Regina Hagen: Abrüstung statt Aufrüstung Keine Stationierung von Mittelstreckenraketen in Deutschland
Vielen Dank für die Einladung, hier zu sprechen!
Das Ostermarsch-Bündnis Mannheim stellt in seinem Aufruf für den heutigen Ostermarsch fest, Verhandlungen über Frieden in der Ukraine „erfordern […] vertrauensbildende Maßnahmen hin zu einer gemeinsamen Sicherheitspolitik, die auf Demilitarisierung, Rüstungskontrolle und Abrüstung beruht.“
Im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung ist von Demilitarisierung keine Rede, ganz im Gegenteil. Dort heißt es, dass eine direkte Bedrohung von Russland ausgehe. Und auch: „Die […] Bedrohungslage zwingt uns mit dem Ziel der Abschreckung zur Erhöhung unserer Verteidigungsausgaben.“ Militarisierung und Abschreckung also sollen nach Ansicht der neuen Koalition unsere Sicherheit erhöhen!
Rüstungskontrolle und Abrüstung hingegen sind im Koalitionsvertrag lediglich ein „langfristiges Ziel“. In Wirklichkeit gibt die neue Koalition ein Bekenntnis zur Aufrüstung ab. Keine Rede von Diplomatie und Bemühungen um eine gemeinsame Sicherheitspolitik.
Finden wir das gut?
Nein!
Auf keinen Fall! Egal, wie jede und jeder von uns zu Russland steht, eines ist klar: Russland ist Nachbar in Europa, und Russland wird unser Nachbar bleiben. Frieden in Europa kann es daher nur gemeinsam mit Russland geben!
Ich bin nicht naiv und sage, dass das einfach ist. Auch US-Präsident Trump, der damit prahlte, er werde den Ukrainekrieg binnen 24 Stunden beenden, deutet nun, drei Monate nach Amtsantritt, einen Rückzieher an. Wenn der Frieden nicht rasch „machbar“ sei, sagten Trump und sein Außenminister Rubio vor zwei Tagen, würden die USA sich eben anderen Themen zuwenden. Um Frieden in der Ukraine soll sich Europa dann alleine bemühen.
Die europäischen Ländern sollten also alles vermeiden, was die Lage weiter eskaliert. Eine Stationierung von US-Mittelstreckenwaffen in Deutschland – und damit sind wir beim Kernthema meines Redebeitrags – wäre aber genau das: eine weitere Eskalation der Rüstungsspirale.
Wollen wir das?
Nein!
Schauen wir uns den Text der Vereinbarung an, die Bundeskanzler Scholz und US-Präsident Biden im letzten Sommer bekanntgaben. Diese Vereinbarung ist nur wenige Zeilen lang und besagt unter anderem: „Die Vereinigten Staaten von Amerika werden, beginnend 2026, als Teil der Planung zu deren künftiger dauerhafter Stationierung, zeitweilig weitreichende Waffensysteme ihrer Multi-Domain Task Force in Deutschland stationieren.“[1]
Klingt verworren? Ist es auch. Was soll das denn sein, eine zeitweilige Stationierung als Teil zur Planung einer dauerhaften Stationierung?
Die Vereinbarung zählt folgende „weitreichenden Waffensystemen“, also Mittelstreckenwaffen, auf: „SM-6, Tomahawks und derzeit in Entwicklung befindliche hypersonische Waffen“.
Nach Deutschland soll wohl eine Version der ballistischen Rakete Standard Missile 6 (SM-6) verlegt werden, die mit Hyperschallgeschwindigkeit 1.600 km weit fliegt. Der Marschflugkörper Tomahawk fliegt je nach Variante bis zu 2.500 km weit. Und die Reichweite der Hyperschallrakete »Dark Eagle« beträgt etwa 2.700 km.
Stellt Euch mal eine Landkarte von Europa vor, einschließlich Russland bis zum Ural. Vom US-Stützpunkt Grafenwöhr im Osten Bayerns liegt Moskau etwa 2.000 km entfernt. Mit 2.700 km geraten auch Ziele weit im russischen Kernland ins Visier, nicht weit weg vom Ural.
