real-Kapital erneut auf der Flucht – aber wohin?
Immer weniger Einzelhandelsbeschäftigte arbeiten unter dem Schutz von Flächentarifen
Vorabanmerkung des Autors: In Mannheim gibt es 2 real-Märkte: auf der Vogelstang, der ehemalige Wertkauf/Walmart und in Neu-Edingen- sowie einer in Brühl (ehemals Plaza, Kolossa,Walmart…).
Nach dem Scheitern der Verhandlungen um einen „modernen“, „flexiblen“ und „wettbewerbsfähigen“ Tarifvertrag, den Metro für seine Supermarktkette Real mit ver.di abschließen wollte, droht der Konzern, sein vorab angekündigtes Erpressungsszenario wahr zu machen: Austritt aus dem Arbeitgeberverband HDE und aus den Einzelhandelstarifen mit ver.di. Von den großen Einzelhandelskonzernen in Deutschland wären dann nur noch Rewe, Lidl/Kaufland, Ikea und – bedingt – Edeka in der Tarifbindung. Rund 70 Prozent der Betriebe sind bereits ‚draußen‘, und schon jetzt arbeiten nur noch 38 Prozent der rund 3,1 Mio. Beschäftigten zu Konditionen von Flächentarifverträgen, so die Angaben des IAB (*). Nach Global nun also Real – was tut sich angesichts dieser ‚Fluchtwelle‘ im Einzelhandel auf den ver.di-Rettungsbooten, wer steht als Fluchthelfer, wer als Schlepper bereit?
Die Konkurrenzen im deutschen Einzelhandel schaffen fortlaufend neue Probleme und Konflikte – für die Kapitalien, die Beschäftigten und für ver.di. Seit fünf Jahren bemühen sich die ver.di-Aktiven bei Amazon mit zahlreichen Streiks und Aktionen, ihren Arbeitgeber, den Nehmer ihrer Arbeitskraft, in die Tarifbindung zu zwingen. Bisher erfolglos, was den Abschluss eines Tarifvertrages betrifft; erfolgreich, weil Amazon seit Beginn dieser Aktionen jährlich die Löhne und Gehälter anpasst, auch um ver.di als überflüssig erscheinen zu lassen.
Die Auseinandersetzung bei Amazon wird beispielhaft für die Unternehmen und Beschäftigten und deren Gewerkschaft im Online-Handel sein und Auswirkungen auf den gesamten Einzelhandel haben. Vergleichbare Bedeutung haben die Forderungen der Kauf- und Warenhäuser Karstadt und Kaufhof nach einer Absenkung bisheriger tariflicher Leistungen.
Edeka und Rewe haben es sich da einfacher gemacht, was die Einbeziehung der Gewerkschaft bzw. das Vermeiden von überregionalen Konflikten betrifft. Mit ihren Logistikbetrieben wie Fuhrpark und Lager haben sie die Wahl zwischen ver.di-Tarifverträgen im Einzel- oder Großhandel, mit ihren Produktionsbetrieben für Fleisch- und Backwaren können sie zwischen Tarifverträgen der NGG und ver.di-Handel wählen; in der lokalen, regionalen Konkurrenzsituation im Lebensmittelhandel haben sie die Option, eigene Filialen zu „privatisieren“, d.h. an einen Einzelhändler zu übergeben, den sie dann als Großhändler beliefern und als „Dienstleister“ für Marketing, Warenwirtschaftssystem usw. „unterstützen“.
Diese privatisierten Filialen nutzen dann die verschiedenen Möglichkeiten zur Tarifflucht bzw. lassen sich im Fall von Neugründungen kaum in die Tarifbindung zwingen. All diesen Unternehmen gemeinsam ist das Interesse, die Tarifverträge im Einzelhandel zu unterlaufen. Dabei können sie sich auf die Unterstützung und das Verständnis ihres Arbeitgeber- und Lobbyisten-Verbandes HDE (Handelsverband Deutschland) verlassen.
