eines Arbeitsrichters im Ruhestand wurden nach Vorlage der Finanzgarantien durch den Konzern („Patronatserklärung“) in der vierten Sitzung am 20.3. die Interessenausgleichs- und Sozialplan-Vereinbarung sowie das Dokument zur Transfergesellschaft unterzeichnet.
Durchsetzen konnte die Geschäftsführung auch die Verlängerung einer seit Januar geänderten Vereinbarung zur Arbeitszeit und Besetzung der drei Schichten in der Montage bis 30.6. Infolge des deutlich gestiegenen Krankenstandes kann fehlendes Personal durch Leiharbeitskräfte und Beschäftigte aus anderen Haldex-Standorten aufgefüllt werden (bis zu einem maximalen Personalstand von 46. (Bis 31.3. waren dies noch 38, die normale Beschäftigtenzahl). Samstags- und Sonderschichten (unter 30 Euro pro Tag Prämie brutto) sind ebenfalls möglich, unter Freiwilligkeit.
„MIT WEITEREN KAMPFMASSNAHMEN WÄRE MEHR DRIN GEWESEN“
Die Meinung in der Belegschaft über Verlauf und Ergebnis ist geteilt. Einerseits wird darauf verwiesen, „ab Mitte März wäre unter ‘Corona’ kein Widerstand mehr möglich gewesen“. Andere sind überzeugt, es war mehr drin: „Als es noch ging, in den ersten acht Wochen nach Jahresbeginn, ist versäumt worden, entscheidende Kampfschritte einzuleiten.“
Wirkung auf Betriebsrat und Belegschaft hatten auch Drohungen der Geschäftsführung: Der Konzern könne die hiesige GmbH im Zusammenhang mit „Verlustvorträgen in zweistelliger Millionen Euro-Höhe“ aus der Vergangenheit auch in die Insolvenz gehen lassen. Seitens des IG Metall-Vertreters und des Rechtsanwalts des Betriebsrats wurde dies anhand BAG-Urteilen leider noch bestärkt: Die „gebotene Rücksichtnahme auf die wirtschaftlichen Verhältnisse des Unternehmens“ könne „die Einigungsstelle sogar zum Unterschreiten einer aus dem Betriebsverfassungsgesetz folgenden Untergrenze eines Sozialplans zwingen“.
Zwar hatte der Konzern eine „Liquiditätsausstattungs-Garantie zur Abwendung einer rechnerischen Verschuldung“ der GmbH zum 31.12.2018 gekündigt. Anlässlich der Unterschrift unter den Sozialplan am 20.3. war dann aber die Vorlage einer entsprechenden „Patronatserklärung“ kein Problem. Darin „verpflichtet sich die Haldex AB (schwedische Muttergesellschaft), alle Verbindlichkeiten aus dem Sozialplan in vollem Umfang fristgerecht zu erfüllen“.
Drei ehemalige Betriebsrats-Mitglieder haben nach Abschluss des Sozialplans einen Leserbrief geschrieben, der am 6.4. im Lokalteil der RNZ veröffentlicht wurde: „ … Über ein halbes Jahrhundert galt Graubremse/Haldex als Kampf- und Traditionsbetrieb der IG Metall. Entsprechend kämpferisch die ersten zwei Monate nach Schließungsankündigung. Unbegreiflich und traurig, wie es danach im Januar/Februar möglich war, das Werk ohne weiteren gewerkschaftlichen Widerstand plattzumachen …“
Bestätigt wird berechtigte Kritik auch durch die höchst befremdliche Stellungnahme vom 23.3. auf der Internetseite der IG Metall Heidelberg: „Die Geschäftsleitung hatte die Maßnahme im Herbst angekündigt und war auf den erbitterten Widerstand der Belegschaft gestoßen. Allein deshalb konnte die Maßnahme entgegen den ersten Planungen des Konzerns, den Standort zum Jahresende zu schließen, über den 31.12.19 gestreckt werden und ein gut dotierter Sozialplan erreicht werden, sagte der, zweite Bevollmächtigte der IG Metall.“ Als ob der Konzern innerhalb von acht Wochen den Betrieb jemals hätte schließen können. Nicht einmal der Konzernvorstand ging davon aus.
Im Gegensatz dazu waren die bis Dezember durchgeführten Aktionen von der Belegschaft stets als Auftakt zu eigentlichen Kampfmaßnahmen zum Jahresbeginn verstanden worden. Zumindest eine Schließung sollte verhindert werden; falls dies am Ende doch nicht gelingen sollte, könnten die Beschäftigten wenigstens erhobenen Hauptes aus dem Betrieb gehen und der Konzern müsste beim Sozialplan ein deutlich größeres Stück drauflegen. So die klare Stoßrichtung,
SOZIALPLAN-BESTIMMUNGEN
Da eine Betriebsversammlung nicht möglich war, informierte der Betriebsrat am 23.3. die drei Schichten jeweils in einer Info-Veranstaltung im Detail über die Sozialplan-Regelungen. Die Tage zuvor ins Home Office versetzten Angestellten waren per Internet zugeschaltet. Im Schnitt sind die 80 Beschäftigten bereits über 50 Jahre alt und arbeiten mehr als zwei Jahrzehnte im Betrieb. Gemäß Sozialplan erhalten die bis 59-Jährigen Abfindungen von durchschnittlich rund 129.000 Euro brutto (einschließlich Kinder- und Schwerbehinderten-Beträge). Bei über einem Viertel der 70 Betroffenen werden die Abfindungen allerdings aufgrund einer Obergrenze von 195.000 Euro „gedeckelt“.