Die Raketen und Marschflugkörper sind auf große Sattelschlepper montiert, also mobil. Nuklear bewaffnet sind sie nicht, sondern konventionell, bzw. Dark Eagle hat gar keinen Sprengkopf – der Hyperschallgleiter zerstört ein Ziel aufgrund seiner hohen Geschwindigkeit durch die schiere Wucht des Aufpralls.
Macht das die Waffen also harmlos?
Nein, keineswegs!
Ein Marschflugkörper fliegt zwar langsam, aber besonders tief, buchstäblich unter dem Radar, und kann deshalb von den Frühwarnsystemen der gegnerischen Seite nur schwer entdeckt werden. Hyperschallraketen hingegen fliegen besonders schnell – Dark Eagle wird eine Geschwindigkeit bis 21.000 km/h nachgesagt. Werden solche Waffen von Frühwarnsystemen entdeckt, bleibt kaum Zeit, um zu reagieren.
Die zur Stationierung in Deutschland vorgesehenen Mittelstreckenwaffen der USA eignen sich daher gut, mit einem Überraschungsschlag so genannte »Hochwertziele« auf russischem Territorium auszuschalten, Abschussrampen für Atomraketen etwa oder mobile Kommandozentralen. Und Frühwarnradars. Russland ist auf landgestützte Frühwarnsysteme angewiesen, da es kaum Frühwarnsatelliten im Weltraum hat.
Es liegt also auf der Hand, dass Russland die Stationierung dieser Systeme in Deutschland als Bedrohung einstufen wird. Präsident Putin bezeichnete sie gar als „Messer an der Kehle“.[2] Damit erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass es zu Fehlwahrnehmungen, Missverständnissen, Computerfehlern und falschen Alarmmeldungen kommt und Russland einen Gegenangriff startet, obgleich es gar nicht angegriffen wird. Dann würde die Situation leicht außer Kontrolle geraten, denn der Westen, die NATO, würde ebenfalls Waffen abschießen, es könnte sogar zum Einsatz von Atomwaffen kommen.
Deutschland läge dann im Zentrum des Geschehens, denn hier sind die US-Waffen ja stationiert. Sie fliegen nach Wiesbaden, weil hier seit gut drei Jahren die Multi-Domain Task Force und das 56. Artilleriekommando untergebracht sind, denen die Mittelstreckenwaffen zugeordnet sind. Sie fliegen nach Stuttgart, weil im EUCOM die Befehlszentrale des US-Militärs für Europa ist. Sie fliegen nach Grafenwöhr, wo das 41. Artilleriekommando der USA schon vor sieben Jahren reaktiviert wurde – Ihr seht, die Stationierung der US-Mittelstreckenwaffen war seit Jahren geplant. Die Mission des Kommandos in Grafenwöhr laut seiner eigenen Website: „Planen, Vorbereiten, Durchführen und Bewerten von Operationen”, darunter „weitreichende Präzisionsschläge“. Grafenwöhr gilt daher als potenzieller, wenn auch unbestätigter Stationierungsort der US-Mittelstreckenwaffen.
Vermutlich fliegen russische Raketen dann auch nach Berlin und anderen politisch oder militärisch wichtigen Orten, wie zur Ramstein Airbase.
Wollen wir uns ein solches Szenario vorstellen?
Nein!
Um genau eine solche Bedrohung auszuschließen, hatten US-Präsident Reagan und der sowjetische Generalsekretär Gorbatschow 1987 den INF-Vertrag geschlossen. Er verbot den USA und der Sowjetunion bzw. in der Nachfolge Russland den Besitz landgestützter Mittelstreckensysteme. Der Vertrag führte binnen weniger Jahre zur Verschrottung sämtlicher Waffen dieser Kategorie in Westeuropa und dem damaligen Ostblock. Nicht durch die Stationierung der Mittelstreckenwaffen, sondern durch ihre Abschaffung hatte sich unsere Sicherheit erhöht!
