Aktuelle Gaza-Krise: Sie zwingt uns, Lösungswege für eine Friedensregelung im Nahen Osten zu fordern und zu unterstützen. Sie zwingt uns nicht zu geschichtsblinden Plattitüden. Deutschland hat eine doppelte Verantwortung: gegenüber den Bürger*innen Israels und gegenüber den Menschen in den besetzten Gebieten / Palästina
Eines vorneweg: Aus Protest und Empörung gegen Maßnahmen der israelischen Netanjahu-Regierung in Mannheim oder sonst wo jüdische Menschen anzugreifen und die Synagoge zu beschädigen, ist inakzeptabel und muss strafrechtlich verfolgt werden.
Eine ähnliche Situation 2009, auf dem Höhepunkt der 7. militärischen Auseinandersetzung im Gaza-Streifen seit dem 6-Tage-Krieg: Lautes Bedrohungsgeschrei und Morddrohungen gegen jüdische Menschen durch türkischstämmige junge Nationalisten, die mit ihren Autos die Synagoge umkreisen. Es gab zu dieser Zeit weltweite Solidaritätskundgebungen für Palästina. In Dortmund wurde lt. Wikipedia eine große Demonstration von Milli Görüsch, einer türkischen reaktionär-islamistischen Organisation angemeldet.
Die auch in Mannheim angespannte Lage war der unmittelbare Anlass zur Gründung des Mannheimer Bündnisses „Zusammenleben in Vielfalt“. Zur Entstehungsgeschichte heißt es in der Verwaltungsvorlage 636/2009: „Im Nachgang einer propalästinensischen Kundgebung am 9. Januar 2009 auf dem Marktplatz gab es erhebliche Irritationen zwischen den Vertretern der unterschiedlichen Glaubensgemeinschaften. Einen Vorschlag der Jüdischen Gemeinde aufgreifend, lud der Oberbürgermeister am 2. April 2009 zu einem „runden Tisch“ ein und stellte dort den Entwurf einer ‚Mannheimer Erklärung‘ vor.“ (Der Link führt zu der inzwischen erweiterten Erklärung).
Inzwischen tragen 326 Institutionen, Vereine, Initiativen, Parteien, Firmen und Religionsgemeinschaften das mittlerweile weiterentwickelte Papier mit. Das ist gut so und trägt vielleicht tatsächlich dazu bei, dass trotz massiver Konflikte innerhalb von Herkunftsländern oder zwischen Herkunftlsländern von nach Mannheim Zugewanderten im Großen und Ganzen ein friedvolles Zusammenleben möglich ist.
Den Ausgangskonflikt von 2009 als solchen zwischen „unterschiedlichen Glaubensgemeinschaften“ zu bezeichnen, war allerdings etwas zu kurz gegriffen. Trotzdem war damals das Zusammenkommen der Jüdischen Gemeinde, der Kirchen und der unterschiedlichen Moscheegemeinden in Mannheim ein wegweisender Schritt.
Es handelte sich damals und handelt sich auch heute jedoch selbstverständlich um einen zu tiefst politischen Konflikt, um Eruptionen des seit Ende des 2. Weltkrieges brodelnden Nahost-Konflikts, der auch immer wieder kriegerisch ausgetragen wurde. Während es 2009 23 Tage dauerte, bis ein Waffenstillstand eintrat, war dies jetzt glücklicherweise auf Grund des hohen internationalen Drucks nach elf Tagen der Fall.
Die erneute aus dem Ruder gelaufene pro-palästinensische Kundgebung auf dem Friedensplatz in Mannheim am 15.5. (wir berichteten: https://kommunalinfo-mannheim.de/2021/05/16/brennende-israelfahnen-und-pfefferspray-eskalation-bei-freepalestine-demo-in-mannheim/) führte auch wieder zu heftigen Diskussionen und Reaktionen, z.B. der von der Deutsch-Israelischen Gesellschaft DIG organisierten Solidaritätskundgebung mit Israel am 16.5. auf dem Schlossplatz (s. ebenfalls kommunalinfo-mannheim.de). Die pro-palästinensischen Kundgebungen wurden dort als weitere Zunahme des Antisemitismus in Deutschland gewertet.
Die deutsche zweifache Schuld an der Shoah und einer unmittelbaren Folge dieses Menschheitsverbrechens
Der Antisemitismus ist in Europa seit dem Mittelalter regional unterschiedlich tief verwurzelt. Auf mögliche Ursachen kann hier nicht eingegangen werden. Aber wie immer, wenn es um „religiöse Konflikte“ geht, liegen diesen auch sozio-ökonomische Konflikte zu Grunde.
Gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde der bis dato religiös verbrämte Antisemitismus in Europa zusätzlich „rassistisch“ aufgeladen und „begründet“. Im Zarenreich und später auch in der Sowjetunion gab es Wellen von Pogromen, die Millionen dort ansässiger jüdischer Menschen zur Flucht nach Westeuropa und in die USA trieben. Im deutschen Kaiserreich war Antisemitismus praktisch Teil der Staatsdoktrin, die die Nationalsozialisten nicht erst erfinden mussten, sondern weiterführten und schließlich im Völkermord exekutierten.
Diejenigen Jüd*innen, die sich auf die Flucht vor dem Naziterror machten, stießen in vielen Ländern auf verschlossene Grenzen oder Repressalien. So wurde das bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts von der zionistischen Bewegung als Zufluchtsort ausgewählte Palästina zur Rettungsplattform für viele der auswandernden und flüchtenden jüdischen Menschen, insbesondere natürlich nach Beginn des offenen Naziterrors.
Die Flüchtenden fanden sich in Palästina in einer von vornherein schwierigen Lage wieder – und die dort heimische Bevölkerung seither ebenso. Israel wurde nach seiner Staatsgründung ein Siedlerstaat mit allen denkbaren Konflikten, wie sie auch aus kolonialen Kontexten bekannt sind.
Insofern hat die Shoah im Nahen Osten eine zweite, wenn auch nicht vergleichbare Auswirkung gehabt: Die Entstehung einer Siedlergesellschaft mit dem erbitterten Ringen um Selbstbehauptung und Dominanz sowohl der Zugewanderten wie auch der angestammten Bevölkerung. Die Geschichte des Staates Israel seither ist bekannt. Der Konflikt ist seit über 70 Jahren ungelöst. Er kann nur gemeinsam gelöst werden.
Nicht zu vergessen ist die Einbettung dieser immer wieder auch von Kriegen gezeichneten Geschichte in den Kalten Krieg, in das Ringen der beiden Machtblöcke um Nah- und Mittelost, um geostrategische Positionen im Mittelmeer wie auch in den Erdölregionen. Grundlegend für Israel war und ist das enge Bündnis mit den USA.
Weiterhin ist die Geschichte der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts gekennzeichnet durch antikoloniale Befreiungsbewegungen und -kriege, in denen Israel auch Position bezog – auf der Seite der Kolonialmächte bzw. im Falle Südafrikas, auf Seiten des dortigen Siedlerregimes, der Apartheid. Die Auseinandersetzungen zwischen den Palästinenser*innen /PLO und dem Staat Israel wurden in den weltweiten meist antiimperialistischen Solidaritätsgruppen mit den afrikanischen und asiatischen Befreiungsbewegungen auf eine Stufe gestellt.
Doppelte Verantwortung der Bundesrepublik: Nachdrückliche Absicherung des Existenzrechts des Staates Israel und Verbesserung der Lebenssituation der arabischen Bevölkerung.
Praktisch heißt das: Die Bundesrepublik muss eine vermittelnde Rolle einnehmen und auch ihre Position in Europa in diesem Sinne nutzen. Die Überwindung der vollkommen unhaltbaren Situation im Gazastreifen muss dabei eine bedeutsame Rolle spielen.
Konkret heißt dies: In der Hamas darf nicht das eigentliche Problem gesehen werden, sondern in der sozialen Situation, die die Verzweiflung der Menschen schürt und damit die Basis und den Rückhalt für diese islamistische Organisation erst bewirkt.
Der Diskussion wäre etwas mehr von der Weisheit des ehemaligen israelischen Botschafters in Deutschland, Avi Primor, zu wünschen, der vor Jahren bei einem Vortrag in der Mannheimer Synagoge zum Thema: „Kampf gegen den Terror“ genau davon sprach: Mit Waffen ist der Terrorismus nicht aus der Welt zu schaffen. Ihm muss der gesellschaftliche Rückenwind der Verzweiflung entzogen werden. Ein Marshallplan sei da ein geeignetes Mittel.
2014, als auf Initiative der Obama-Regierung Außenminister Kerry die Neuaufnahme von Friedensgesprächen versuchte, sagte Avi Primor in einem RNZ-Interview auf die Frage:
„Herr Primor, will die jetzige israelische Regierung den Friedensprozess?
Nein, absolut nicht.
Das müssen Sie ausführen.
