Die Körperpolitiken von Kapitalismus und Widerstand

Eine Rezension von Torsten Bewernitz.

Hien, Wolfgang: „Die Arbeit des Körpers. Von der Hochindustrialisierung zur neoliberalen Gegenwart“ Mandelbaum, Wien 2018, ISBN: 978385476-677-3, 25 Euro, 344 Seiten.

In seiner Kurzgeschichte „In der Strafkolonie“ lässt Franz Kafka einen Forschungsreisenden die Bestrafung eines Delinquenten miterleben: Der Abgeurteilte wird in eine Maschine gespannt, die seinen Körper beschriftet, ihn dabei aber gleichzeitig zerstört. Diese Beschriftung und Beschreibung des Körpers durch eine Maschine wurde oft für akademische Körperanalysen herangezogen. „Die Zerstörung des Körpers erscheint notwendig, um das sprechende Subjekt und seine Bedeutung hervorzubringen“ schreibt Judith Butler in „Das Unbehagen der Geschlechter“. Das gilt keineswegs nur für die Identitätskategorie Geschlecht, das gilt auch für die Identität als ArbeiterIn: „Im Körper der Arbeiter waren seit jeher die Belastungen, Gefahren, Demütigungen und realen Zerstörungen von Leben und Gesundheit eingeschrieben. […] Die Welt spiegelte sich nicht allein in den Gehirnen, sondern in den geschundenen und erniedrigten Leibkörpern“, so Hien (S.156).

Wolfgang Hien schreibt die Geschichte dieser Körper (und dieses Gesamtkörpers) aus Sicht der so Beschrifteten, die durchaus auch selber beschreiben können, was ihnen da geschah. Möchte man sich nicht auf die Analysen der „Experten“ verlassen, bleiben die „Selbstzeugnisse der Unterworfenen“ und die „proletarischen Biographien und [die] Arbeiterliteratur“, so Karl Heinz Roth in seinem Nachwort (S.332). Neben dem Anspruch, die Geschichte „von unten“ (ebd.) zu erzählen, ist die fragwürdige Rolle der Wissenschaftler und vor allem der Arbeitsmediziner ein zweiter Grund, so vorzugehen: „Lange vor 1933 machte die Mehrzahl der Arbeitsmediziner im Einklang mit Erbbiologie, Sozialhygiene, Psychotechnik und Wirtschaftsliberalismus keinen Hehl daraus, dass etwa ein Drittel der Bevölkerung als wertlos oder gar überflüssig und als sozial schädlich gelte […]“ (S. 128). Das ist Bestandteil der Definition des Körpers der Arbeitenden: „Der Körper war Besitz des ‚Werkes’, seiner Betriebsführer und Betriebsärzte“ (S. 90). Obwohl die Ideologie des Kapitalismus und das daraus folgende „Recht“ einen freien Arbeiter voraussetzt, der lediglich seine Arbeitskraft auf einem ebenso freien Arbeitsmarkt verkauft, wurden und werden die Arbeiterkörper doch letztlich wie Besitz behandelt. Eine Ethik, die den Leib der ArbeiterInnen bedenkt, kannte und kennt der Kapitalismus nicht. Dass Menschen, zumal ArbeiterInnen, irgendwann auch in der Alltagssprache „verbraucht“ aussehen, reflektiert diese Erfahrung.

In diesem Sinne ist der Arbeitsschutz oftmals nicht der Schutz der TrägerInnen der Arbeitskraft, sondern nur der Schutz der Arbeitskraft selber. Heutige Anforderungen an Fitness, die Selftracking-Kultur usw. sprechen dieselbe Sprache: Mach dich fit für den Arbeitsmarkt! Oder aber auch für die Reproduktionsaufgaben, wie Hien beispielhaft erläutert: Agnes Bluhm, Mitglied der 1905 gegründeten deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene, kümmerte sich durchaus um den Frauenarbeitsschutz, ihre Motive waren aber Gebärfähigkeit, Mutterschaft und letztlich Volksgesundheit (S.113). Die Gesundheit der Frauen ist eine „Verpflichtung“ dem Volk gegenüber. Also dürfen sie in der Produktion nicht dermaßen verschlissen werden, weil die Reproduktion darunter leidet: Frauen wurden „nicht als eigenständige menschliche Wesen wahrgenommen, deren Gesundheit auch ohne Mutterschaft vollwertigen Schutz erforderte, sondern nur als Ehefrauen und Mütter.“ Folglich: „Von einem effektiven Gesundheitsschutz der arbeitenden Frauen konnte keine Rede sein“ (S.114). Es ist wenig verwunderlich, dass wir diese Argumentationsweisen heute wiederfinden bei Anti-Genderisten aus AfD und der christlichen Rechten.