Vor fünf Jahren, in seiner ersten Amtszeit als US-Präsident, kündigte Donald Trump den INF-Vertrag auf, Russland zog sofort nach. Beide Seiten hatten sich zuvor der Vertragsverletzungen beschuldigt. Die vorgesehenen Mechanismen zur Streitschlichtung und Verifikation hatten beide Seiten einfach ignoriert – und einen vorbildlichen völkerrechtlichen Vertrag leichtfertig aufgegeben.
Ohne den INF-Vertrag hindert die USA und Russland nun nichts an einem neuen Mittelstrecken-Wettrüsten. Russland ist schon so weit und hat einen ersten Raketentyp vergangenen November demonstrativ gegen die Ukraine eingesetzt, bei einem Angriff auf eine Rüstungsfabrik in Dnepro.
Wollen wir uns mit dieser Rüstungseskalation abfinden?
Nein!
Die Sache wird durch einen weiteren Faktor erschwert: Auch in Europa wird an landgestützten Mittelstreckenwaffen gearbeitet. Die deutsche Regierung will mit sechs Partnerländern eigene Marschflugkörper mittlerer Reichweite entwickeln, bauen und stationieren. Das Projekt läuft unter dem Namen ELSA – European Long Range Strike Approach – und wurde u.a. von Kanzler Scholz initiiert. Beteiligt sind außer Deutschland aktuell Frankreich, Italien, Polen, Spanien, Schweden und das Vereinigte Königreich. Die Rüstungsindustrie rangelt sich schon um die Aufträge.
Und Deutschland will es nicht bei einem Marschflugkörper belassen. Im Koalitionsvertrag steht: „Wir fördern verstärkt Zukunftstechnologien für die Bundeswehr und führen diese in die Streitkräfte ein. Dies gilt insbesondere für […] Hyperschallsysteme.“ (S. 131) Eigene Hyperschallraketen also für die Bundeswehr?
Erhöht sich damit etwa unsere Sicherheit?
Nein!
Wir müssen aus dieser Rüstungsspirale raus, und das geht nur gemeinsam!
Die USA, Europa und Russland müssen miteinander reden – die Ausrede, dass eine Seite gar nicht verhandeln wolle, lassen wir nicht gelten, egal, um wen es geht.
Ich spreche hier für die Kampagne »Friedensfähig statt erstschlagfähig! Für ein Europa ohne Mittelstreckenwaffen«. Das ist es, was wir wollen:
Keine neuen Mittelstreckenwaffen, nicht in Deutschland, nicht in Russland, nirgendwo in Europa!
Abzug der Multi-Domain Task Force und des Artilleriekommandos aus Wiesbaden und auch des Artilleriekommandos aus Grafenwöhr!
Dialog statt Aufrüstung! Verhandlungen über einen neuen Mittelstreckenvertrag!
Nicht Missachtung und Schwächung, sondern Stärkung des Völkerrechts!
Und wir fordern neue Initiativen für gemeinsame Sicherheit und Zusammenarbeit und Europa!
Wir wissen, das ist nicht einfach, und dennoch:
Wir beharren auf der langfristigen Vision einer gemeinsamen Friedensordnung in Europa!
Vielen Dank für’s Zuhören!
Regina Hagen ist aktiv im Darmstädter Friedensforum und im Kampagnenrat »Friedensfähig statt erstschlagfähig! Für ein Europa ohne Mittelstreckenwaffen« (friedensfaehig.de).
[1] Gemeinsame Erklärung der Regierungen der Vereinigten Staaten von Amerika und der Bundesrepublik Deutschland zur Stationierung weitreichender Waffensysteme in Deutschland, 10. Juli 2024. Von hier auch die weiteren Zitate.
[2] Präsident Putin, Rede zur Anerkennung der »Volksrepubliken« Donezk und Lugansk, 21.2.2022.