Für die unteren Entgeltgruppen werden pro Beschäftigungsjahr bis 1,6 Monatsentgelte an Abfindung gezahlt, für die mittleren sind es bis zu 1,4 und in den oberen Entgeltgruppen etwa 1,2 Monatsentgelte pro Jahr. Bei den höchsten Verdiensten und hoher Betriebszugehörigkeit liegt der Faktor auch unter 1 (bis 0,6). Nach Transfergesellschaft und anschließendem Arbeitslosengeld-Bezug droht besonders Un- und Angelernten ohne Arbeit nach verbrauchter Abfindung trotzdem vielfach Hartz IV.
10 Beschäftigte über 60 Jahre gelten als „rentennah“. Sie bekommen als Ausgleich für die Netto-Verluste in der Transfergesellschaft (Aufzahlung von 60 auf 90 Prozent), beim Arbeitslosengeld und bei der Rente im Durchschnitt an die 70.000 Euro Abfindung (brutto).
Auch wenn bei einigen Komponenten deutliche Abstriche hingenommen wurden, ist der Sozialplan, für sich betrachtet, als akzeptabel anzusehen. Ihn aber mit „Konditionen auf oberstem Niveau“ in den Himmel zu loben, wie der IG Metall-Bevollmächtigte am 23.3. in der RNZ zitiert wird, ist unangebracht. Die Möglichkeiten, sowohl einen um rund 20.000 Euro höheren Abfindungs-Durchschnitt wie auch einen höheren „Deckel“ durchzusetzen waren durchaus vorhanden. Noch fragwürdiger sind Aussagen: Man habe immerhin „19 statt 17 Beschäftigte retten können“, und bei den „zahlreichen ungelernten Beschäftigen“ seien die „eher schlechten Aussichten auf einen neuen Job berücksichtigt“.
Vom 12,7 Millionen Sozialplan-Volumen entfallen rund 3,5 auf die Transfergesellschaft, in Form von Aufzahlungen beim Kurzarbeitergeld von 60 (67) auf 80 Prozent sowie Qualifizierungs- und Weiterbildungs-Maßnahmen. Dass Vermittlungsquoten der Transfergesellschaft in der Vergangenheit in der Rhein-Neckar-Region „von über 60 Prozent“ auch 2021 realistisch sein werden, muss bezweifelt werden.
HALDEX-KONZERN AM SCHLINGERN
Haldex ist nach dem Übernahme-Poker seitens Knorr-Bremse 2016/17 nicht mehr auf die Füße gekommen. 2018 und 2019 wurden in Europa rote Zahlen geschrieben. Jetzt wird das Werk in Heidelberg geschlossen, in dem seit 2016 schwarze Zahlen verzeichnet werden.
Zuletzt hat Haldex Mitte Februar bei der EU-Wettbewerbsbehörde Beschwerde dagegen eingereicht, dass Knorr als größter Konkurrent immer noch 10,17 Prozent der Haldex-Aktien halten könne und somit nach schwedischem Recht eine Sperrminorität besitze.
Der Haldex-Aktienkurs ist längst in den Keller gesunken: Lag er zu Zeiten des Bieter-Gefechts zwischen ZF und Knorr-Bremse bei 14 Euro, waren es Anfang 2019 noch 4,50; bis Ende März 2020 ist die Aktie sogar auf 2,24 Euro abgestürzt. Ein Vorstandsmitglied nach dem anderen verlässt inzwischen das sinkende Schiff. Die verzweifelte Suche nach einem Käufer oder Investor bleibt seit zwei Jahren ohne Erfolg. Es mangelt an Innovation, Entwicklung und Know How, was auch ZF Ende 2016 als Grund für seinen Absprung bezeichnet hatte.
Das europäische Haldex-Auslieferungslager in Weyersheim (bei Straßbourg, Corona-Risikogebiet) ist seit 23.3. geschlossen. Im Werk Landskrona (Schweden) wird aufgrund der Krise im Fahrzeugbau seit 30.3. für 250 Beschäftigte einen Monat Kurzarbeit gefahren. Am 1.4. eine Pressemitteilung des Vorstandes – Corona als Vorwand für ohnehin vorhandenen Markt- und Geschäftseinbruch: „Die Auswirkungen von COVID-19 führten im 1. Quartal zu einm geschätzten Umsatzrückgang von 15 – 20 Prozent und einer geringeren Marge.“ Haldex ist heftig auf Schlinger-Kurs. Keine guten Aussichten für die weltweit 2.200 Beschäftigten.
(mah)