Podiumsdiskussion mit MdBs zur Rüstungspolitik
Friedens- und Sicherheitspolitik auf dem Prüfstand
Bundestagskandidat*innen nehmen Stellung
Am 15. Juni 2021 stellten sich Vertreter von vier Parteien der friedens- und sicherheitspolitischen Diskussion, die hybrid im Internet und im Heinrich-Pesch-Haus in Ludwigshafen durchgeführt wurde. Monika Bossung-Winkler von pax christi Speyer begrüßte im Namen der Veranstalter die Anwesenden und erklärte, dass von der CDU wegen Terminschwierigkeiten niemand kommen konnte und die AfD aus prinzipiellen Erwägungen nicht eingeladen worden sei. Aus dem Wahlkreis Mannheim waren die Kandidatinnen Isabel Cademartori (SPD) und Gökay Akbulut (Linke) gekommen und für Ludwigshafen die Kandidaten Armin Grau (Grüne) und Michael Goldschmidt (FDP).
Die rund 40 Teilnehmer*innen erlebten eine informative Diskussion, die Andreas Zumach professionell moderierte.
Sicherheit neu denken im Überblick
Zu Beginn stellte Stefan Maaß Grundzüge des Szenarios „Sicherheit neu denken – Von der militärischen zur zivilen Sicherheit“ dar, das pazifistische Mitglieder der Evangelischen Landeskirche in Baden entwickelt haben. Es beschreibt, wie ein Ausstieg aus der militärischen Friedenssicherung und ein Umstieg in eine rein zivile Sicherheitspolitik bis zum Jahr 2040 gelingen könnte (ähnlich wie der Ausstieg aus der Atom- und Kohleenergie). Ausgangspunkt ist, dass Europa auf aktuelle Gefahren und Bedrohungen mit deutlichen Erhöhungen seiner Militärbudgets reagiert. Um nachhaltige Sicherheit zu erhalten, sind Diplomatie und wirtschaftliche Entwicklungsperspektiven für die EU-Anrainerstaaten unverzichtbar. Grundlage des Szenarios Sicherheit neu denken (Snd) sind die Berichte der Bundesregierung zur Umsetzung des Aktionsplans „Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung“.
Das Szenario stellt konkret dar, dass es bereits vielfältige Ansätze für eine zivile Sicherheitspolitik gibt, die künftig konsequent weiter ausgebaut werden könnten. Es beschreibt fünf Säulen (Bereiche) einer zivilen Sicherheitspolitik: Gerechte Außen(wirtschafts)beziehungen, nachhaltige Entwicklung der EU-Anrainerstaaten, Teilhabe an der internationalen Sicherheitsarchitektur, partizipative Demokratie und Konversion der Bundeswehr und der Rüstungsindustrie. Dabei empfiehlt das Szenario die Aushandlung und Umsetzung einer Wirtschafts- und Sicherheitspartnerschaft mit Russland bzw. der Eurasischen Wirtschaftsunion sowie Entwicklungspartnerschaften mit der Arabischen Liga und der Afrikanischen Union. Um die wirtschaftliche, ökologische und soziale Entwicklung dieser Staaten zu unterstützen, sind jährliche Investitionen von 20 Milliarden Euro nötig. Die UNO müsste jährlich 33 Milliarden Euro aus Deutschland erhalten und strukturell gestärkt werden, was durch reduzierte Rüstungsausgaben möglich wird. Das Szenario umfasst auch ein breites Fortbildungs- und Ausbildungsprogramm in ziviler Konfliktprävention und Konfliktbearbeitung, zivilem Widerstand und widerstandsfähiger Demokratie. Das Szenario entzaubert den Mythos von der Wirksamkeit von Gewalt, indem es wissenschaftliche Studien berücksichtigt, die zeigen, dass Konfliktvermeidung und Konfliktlösung mithilfe von Waffen und Militär sowie Abschreckung häufig gescheitert sind. Um die Vision einer zivilen Sicherheitspolitik ohne Bundeswehr und ohne Rüstungsindustrie Wirklichkeit werden zu lassen, sind konkrete Maßnahmen wie etwa Bundestagsbeschlüsse 2025 und 2035 und Überzeugungsarbeit bei den Abgeordneten zu leisten.
Was die Kandidierenden zu Sicherheit neu denken meinen
Vor dem Einstieg in die Fragerunden bot Moderator Andreas Zumach (Journalist, u. a. als UNO-Korrespondent für die tageszeitung) den Kandidierenden die Möglichkeit, ihre Meinung zum Szenario zu äußern.
