Erdogan lässt sich zum Diktator küren – doch wie geht es weiter?
Die Türkei hat gewählt und Erdogans Plan geht auf: In einem gemeinsamen
Bündnis mit der rechtsradikalen MHP gelingt es der AKP die Mehrheit der
Sitze im türkischen Parlament zu erringen und Erdogan siegt als
Präsidentschaftskandidat im ersten Wahlgang. Damit tritt auch die
Verfassungsänderung, die im vergangen Jahr per Referendum mit 51,4%
beschlossen wurde, in Kraft. Die Allmacht Erdogans scheint zementiert.
Doch wie war es dazu gekommen?
Am Tag nach den Wahlen erklärt die OSZE, die mit internationalen
Beobachtern am Wahltag vor Ort war, dass beim Urnengang „Regeln
weitgehend eingehalten“ worden seien. Vor allem für die kurdischen
Wähler*innen klingt dieses Urteil wohl wie Hohn. Schon ab den frühen
Morgenstunden wurden im mehrheitlich kurdischen Südosten des Landes
Unregelmäßigkeiten vermeldet. Über die sozialen Medien kursierten
entsprechende Beweisvideos, die von Angriffen auf oppositionelle
Wahlhelfer über erzwungene offene Stimmabgaben bis hin zu zerrissenen
Säcken mit Wahlzettel reichten.
Immerhin erkannte die OSZE an, dass in der Türkei ein Wahlkampf unter
ungleichen Bedingungen stattfand. Diese Tatsache war auch schwer zu
verleugnen. Besonders schwer hatte es die HDP. Für sie hatte Erdogan auf
einer geschlossenen Versammlung, von der Aufnahmen im Netz landeten,
eine besondere Strategie gefordert. Man müsse die HDP mit allen Mitteln
unter der 10%-Hürde halten. Der Präsidentschaftskandidat der HDP
Selahattin Demirtaş musste ohnehin einen Wahlkampf aus seiner
Gefängniszelle heraus führen. Und in den Wochen und Monaten vor der
Wahl wurden abertausende Mitglieder der HDP festgenommen und
inhaftiert. Wäre die HDP an der Wahlhürde gescheitert, hätte die AKP als
zweitstärkste Partei im kurdischen Südosten des Landes automatisch um
rund 60 weitere Abgeordnete ihre Sitzzahl im Parlament aufstocken
können. Immerhin in diesem Vorhaben scheiterte die AKP. Der HDP gelang
es in einem äußerst schwierigen Wahlkampf die 10%-Hürde zu nehmen
und ihre Stimmen zu den Wahlen vom 1. November 2015 sogar noch
etwas zu erhöhen. Sie entsenden nun 67 Abgeordnete in das türkische
Parlament.
Die AKP hingegen konnte nur mit Hilfe der MHP die absolute Mehrheit im
Parlament erlangen. Gemeinsam verfügen die beiden Parteien, die im
Bündnis unter dem Label „Volksbündnis“ (Cumhur Ittifaki) angetreten
waren, 344 Sitze. Noch wichtiger ist allerdings das Ergebnis der
Präsidentschaftswahlen. Hier errang Erdogan mit 52,4% die absolute
Mehrheit und konnte somit einen zweiten Wahlgang abwenden. Sein
wichtigster Konkurrent Muharrem Ince kam auf 30,7 %, Selahattin
Demirtas immerhin auf respektable 8,3 %.
Vorwurf der Wahlmanipulation
Ob es allerdings mit rechten Dingen bei diesem Wahlergebnis zugegangen
ist, bleibt mehr als fraglich. Wie erwähnt, häuften sich schon früh
Meldungen über Unregelmäßigkeiten im kurdischen Südosten des Landes.
Allein im Bezirk Suruç (Provinz Urfa) erreichten uns dutzende Berichte über
Manipulation und Gewaltvorfälle. Die Stimmung in Suruç war ohnehin
aufgeheizt, war es doch bei einem Zwischenfall zwischen dem örtlichen
AKP-Kandidaten und der Lokalbevölkerung einige Tage vor den Wahlen zu
Toten gekommen. Nachdem der Ladenbesitzer die AKP’ler, die Wahlkampf
betreiben wollte, nicht in seinem Laden sehen wollte, fielen plötzlich
Schüsse. Es kam zu Toten auf beiden Seiten. Anschließend sollen die AKP-
Mitglieder noch im örtlichen Krankenhaus zwei Familienmitglieder des
Ladenbesitzers kaltblütig ermordet haben. Dass es am Wahltag hier nicht
ruhig zugehen würde, war also abzusehen. Die OSZE hatte aber aus
Sicherheitsgründen davon abgesehen, Beobachter nach Suruç zu
entsenden, wie eine Sprecherin erklärte. Die Vorfälle am Wahltag konnten
deshalb auch nicht geprüft werden.
