Armut? Welche Armut?
Jubelmeldungen können nicht darüber hinwegtauschen, dass die Armut in Deutschland wächst – nicht zuletzt aufgrund eines Ausufernden Niedriglohnsektors
msc – Die Sozialstatistiken belegen es: Trotz geringer Arbeitslosigkeit wächst in Deutschland die Armut. Kein Wunder angesichts der Ausbreitung von Niedriglöhnen, prekären Jobs und Arbeitslosenhilfe auf Elends-Niveau. Als Konsequenz daraus müsste eigentlich mehr Umverteilung von oben nach unten folgen. Das aber gefällt einigen nicht. Zum Beispiel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Die Armut sei nichts als ein „statistischer Trick“, schreibt sie. Dem schließt sich – ausgerechnet – SPD-Arbeitsministerin Andrea Nahles an.
Die Presse ist voll von Jubelmeldungen über die deutsche Wirtschaft: Die Konjunktur läuft, die Arbeitslosigkeit geht zurück, die Unternehmensgewinne steigen und die Löhne sogar auch mal. Doch der Paritätische Wohlfahrtsverband mahnt: Die Armut ist auf Rekordhoch.
Das ist nicht überraschend. Schließlich sind immer noch mehr als sechs Millionen Menschen abhängig von magerer staatlicher Unterstützung. Die Einkommen der unteren Lohngruppen steigen seit vielen Jahren nicht. Deutschland hat den größten Niedriglohnsektoren in der EU. Zu viele Menschen gehen arbeiten und können von ihrem Lohn nicht leben. Alles dank der von Rot-Grün durchgesetzten Agenda 2010, die Deutschlands Beschäftigte „wettbewerbsfähig“ machen sollte.
Das kann das Agenda-Kampfblatt FAZ natürlich nicht durchgehen lassen. Die Armut sei nichts als ein statistischer Trick, wettert sie. Denn als arm gilt jemand, wenn er weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens erzielt. In Deutschland also ab 1870 Euro im Monat für eine vierköpfige Familie. „Die 60-Prozent-Grenze, eben die relative Definition von Armut, sorgt dafür, dass es immer Armut geben wird, solange es Unterschiede bei den Einkommen gibt. Verdoppeln sich in einer Gesellschaft alle Einkommen, verdoppelt sich nach dieser Definition nämlich automatisch auch die Armutsgrenze,“ so die FAZ.
Dem stimmt Arbeitsministerin Nahles zu: „Der Ansatz führt leider schnell in die Irre“, ließ sie die Süddeutsche Zeitung wissen. Mit solchen Berechnungen laufe die Politik und die Gesellschaft Gefahr, den Blick für die wirklich Bedürftigen zu verlieren. „Es gibt zum Beispiel mehr illegale Einwanderer und sehr viel jüngere Erwerbsgeminderte, da haben wir es mit wirklicher Armut zu tun.“
Nun, Letzteres stimmt. Der ganze Rest ist Quark.
Das 60-Prozent-Kriterium ist international üblich. Der Einwand, dies messe nur „relative Armut“, ist ein uralter Hut, der immer wieder hervorgezogen wird, dadurch aber nicht besser wird. Denn: Für Armut gibt es kein objektives Maß. Armut wird immer gemessen im Verhältnis zum erwirtschafteten Wohlstand. Einzige Frage dabei: Welcher Vergleichsmaßstab wird herangezogen? Klar, verglichen mit dem Bewohner eines indischen Slums ist jeder deutsche Arbeitslose reich. Aber macht dieser Vergleich Sinn? Nein.
Vernünftigerweise nimmt man zum Maßstab die Einkommen innerhalb einer Gesellschaft. Für Deutschland also die Einkommen in Deutschland. Denn: Ob jemand arm ist, sollte sich immer danach bemessen, wie viel Reichtum eine Gesellschaft produziert, wie viel Reichtum also verteilt werden kann und inwieweit ein armer Mensch von diesem Reichtum ausgeschlossen ist. Und gemessen daran gibt es in Deutschland eben immer mehr Arme. Punkt.
Armut in diesem Sinne ist ein Maß für die Verteilung der Einkommen. Und die ist in Deutschland sehr ungleich – und die der Vermögen übrigens noch viel ungleicher: Den reichsten zehn Prozent der deutschen Haushalte gehören rund drei Viertel aller Vermögen!
Mit dem Verweis auf die „wirklich Bedürftigen“ zeigt Arbeitsministerin Nahles ihre „soziale Ader“. Dabei ist dieser Verweis immer bloß der Auftakt dazu, den Armen Unterstützung zu verweigern – indem sie auf jene deutet, die noch ärmer sind. Nämlich Menschen, die nicht voll arbeiten können – zum Beispiel Erwerbsgeminderte – oder dürfen – so bei illegalen Einwanderern.
Um Armut zu bekämpfen, brauchen wir vor allem eine Stärkung der Gewerkschaften. Es darf keine sachgrundlosen Befristungen mehr geben, keine Leiharbeit und Werkverträge müssen eingegrenzt werden. So kann die Angst vieler Beschäftigter um ihren Arbeitsplatz zurückgedrängt werden. Dies ist Voraussetzung für aktivere Gewerkschaftsarbeit im Betrieb und auch für breitere Arbeitskämpfe. So können wieder mehr Tarifverträge geschlossen und vor allem höhere Löhne durchgesetzt werden, nachdem heute immer noch der durchschnittliche Reallohn eines Beschäftigten nicht höher liegt als im Jahr 2000.