Um Tarifflucht zu ermöglichen, hat dieser Verband, der gleichzeitig die Tarifverträge mit ver.di vereinbart, eine zweite Form der Mitgliedschaft angeboten: Sie können Mitglied ohne Tarifbindung werden, d.h. eine sog. o.T.- Mitgliedschaft vereinbaren. Damit dieses Lohndumping flächendeckend und in allen Teilbranchen des Einzelhandels wirken kann, verweigert der HDE seit nunmehr fast 20 Jahren seine Zustimmung dazu, die Tarifverträge im Einzelhandel von den Landesregierungen für allgemeinverbindlich erklären zu lassen. Diese Zustimmung der Arbeitgeber ist nach dem Tarifvertragsgesetz erforderlich. Weder RotGrün noch die seit 2005 CDU-geführten Bundesregierungen haben diese Blockade, faktisch ein Vetorecht für die Arbeitgeber, beseitigt. Regierungsbeteiligungen der SPD führten zu folgenlosen Retuschen im Gesetz.
In der erneuten GroKo und in der beabsichtigten Zukunftsdebatte könnte die SPD sich hier arbeitnehmer- und gewerkschaftsfreundlich positionieren. Ob so viel Abkehr vom Neoliberalismus mit seinen Deregulierungen zu erwarten ist? Nach Andrea Nahles, die als Arbeitsministerin für die jüngste dieser ‚Reformen‘ zeichnet und ebenfalls nicht mehr als letztlich wirkungslose Änderungen am Gesetz hinbekommen hat, wäre dies jetzt eine vordringliche Aufgabe des Schröderianers Heil als neuem SPD-Arbeitsminister.
Real 2015 und 2018 auf der Tarifflucht
Die real-SB-Warenhaus GmbH – zusammen mit Metro C&C im neuen Metrokonzern verblieben – beschäftigt derzeit ca. 34.000 ArbeitnehmerInnen in 281 Filialen/Märkten. (Zur Entwicklung des Metrokonzerns s. express, Nr. 10/2017.) Seit Jahren erwirtschaften die Beschäftigten nicht die von den Anteilseignern geforderten Profite. Metrokonzern-typisch wurde versucht, die Real-Märkte komplett zu verkaufen. Nachdem dieses Angebot außer für 91 Märkte in Polen, Russland, Rumänien und Ukraine jahrelang keine Abnehmer gefunden hat, machte sich die Unternehmensspitze selber an die Profitsanierung. Neben ein wenig Farbe in der einen oder anderen Filiale kam es im Juni 2015 zur ersten Flucht aus den Flächentarifverträgen des Einzelhandels.
Zur Sicherung von Arbeitsplätzen und Einkommen sowie zum Erhalt der Tarifbindung einigten sich ver.di und Real im Juli 2016 auf den „Zukunftstarifvertrag real,-“ mit Abweichungen vom Flächentarifvertrag nach unten: Erstens werden die „Tarifentgelterhöhungen“ für die Jahre 2015-2017 nicht gezahlt. Zweitens werden Ansprüche auf Zahlung von Urlaubsgeld für die Kalenderjahre 2017-2019 befristet auf 40 Prozent reduziert. Drittens werden Ansprüche auf Weihnachtsgeld für 2016-2018 reduziert auf 40 Prozent, für 2019 auf 70 Prozent. Als Bonbon sollten ver.di-Mitglieder Sonderzahlungen erhalten: im Februar 2017 ein Prozent des jeweiligen individuellen Bruttojahresverdienstes für 2016, für 2017-2019 dann 1,5 Prozent jeweils im Februar 2018-2020. Betriebsbedingte Kündigungen wurden weitgehend ausgeschlossen; 265 der damals 283 Verkaufsstellen erhielten eine Bestandsgarantie. Mit den gesparten Personalkosten sollten „zur nachhaltigen Zukunftssicherung für real,- und zur Weiterentwicklung der Märkte“ in den Filialen Investitionen in Höhe von einer Milliarde Euro ermöglicht werden. Diese Investitionen sollten ab 2016 in den nächsten fünf Jahren getätigt werden. Mit dieser Regelung wollte ver.di den sichtbaren und in der Konkurrenz mit Kaufland, Globus, Aldi und Rewe allen Kunden auffälligen Investitionsstau angehen. Viele Real-Märkte wirkten wie jahrelang von den Kapitalgebern ausgepresst – ein todsicher wirkendes Mittel zur Kapitalvernichtung, wenn man um die im Einzelhandel herrschende Vernichtungskonkurrenz weiß.