Wenn wir von israelischer Regierung sprechen, dann sprechen wir von einer sehr großen, bunten Koalition. Aber die führenden Kräfte in dieser Koalition wollen das nicht, weil sie auf die Gebiete nicht verzichten wollen. Das ist der eigentliche Grund.“ (RNZ 20.01.2014).
Grundlage der Friedensinitiativen ist das Prinzip „Land für Frieden“ – die Rückabwicklung der Siedlungs- und Enteignungspolitik, die Natanjahu gerade jetzt wieder forciert.
Antisemitismus allerorten?
Unter dem Einfluss von Strömungen wie der „Antideutschen“ und unter direkter Einflussnahme der israelischen Botschaft in Berlin findet in der Bundesrepublik eine bisher einzigartige Eingrenzung der Nahost-Diskussion auf die Formel statt: „Israel hat immer Recht – das zu akzeptieren gebietet die aus der einstigen Schuld resultierende Verantwortung der Deutschen.“ Alles andere sei purer Antisemitismus. In Wirklichkeit ist diese Position ein billiges und erstickendes Versagen vor der umfassenden historischen Verantwortung.
Es ist die spiegelbildliche Position zu einer rein unter antiimperialistischen Gesichtspunkten stattfindenden Parteiergreifung ausschließlich für radikal-palästinensische Bestrebungen in der Tradition der antikolonialen Solidarität. Die Träger*innen solcher antiimperialistischen Positionen sind im Übrigen traditionell Antifaschist*innen und Antirassist*innen. Der Umgang mit dem Erbe des deutschen Faschismus gelingt ihnen aber offensichtlich weniger.
Importierter Antisemitismus?
Angesichts der wilden „Free-Palestine“-Kundgebungen dieser Tage kursiert der Begriff des „importierten Antisemitismus“. Zu Recht wird dagegen eingewandt: Antisemitismus muss nicht erst nach Deutschland importiert werden – er hat nie aufgehört, hier präsent zu sein. Im Querdenker-Geschwurbel zeigt er neuerdings gerne seine Fratze. Ebenso in zunehmenden Gewalt- und Terrorakten aus der identitären, völkischen Szene heraus. Da mag die AfD im Bundestag zum Thema Antisemitismus noch so Kreide fressen. Der „Flügel“ zeigt, wes Geistes Kinder sie sind.
Der Rassismus und darin insbesondere der Antisemitismus haben in Deutschland den Zivilisationsbruch bewirkt, dass ein Teil der Nation bzw. der Gesellschaft durch das NS-Terrorregime, aber auch durch wahrlich nicht geringe Teile der Merheitsgesellschaft diskriminiert und von den NS-Organen zunehmend entrechtet, enteignet, deportiert und schließlich ermordet wurden – einzig und allein aufgrund der perversen „Rassen“-Theorie.
Die Verfolgung und Vernichtung jüdischer Menschen war zugleich ein Programm der Ausraubung der jüdischen Menschen zwecks Bereicherung „arischer“ Unternehmen, aber auch breiter Teile der Bevölkerung. Sie konnten den geraubten Hausrat angeblicher „Volksschädlinge“ – in Mannheim im Vetter-Kaufhaus N7 – billig kaufen. Der rassistische NS-Terror war auch ein Mittel, nach dem 1. Weltkrieg dem völkischen aufstrebenden intellektuellen Mittelstand Konkurrenz aus dem Weg zu räumen: Jüdische Kaufleute, Ärzte, Rechtsanwälte, Ingenieure, Wissenschaftler*innen.
Gegenüber diesem völkermörderischen Antisemitismus als Zuspitzung des in ganz Europa gelebten Antisemitismus ist der moderne „arabische Antisemitismus“ ein Phänomen, das im Wesentlichen erst mit der Herausbildung einer jüdischen Staatlichkeit in Palästina als politische Reaktion auf diese Neuordnung des Nahen Ostens gewertet werden muss. Jahrhunderte lang war das jüdische Zusammenleben mit arabischen Muslimen möglich und überwiegend geglückt, wenn auch unter kolonialen Rahmenbedingungen. Dass die Träger des neuen Staates Israel Juden sind und nicht z.B. britische oder deutsche Kolonisten, ist im Endeffekt zunächst sekundär. Tatsächlich waren die Siedler*innen ja Bürger*innen unterschiedlicher hauptsächlich europäischer Staaten. Dass es religiöse Jüd*innen waren, oder auch Areligiöse oder zum Christentum Konvertierte, reine „Stammbaum“-Jüd*innen, war die Folge der „Rasse“-bezogenen Selektion des Nazi-Reichs. Die die betroffenen Bewohner*innen Palästinas hatten ursächlich mit der Etablierung des jüdischen Siedlerstaates nichts zu tun. Er kam über sie als Folge des deutschen Faschismus. Zwei in sich legitime Interessenlagen prallten aufeinander.