Alle vier Kandidierenden äußerten sich positiv über das Szenario, weil es eine Friedensvision ausführlich und konkret beschreibe und kritisierten die zu große Bedeutung von Rüstung. Allerdings bezweifelten Cademartori, Goldschmidt und Grau, dass Deutschland einen Alleingang oder Sonderweg beschreiten könne. Akbulut hingegen bemängelte, dass zur Friedenspolitik die Kritik am Kapitalismus und am System sowie an der Nato gehöre, auch wenn sie sich mit vielen Forderungen des Szenarios identifiziere. Die Parteien würden zwar von Frieden reden, bei Abstimmungen aber im Widerspruch dazu abstimmen.
UN-Atomwaffenverbotsvertrag und Abzug von Atomwaffen aus Deutschland
In Bezug auf einen Sonderweg oder Alleingang hakte Zumach nach: „Weshalb wird der Einfluss Deutschlands immer so klein geredet?“ Das verknüpfte er mit der Frage, wie die Kandidierenden zum Beitritt Deutschlands zum UN-Atomwaffenverbotsvertrag (AVV) und dem Abzug von Atomwaffen aus Deutschland stehen.
Grau sprach sich für einen Beitritt zum AVV und für den Abzug der US-Atomwaffen aus Büchel aus, deren Stationierung dort nicht mit dem Völkerrecht vereinbar sei. Statt einseitiger Abrüstung halte er eine gemeinsame Abrüstungspolitik für wichtig.
Akbulut sprach sich für den AVV und das Ende der nuklearen Teilhabe aber gegen neue Waffensysteme aus, weil sie eine Gefahr für Umwelt und Gesellschaft darstellen. Für Goldschmidt sind Atomwaffen etwas Schreckliches, für die Abschreckung seien sie „hirnlos“ aber unverzichtbar, sofern es Aggressoren gebe (wie Russland).
Cademartori sagte, die SPD sei für eine atomwaffenfreie Welt, gab aber zu bedenken, dass mit einem Abzug der A-Waffen wenig gewonnen wäre, wenn sie in Polen wieder aufgebaut würden. Sie setze große Hoffnungen auf eine Einigung zwischen Russland und den USA.
Zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Rüstung?
In der nächsten Frage ging es um die Verpflichtung der Nato-Mitgliedsländer, zwei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts (BIP) für Rüstung auszugeben. Der Moderator erinnerte daran, dass das Zwei-Prozent-Ziel nicht die Idee von Ex-Präsident Trump war, sondern von den Nato-Staaten 2014 beschlossen wurde. Zumach hat dank jahrzehntelanger Tätigkeit als Journalist ein Expertenwissen, mit dem er manche Äußerungen richtigstellen oder in den historischen Zusammenhang stellen konnte.
Grau sieht das Zwei-Prozent-Ziel als Signal für Aufrüstung dem man sich nicht unterwerfen solle. Deutschland könne einen ersten Schritt in die entgegengesetzte Richtung machen. Cademartori sagte, dass man bei der Berechnung der zwei Prozent nicht nur die reinen Verteidigungsausgaben sehen dürfe, sondern auch andere Ausgaben für Friedens- und Sicherheitspolitik berücksichtigen müsse, etwa bestimmte Ausgaben für Entwicklungszusammenarbeit. Klar gegen das Zwei-Prozent-Ziel sprach sich auch Akbulut aus und kritisierte, dass auch die EU die Militarisierung vorantreibe, weil im EU-Haushalt mehrere Milliarden für Rüstungsausgaben eingeplant sind.
Welche Rolle spielt die EU?
Die EU hat zum ersten Mal in ihrer mittelfristigen Finanzplanung mehrere Milliarden für gemeinsame Rüstungsprojekte beschlossen, sagte Zumach. Zusätzlich wurden für die „Ständige Strukturierte Zusammenarbeit“ (englische Abkürzung PESCO) über 40 gemeinsame Rüstungsprojekte der EU definiert, die von interessierten EU-Staaten auch im Alleingang realisiert werden können. Es gebe in Deutschland Stimmen, die sich für eine gemeinsame europäische Atomstreitmacht aussprächen. Was ist von der Rolle der EU als Global Player zu halten?
Der Vertreter der Grünen sprach sich für eine stärkere Rolle der EU in der Außenpolitik aus. Diese müsse zivil statt militärisch und auf Krisenprävention ausgerichtet sein. Die EU habe nicht die Aufgabe aufzurüsten, eine europäische Atomrüstung lehne er eindeutig ab.
Goldschmidt betonte, wie wichtig Abschreckung sei. Nach einer Risikoanalyse gelte es entsprechende defensive Waffen zu beschaffen, auch gegen Cyberangriffe. Es käme dem Einsatz von Waffen gleich, wenn China immer mehr in Afrika investiere und wirtschaftliche Abhängigkeiten schaffe.