Zusätzlich sollte ab Oktober 2016 über eine neue Entgeltstruktur verhandelt werden (§ 5 Zukunftstarifvertrag). Dagegen wurde in ver.di heftige Kritik laut. Ver.di-Führungskräften im Handel wurde unterstellt, in einem wohl sanierungsbedürftigen Unternehmen wie Real eine neue Entgeltstruktur auszuhandeln, die dann über den Metrokonzern und über Konkurrenten von Real Auswirkungen für die gesamte Branche hätte bzw. haben sollte. Sich als Gewerkschaft an einer der lahmsten Enten zu orientieren galt nicht als Teil einer erfolgversprechenden Tarifstrategie. Auch auf diese KritikerInnen sollte eine schon vorab im „Zukunftstarifvertrag“ vereinbarte Besitzstandswahrung wirken. Sollte es nämlich infolge neuer Tarifgruppen zu Gehaltskürzungen kommen, sollten diese gemildert werden. Damit wurde auch vorab bestätigt, worum es bei den Verhandlungen über die Entgeltstruktur gehen sollte: Absenken von Teilen der Gehälter, vor allem der VerkäuferInnen und KassiererInnen, der ungelernten Verkaufskräfte sowie der „Regalpfleger“.
Löhne, Preise, Profite bei Real
Diese Tarifverhandlungen ließ Real nun platzen. Am 27. März 2018 verkündete Real das endgültige Aus, nachdem es bei den Verhandlungen mit ver.di am 19. Februar ein unakzeptables und nicht mal verhandelbares „Angebot“ vorgelegt hatte. Im Kern sollten mit sieben Entgeltgruppen die bisherigen Entgelte um bis zu 30-40 Prozent gekürzt werden. So sollte das niedrigste Monatsentgelt 1.630 Euro brutto für „Verräumer, Mitarbeiter Leergut, Mitarbeiter mobile heiße Theke, Küchenhilfe“ betragen, das mit 3.300 Euro brutto höchste Tarifentgelt sollten die „Abteilungsleiter Frische-Service, Verwaltung oder Disposition (Lager) und Leiter Gastronomie“ bekommen. KassiererInnen, die z.B. nach dem Flächentarifvertrag NRW derzeit 2.579 Euro erhalten, würden mit 1.800 Euro abgespeist.
Real verlangte im Interesse der Profite faktisch von ver.di den organisations- und tarifpolitischen Selbstmord. Welche nicht-gelbe Gewerkschaft könnte sich auf ein solches Lohndumping einlassen? Auf jeden Fall nicht ver.di! Zudem gehören die KassiererInnen in den Arbeitskämpfen zu den aktivsten. Ein Knochenjob und dafür derzeit schon ein Monatsgehalt, das kaum zum Leben in der Großstadt reicht, von einem anständigen Leben in der Rente ganz zu schweigen. Und das jetzt um 30-40 Prozent kürzen. Selbst eine Besitzstandswahrung wäre da nicht einmal ein Trostpflaster. Die meisten KassiererInnen arbeiten als Teilzeitkräfte; nicht so sehr, weil sie es wollen, sondern weil es an der Kasse kaum noch Vollzeitarbeitsplätze gibt. Zu keiner Zeit haben die Real-Herren bei den Verhandlungen auf die KundInnen und Umsätze Bezug genommen. Mit niedrigeren Löhnen die Preise senken, um die Umsätze zu erhöhen, damit die Profite stimmen – das wäre dann doch zu viel an offener und stringenter Argumentation gewesen. Die Kaufmanns-Rhetorik, die gerne vergessen machen will, dass der Handel Teil der kapitalistischen Logik ist, neigt nicht zum Stilelement Realismus.
Was will nun Real?