In den über sieben Jahrzehnten dieses ungelösten Interessenkonfliktes war die Ideologisierung nur eine Frage der Zeit. Der Staat Israel, der selbst so definierte „Staat der Juden“ wurde mehr und mehr als solcher angegriffen, antisemitische Ideologeme wurden aufgegriffen. Insbesondere seit den 80er Jahren mit der Bildung eines theokratischen Panislamismus, der sich in Feindschaft zu den USA, dem „Westen“ insgesamt und Israel als Vorposten sieht (beispielsweise Hisbollah und Hamas), wird der Konflikt mit dem Staat Israel als Auseinandersetzung mit „den Juden“ auch auf religiöser Ebene gefasst. Damit stellt sich offenbar auch eine Anschlussfähigkeit zu türkisch-islamistischen Organisationen her.
Die Lage in Israel / Palästina ist kompliziert genug. Die mittlerweile forcierte Dekomplexierung, (in anderen Kontexten sprechen wir von Populismus), die isolierte Feststellung zunehmenden Antisemitismus, ist alles andere als verantwortlich und hilfreich für Frieden in Israel und Palästina.
Einen Schub dieser Dekomplexierung brachte die Diskussion um die BDS-Bewegung, die ihren Ausgang 2005 vom Gaza-Streifen nahm. Sie wurde gegründet, um die Raketenschießerei der Hamas durch eine gewaltlose Art des politischen Drucks zu verdrängen. Nun sind die Unerträglichkeiten der Gaza-Problematik wieder auf dem alten Level angekommen. Mit welcher Bemerkung der BDS-Bewegung in Deutschland keineswegs das Wort geredet werden soll.
Können wir als städtische Zivilgesellschaft etwas Positives bewirken?
In linken Kreisen herrscht zurzeit eine gewisse Bequemlichkeit vor, sich nicht durch irgendwelche Äußerungen zur aktuellen Situation zwischen alle Stühle zu setzen. Man möchte nicht das Risiko eingehen, als Antisemit und Feind Israels denunziert zu werden. (Siehe dazu jedoch die Erklärung des Parteivorstandes DIE LINKE vom 15.5.2021: „Stoppt die Gewalt in Israel und Palästina!“) Hinzu kommt die Einschätzung: „Da kann man kommunal sowieso nichts machen.“
Dem ist aber keineswegs so. Erstens kommen alle Probleme der globalen Welt in den bunten Metropolen an – ob man das will und braucht oder nicht. Deswegen ist eine gesellschaftliche Verständigung und Selbstverpflichtung auf den Geist der eingangs erwähnten „Mannheimer Erklärung für das Zusammenleben in Vielfalt“ und die Einforderung dieses Geistes in krisenhaften Situationen ein durchaus wichtiger kommunaler Schritt.
Dennoch sind tatsächlich Polizei und Mannheimer Ordnungsbehörde zu fragen: Sind Fahnen der Hamas oder des Islamischen Djihad auf Kundgebungen zu tolerieren? Das massive Einschreiten gegen kurdische Symbole auf Demonstrationen gegen das Erdogan-Regime zeigte bisher (zu Unrecht) eine völlig andere Vorgehensweise. Auch ist zu fragen, ob Hassprediger toleriert werden müssen. Nach Augenzeugenberichten war ein solcher auf der Palästina-Kundgebung in Mannheim aktiv.
Zweitens können Kommunen auch für Frieden und Völkerverständigung aktiv sein – die Städtepartnerschaften sind eine solche Handlungsebene. Tatsächlich ist Mannheim hier durchaus aktiv. Die Städtepartnerschaft mit dem israelischen Haifa und die Städtekooperation mit dem palästinensischen Hebron sind ein deutliches Zeichen für die Möglichkeit friedlichen Zusammenlebens unterschiedlicher Ethnien und Religionen – welches z.B. in Haifa sehr bewusst praktiziert wird. (Zur gegenwärtigen – schwierigen – Lage in Haifa erschien in ZEIT online vom 19.5.21 ein sehr aufschlussreiches Interview mit der Bügermeisterin von Haifa, Dr. Einat Kalisch Rotem).
Thomas Trüper (Altstadtrat DIE LINKE und LI.PAR.Tie.)