Die Verteidigungsfähigkeit in der EU zu erhalten ist Cademartori wichtig. Sie sprach sich für mehr Kooperation der Rüstungsunternehmen und gemeinsame Waffensysteme aus, um Mehrausgaben zu vermeiden. Als die SPD unlängst dafür plädiert habe, die Diskussion über die Bewaffnung von Drohnen weiterzuführen, habe es mehrere Wochen lang heftige Kritik von den Befürwortern der Bewaffnung gegeben. Dazu gebe es auch in der SPD unterschiedliche Meinungen, sie sei für den Diskurs.
Die personelle und finanzielle Ausdehnung der EU-Grenzschutzorganisation Frontex prangerte Akbulut als EU-Militarisierung an, sie habe sich in Griechenland vor Ort informiert. Es dürfe keine Abschiebungspolitik gegen Migranten betrieben werden und die Ausgaben für Rüstungsgüter und Rüstungsexporte als Ursache für Flucht müssten gesenkt werden. Die EU und insbesondere Deutschland dürften sich nicht am globalen Wettrüsten beteiligen.
Deutschland einer der größten Waffenexporteure
Zumach erinnerte daran, dass bereits der frühere SPD-Kanzler Willy Brandt und danach die rot-grüne Bundesregierung Einschränkungen bei Waffenexporten befürwortet habe. Tatsächlich aber sei Deutschland eine der führenden Rüstungsexportnationen. Wichtig war auch sein Hinweis, dass Rüstungsexporte im Kriegswaffenkontrollgesetz und im Außenwirtschaftsgesetz geregelt sind und diese sich widersprechen würden. Deshalb sei ein einheitliches Rüstungsexportkontrollgesetz notwendig.
Cademartori sprach sich für dafür aus, die gesetzlichen Bestimmungen zu verschärfen und Exporte in Spannungsgebiete zu verbieten und die Endverbleibskontrolle zu verbessern (das Empfängerland darf die Waffen nicht weitergeben).
Für weniger Rüstungsexporte (v. a. in Kriegsgebiete) und bessere Endverbleibskontrollen plädierte auch Grau. Er befürwortete ein Verbandsklagerecht, sodass zivilgesellschaftliche Organisationen gegen Rüstungsexporte vor Gericht vorgehen können.
Akbulut kritisierte Rüstungsexporte radikal und bezweifelte, dass SPD und Grüne diese tatsächlich einschränken wollen, zumal die Grünen auch von der Rüstungsindustrie Parteispenden erhielten.
Fragen aus dem Publikum und dem Chat mussten aus Zeitgründen auf die Frage konzentriert werden, wie die politischen Beziehungen zwischen Deutschland zu Russland sein sollten.
Die Beziehungen zu Russland
Mit Blick auf Demokratie und Menschenrechte hält Cademartori in Russland Änderungen nötig. Der Konflikt in der Ukraine müsse gemäß dem Minsker Abkommen gelöst und Nordstream 2 solle weitergebaut werden.
Grau ist der Meinung, dass Russland eine nationalistische und rückwärts gerichtete Politik betreibe und Menschenrechte verletze. Daher sei er gegen deutsche Alleingänge. Gegen Nordstream 2 ist er, weil dies nicht nur klimaschädlich sei, sondern auch weil es die Ukraine schwäche.
Auch Goldschmidt sieht Russland skeptisch, denn es betreibe eine Politik von Zuckerbrot und Peitsche.
Der Westen hätte durch die Nato-Osterweiterung und die wieder aufgenommenen Nato-Großmanöver das Verhältnis zu Russland verschlechtert, sagte Akbulut. Allerdings seien die Unterdrückung der Menschen, wie etwa die Verfolgung von Homosexuellen nicht akzeptabel.
Cademartori betonte, dass die SPD sich als Brückenbauer zwischen Deutschland und Russland sehe. Es sei weiterhin wichtig für Wandel durch Annäherung einzutreten, wie das die SPD mit ihrer Entspannungspolitik praktiziert habe.
Grau wies darauf hin, dass die osteuropäischen Länder aus eigenem Willen der Nato beigetreten seien. Die Ukraine sei exemplarisch für die Dilemmata im Verhältnis zu Russland.
Weiterführende Informationen zu Sicherheit neu denken
Das Internetportal der Initiative Sicherheit neu denken bietet eine Fülle von Informationen (Vision, Veranstaltungen, Newsletter, Mitmachen, …) hier sicherheitneudenken.de
Dem schnellen Überblick dient eine Kurzbeschreibung hier sicherheitneudenken.de/sicherheit-neu-denken-unsere-vision
und (Kurz-)Videos hier sicherheitneudenken.de/youtube-links
Der Artikel ist auf der Webseite der DFG-VK MA-LU mannheim.dfg-vk.de
erschienen. Der Kurzlink lautet
https://is.gd/eCch75