Das Geschlecht des Arbeiterkörpers

Von der Heimindustrie der frühen Textilbranche über die Überausbeutung von Frauen in den Kriegsökonomien der beiden Weltkriege bis hin zu den „neuen Frauenberufen“ in verschiedenen Zeitphasen – Angestelltenwesen, Sekretärswesen, Hege und Pflege – ist es gerade der weibliche Arbeiterkörper, den die kapitalistische Körperpolitik besonders trifft. In der Textilarbeit etwa waren Frauen „deutlich stärker als die Männer leiblich belastet, leiblich herausgefordert und daher auch leiblich empört, wenn sie Möglichkeiten sahen, ihre Empörung emotional zuzulassen, zu artikulieren und in Aktionen umzusetzen“ (S.111).

Nach dem Ersten Weltkrieg wuchs der Dienstleistungs- und Handelssektor immens. Damit werden die späteren „typischen“ Frauenarbeiten geboren, die Sekretärin, das „Fräulein vom Amt“. 40 Prozent der Arbeit in diesem Bereich wurde von Frauen geleistet (S.135). Die Arbeiterinnen waren in Großraumbüros zusammengepfercht. Die typischen Frauenberufe der Weimarer Zeit waren „Stenotypistinnen, Korrespondentinnen, Kontoristinnen und Locherinnen an den Hollerithmaschinen“ (S. 135). Als besonders belastend gilt die Arbeit als Telefonistin: „Das unentwegte Hin und Her zwischen Rufzeichen, Hören, Fragen, Verbinden, Trennen, Blinken, Stöpseln, Schalten, Zwischenfragen, Unterbrechungen, Wiederverbinden, Umschalten usw. galt selbst hartgesottenen Psychotechnikern als hoch belastende Tätigkeit“ (ebd.) – selber nachvollziehen kann man das neuerdings an einem entsprechenden Einstellungstest in der Medienausstellung im Mannheimer Technoseum.

Dieses spezifische Verständnis weiblicher Arbeitskraft ändert sich nach dem Zweiten Weltkrieg nicht wesentlich– es entwickelt sich im Gegenteil in der Adenauer-Ära „eine verwickelte, verlogene und verschämte Kultur der Doppelbödigkeit von Berufs- und Familienpflichten“ (S.236), bis heute tragen Frauen eine Doppelverantwortung für Produktion und Reproduktion (S.235 – 247).

Ging es mit der Industrialisierung vorerst um reine Körperkraft, kam bald das Denken hinzu, sodann die äußere Erscheinung. So wie der Kapitalismus immer neue Naturressourcen entdeckt und ausbeutet, so entdeckt er auch immer neue Arbeitsfähigkeiten des Körpers, die für ihn nutzbar zu machen sind. Hien zeigt schlüssig auf, dass in der Angestellten-Ideologie der Weimarer Zeit bereits die neoliberalen Konnotationen und Anforderungen angelegt sind, die wir dem heutigen Kapitalismus zur Last legen: sich ganz einbringen, sich der Arbeit verschreiben, in ihr aufzugehen, sich in ihr verwirklichen. „Diese […] Subjektivierung der Arbeit […] zog über die Transmissionsschiene der weiblichen Büroarbeit in die Arbeitswelt als Ganzes ein“ (S.138). „Die Arbeit der Frauen am und mit dem eigenen Körper reproduziert das hierarchische Geschlechterverhältnis in der Arbeitswelt und in der Gesellschaft“ (S.139).