Die Regierungspartei fühlte sich ohnehin von den internationalen
Wahlbeobachtern an diesem Tag genervt und wurde deshalb nicht müde,
sie bei ihrer Arbeit zu schikanieren. Uns sind drei Fälle bekannt, bei denen
Wahlbeobachtern schon vor dem Wahltag die Einreise verweigert wurde,
darunter befindet sich auch mein Fraktionskollege Andrej Hunko, der für
die OSZE im Einsatz sein sollte. Am Wahltag selbst wurden mind. zehn
Wahlbeobachter aus dem Ausland, die auf Einladung der HDP anreisten,
zwischenzeitlich festgenommen. Vielen anderen wurde von bewaffneten
Sicherheitskräften der Eintritt in die Wahllokale ohne weitere Begründung
verweigert. Dass die Unterbindung der Wahlbeobachtung ein Indiz für
mögliche Wahlmanipulation ist, muss an dieser Stelle wohl nicht weiter
erörtert werden.
Eine Dreiviertelstunde nach Schließung der Wahlergebnisse veröffentlichte
die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu (AA) dann die ersten
Hochrechnungen: Über 60% Stimmanteil für Erdogan und die HDP verfehlt
die Wahlhürde deutlich mit nur 6,5%. Diese ersten Zahlen sollten wohl für
Verwirrung und Frustration unter den Oppositionellen sorgen. Ähnlich wie
beim Referendum im vergangenen Jahr oder den Parlamentswahlen 2015
beginnen die ersten Hochrechnungen der AA mit besonders hohen
Stimmanteilen für das Regierungslager. Und im Laufe des Abends schmilzt
dieser Vorsprung dann langsam dahin. So war es auch in diesem Jahr. Die
Opposition forderte deshalb auch ihre Wahlhelfer trotz der ersten
Hochrechnungen dazu auf, die Wahlurnen nicht zu verlassen und damit
dem Regierungslager die Chancen für Wahlmanipulationen zu eröffnen.
Am Ende legte die HDP satte 5% gegenüber den ersten Hochrechnungen
zu. Und Erdogan konnte sich, wie erwähnt, mit einem knappen Polster von
2,4% vor einer zweiten Wahlrunde retten.
Wie geht es nun weiter?
“Eine Diktatur lässt sich eben nicht abwählen!” – Das ist der Satz, den wir
nach den frustrierenden Wahlergebnissen aus der Türkei am vergangenen
Sonntag sehr oft hören. Und an der Situation in der Türkei nach den
Wahlen gibt es tatsächlich nicht viel schönzureden. Erdogan hat nun das
System installiert, auf das er die letzten Jahre kontinuierlich hingearbeitet
hat. Um dieses Ziel zu ermöglichen hat er Kriege angezettelt (gegen die
Kurden im eigenen Land und im Nachbarland Syrien), hat einen dubiosen
Putschversuch für seine Zwecke missbraucht („Dieser Putschversuch war
ein Geschenk Gottes“, Zitat Erdogan) und zehntausende Oppositionelle
verhaften und den Ausnahmezustand ausrufen lassen, und er hat die
eigentlich für November 2019 vorgesehenen Wahlen um mehr als ein Jahr
vorgezogen, um seine Macht zu manifestieren, bevor das Land
möglicherweise völlig in einer Wirtschaftskrise versinkt.
Es bleibt die Frage nach dem „wie weiter?“ Ich denke zunächst einmal,
dass es der falsche Ansatz ist, im Nachhinein die Teilnahme der HDP an
den Wahlen unter den gegebenen Bedingungen zu kritisieren. Der HDP ist
nämlich erstmals seit langer Zeit gelungen, ihre Anhängerschaft auf die
Straßen zu mobilisieren und somit das weiterhin bestehende
Widerstandspotential der Gesellschaft sichtbar zu machen. Das gilt
insbesondere für die kurdischen Siedlungsgebiete, in denen nach den
Vernichtungskriegen des türkischen Staates 2015-2016 eine Art
Friedhofsruhe herrschte. Zugleich hat die HDP auch ihre Stimmanteile in
fast allen westtürkischen Provinzen erhöht und damit das Fundament für
eine starke außerparlamentarische Opposition in der Türkei gestärkt, die
durch die 67 gewählten Abgeordneten zudem sicherlich auch innerhalb
des Parlaments ein Sprachrohr finden wird.
Und wenn man die Kriegsgebärden Erdogans während des Wahlkampfs
sowohl in Richtung Nordsyrien/Rojava als auch in Richtung
Nordirak/Südkurdistan bedenkt, und die möglichen Folgen der wohl noch
einbrechenden Wirtschaftskrise in der Türkei vor Augen behält, dann
kommen schon bald auf diese außerparlamentarische Opposition äußerst
wichtige Aufgaben und Herausforderungen zu. Unsere Solidarität sollte
gerade nach diesen Wahlergebnissen umso mehr all denjenigen
politischen Kräften in der Türkei gelten, die sich mutig der Diktatur
Erdogans entgegenstellen und weiter für die Demokratie im Land
kämpfen.
Gökay Akbulut