Das Aufkündigen der Verhandlungen begleitete Real mit mehrdeutigen Handlungen und Erklärungen. So wurde am bisherigen Arbeitgeberverband HDE öffentlich heftige Kritik geübt – nur, um den angekündigten Übertritt in den Arbeitgeberverband AHD, ein konzerneigenes Konstrukt der Metro, öffentlich rechtfertigen zu können? Auf Rechte und Pflichten aus dem Zukunftstarifvertrag, wie die vereinbarte Schlichtung anzurufen, wurde verzichtet – warum? Was soll die Ankündigung, das Unternehmen real-SB-Warenhaus GmbH mit der Metrokonzerntochter Real Services GmbH zu verschmelzen? Soll mit dieser Verschmelzung sofort eine neue Tarifbindung mit dem DHV (im Christlichen Gewerkschaftsbund) erlangt werden? Oder sollen daraus folgende Rechtsstreitereien mit ihrer langen Dauer genutzt werden, um befürchtete Arbeitskämpfe zu erschweren? Oder soll einfach nur ver.di weichgeköchelt werden?
Was tut nun ver.di?
Die jetzige Situation, nicht nur die tarifpolitische, muss aus verschiedenen Gründen exakt analysiert werden. Zunächst natürlich im Hinblick auf die Rechtslage – für die Beschäftigten, den (Gesamt)Betriebsrat, aber besonders für ver.di. Auch wenn ver.di den o.g. Haustarif des DHV ablehnt, weil er drastische Absenkungen bedeuten würde: Ist denn wirklich klar, dass sich Real eine Tarifbindung mit ver.di nicht über einen anderen, bereits bestehenden Tarifvertrag erschleichen kann, der für Verkaufstätigkeiten weder beabsichtigt noch geeignet ist? M.a.W.: Kann die Real Services GmbH eine Tarifbindung an ver.di durch einen alten Tarifvertrag, der ggfs. schon längst in Vergessenheit geraten scheint, herstellen?
Will und wird ver.di das jetzige Verhalten von Real, das allerdings völlig konform ist mit einem seit Jahren geübten Verhalten des Metrokonzerns, zum Anlass nehmen, die neue, den Gewerkschaften gegenüber angekündigte Offenheit der SPD für eine Eindämmung kapitalistischer Praktiken und eine sinnvolle Re-Regulierung produktiv werden zu lassen? Die Forderung nach einer erneuten, diesmal sinnvollen Novellierung des Tarifvertragsgesetzes und damit der Allgemeinverbindlichkeitserklärung könnte jedenfalls sofort an die Unterstützung von Frank Bsirske für die neue GroKo mit der SPD anschließen – und würde damit sowohl den ver.di-Vorsitzenden als auch die SPD beim Wort nehmen. Und wie wird ver.di auf die jetzt bei vielen Interessierten inner- und außerhalb von Real geäußerte Erwartung „Jetzt muss ver.di streiken und kämpfen“ reagieren? Das, was sich derzeit bei Real abspielt – und einiges dürfte noch in den Kulissen passieren – ist ganz sicher kein rein gewerkschaftliches Thema. Gesellschaftliche Bündnisse bieten sich geradezu an. Im Einzelhandel sind 70-80 Prozent der Beschäftigten Frauen.
Anton Kobel, Mitte April 2018, erschienen in: express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 04/2018
Welche Möglichkeiten des Arbeitskampfs und Ansatzpunkte für gut komponierte Kampagnen sich daraus ergeben, lässt sich u.a. hier nachlesen:
Kirsten Huckenbeck, Anton Kobel, Uli Wohland (Hg.) (2008): „‘Kampagnen‘ – eine Kampfform der Gewerkschaften und sozialen Bewegungen. Konzepte, Beispiele, Erfahrungen“ (online unter: http://express-afp.info/publikationen); Anton Kobel (Hg.) (2014): „Wir sind stolz auf unsere Kraft“, VSA: Hamburg; Jens Huhn (2007): „Die Schlecker-Kampagne 1994 – 1995“, über die Redaktion des express
(*) Jürgen Glaubitz: „Verdrängungswettbewerb im Einzelhandel. Zwischen Preiskrieg, Tarifflucht und Altersarmut“, hrsg. vom ver.di-Bundesvorstand, Fachbereich Handel, Düsseldorf 2017