Körper im Neoliberalismus

Einige Aspekte dieser völligen Missachtung leiblichen Wohlergehens mögen uns heute fremd erscheinen. Aber sie wurden nicht abgeschafft, sie wurden globalisiert und outgesourct. Ein Beispiel dafür ist die Asbestbelastung und die Asbestose: Nicht zuletzt aufgrund dezidierter Arbeiterwiderstände (oft genug auch gegen die Gewerkschaften) und einer entsprechenden Skandalisierung ist Asbest heute aus der Produktion in der nordwestlichen Welt verbannt – die zurückzubauenden Restlasten tragen die ArbeiterInnen des Südens, ebenso wie nicht selten eine anhaltende Produktion mit den entsprechenden Stoffen (S.212 – 227).

Zu den Quellen im ersten Teil seiner Studie kommen im zweiten Teil – „Vom deutschen und österreichischen Wirtschaftswunder bis zum gegenwärtigen Marktradikalismus“ – Wolfgang Hiens eigene Erfahrungen sowohl als selbst Arbeitender wie auch als in Betriebsgruppen Engagierter und als Wissenschaftler (siehe dazu auch den autobiographischen Interviewband Wolfgang Hien, Peter Birke: „Gegen die Zerstörung von Herz und Hirn. ‚68‘ und das Ringen um menschenwürdige Arbeit.“ Hamburg: VSA 2018) ) sowie die in diesem Zusammenhang geführten Interviews mit engagierten ArbeiterInnen und Betroffenen. Der letztliche Befund ist einigermaßen frustrierend: Einerseits stimmt es eben nicht, dass die körperliche Arbeit als solche abgenommen hätte, ihre Mühen bestehen nach wie vor und die Taktung und Kontrolle des Taylorismus hat hier noch lange nicht ausgedient, sondern wird vielmehr gerade wieder entdeckt: „Der globale Kapitalismus fordert von den Menschen mehr körperliche, kraft- und gesundheitszehrende Arbeit denn je […]“ (S.251). Andererseits kommt im Neoliberalismus ein neuer Aspekt hinzu: „Reine Körperpolitik wird zu einer Politik erweitert, die das Seelische und Geistige umfasst. Gefordert wird nicht mehr die bloße Verausgabung der Arbeitskraft, sondern die des ganzen Menschen“ (ebd.).

Wie verändert sich der „Klassenkörper“ durch „Dienstleistisierung“, Digitalisierung und neoliberale Konstituierung? Was bedeutet das für zukünftige Arbeitskämpfe und Widerstände? Das sind nur einige Fragen, vor die uns die Biopolitik des Neoliberalismus stellt. Wolfgang Hiens Studie bietet uns hier eine neue Perspektive für die Suche nach Antworten und wir finden diese auch durch den historischen Rückblick, denn: „Die Geschichte des Kapitalismus ist zugleich eine Geschichte bio- und körperpolitischer Zurichtungen. […] Es ging stets darum, Menschen zu formieren und zu klassieren, also im ökonomisch jeweils erforderlichen Ausmaß wert- und mehrwertschöpfende Leistungsbereitschaft herzustellen und die ‚Nicht-Leistungsfähigen‘ auszugrenzen“ (S.309). Klassenanalyse müsse daher, so Hien, „ergänzt werden durch leibpolitische Reflexion“ (S.322). Er schlägt daher – und auch hier ist an feministische Erkenntnisse anzuschließen – einen Abschied von der „starken, revolutionären Ich-Identität“ (S.330) vor. Dagegenzusetzen ist, so Hien abschließend, eine Bewusstheit vom Arbeitskörper als „das Gesamt von Beziehungen, die uns ausmachen“ (S.329).

(Torsten Bewernitz)

 

Veranstaltungshinweis

Die Arbeit des Körpers

– Von der Hochindustrialisierung bis zur neoliberalen Gegenwart –

Vortrag mit Wolfgang Hien, Arbeits- und Gesundheitswissenschaftler

am Montag, 26. November 2017, 18.00 – 20.00 Uhr
im Landesmuseum für Technik und Arbeit, TECHNOSEUM, Seminarraum Ebene A

Eine Veranstaltung des Arbeitskreis Sozialgeschichte im Freundeskreis des Landesmuseums für Technik und Arbeit/TECHNOSEUM in Kooperation mit der Stiftung Menschenwürde und Arbeitswelt.