Bundestagswahl – nochmal näher hingeschaut, besonders auf die Rechten
Zwei Aspekte sollen hier untersucht werden:
1.) Welche Dynamik der Meinungsbildung kurz vor der Wahl ergibt sich aus den Brief- und Urnen-Wahlergebnissen in Mannheim?
2.) Welche Entwicklung nehmen die äußersten Rechten in Mannheim?
Dynamik der Meinungsbildung
Wir haben noch alle sicher das teils dramatische Auf und Ab der Wahlprognosen in diesem Jahr nach 10 Jahren Großer Koalition und zum Ende der Ära Merkel in Erinnerung. Zur Illustration möge die folgende Grafik dienen. Sie zeigt das bundesweite Wahlergebnis von 2017, eine Prognose aus dem September 2020, drei Prognosen aus diesem Jahr und das Ergebnis 2021. Sichtbar wird der stufenweise Absturz der CDU/CSU seit letztem Jahr, der Hype der Grünen um das 2,5-fache, der dann kontinuierlich zurückging, der stabile Höhenflug der SPD zwischen Juni und September, das Abschmelzen der AfD von 12,6% auf 10,3%, die Erholung der FDP von 10,8% auf 11,5% und die nahezu Halbierung der LINKEN von 9,2% auf 4,9%. Die letzten Prognosen lagen dann durchaus im Bereich der Ergebnisse, außer dass die CDU zu niedrig taxiert wurde und damit die Dramatik eines Kopf-an-Kopf-Rennens zwischen ihr und der SPD die Szene beherrschte. Nicht ganz unwichtig war, dass im Sommer ein Institut die LINKE bei 5% und damit in der Zone der Ungewissheit des Wiedereinzugs in den Bundestag verortete.
Es wird ja viel diskutiert über die Seriosität der Demoskopie, die sich manchmal in der Vergangenheit erheblich vertan hatte – diesmal nicht so sehr. Noch intensiver wird über die möglicherweise die manipulierende Wirkung der Meinungsumfragen auf die Öffentliche Meinung vor Wahlen diskutiert.
Bei der Bundestagswahl 2021 haben u.a. aufgrund der Pandemie erstmals über die Hälfte der Wählenden ihre Stimme über die Briefwahl abgegeben. Auf diese Weise gibt es zwei getrennt ausgewiesene Wahlergebnisse, die dann erst zum Gesamtergebnis zusammengeführt werden: Die Brief- und die Urnenwahl. Die Briefwahl konnte erst nach Zustellung der Wahlbenachrichtigungen am 5. September beantragt werden und lief dann aber schon sehr lebhaft an. Somit liegt ein Teilwahlergebnis aus der Zeit vor dem eigentlichen Wahltag vor (schwerpunktmäßig 10 bis 14 Tage vor dem Stichtag 26. September) und ein Ergebnis vom Wahltag selbst. Gibt es zwischen dem früheren und dem Stichtagsergebnis Unterschiede? Unterschiedlich.
Zunächst ist zu klären, welche Faktoren für eine mögliche Unterschiedlichkeit sprechen könnten. Die Briefwählenden gehören wohl eher zu den Menschen mit einer klaren und frühzeitig gefassten Wahlentscheidung. Möglicherweise haben sie eine engere Parteibindung. Auf jeden Fall sind sie eher nicht die „Kurzentschlossenen“. Letzte Tendenzen und Wendungen des Wahlkampfes können nicht mehr in ihre Stimmabgabe eingehen. Wohl aber bei den Urnen-Wähler*innen, die den Wahlkampf bis zum bitteren Ende verfolgen können und unter denen es wohl viele lange Unentschiedene gibt. Spekulativ, aber nicht ganz auszuschließen differiert zwischen beiden Gruppen die durchschnittliche Einstellung gegenüber eine Gefährdung durch Corona: „Ich bleibe lieber zu Hause und mache Briefwahl“ versus „Die sollen sich nicht so haben!“. Es gibt aber natürlich auch die Wählenden, denen der Gang zur Urne eine geschätzte „Bürger*innen-Pflicht“ mit ritueller Bedeutung ist, so lange sie nicht an der Teilnahme objektiv verhindert sind.
Die folgende Tabelle listet die Zweitstimmen-Ergebnisse im Wahlkreis 275 Mannheim auf und lohnt ein genaueres Hinsehen. Zunächst sieht man die Zahl der Walberechtigten und derer, die erfolgreich von ihrem Wahlrecht gebraucht gemacht haben, unterschieden nach Brief- und Urnenwahl. Sodann die absoluten Stimmenzahlen der größten sechs Parteien, die im alten wie im neuen Bundestag vertreten sind. Die Wahlbeteiligung lag bei 71,61%, fast auf dem Niveau vor vier Jahren (73%) und etwas über dem Niveau von 2013 (69,4%).
Das Verhältnis zwischen dem Briefwahl- und dem Urnenergebnis ist bei den einzelnen Parteien durchaus unterschiedlich. Wenn das Verhältnis unter 100 liegt, ist die Zustimmung am Wahltag geringer als in den zwei Wochen vorher. Liegt sie über 100, hat es offensichtlich in der Wählerschaft der jeweiligen Partei noch einen Schub gegeben.
Auffällig ist bei der SPD mit 99,9% eine große Stabilität zu verzeichnen, was dafür steht, dass ihre Wählerschaft schon frühzeitig zu dieser Partei, ihrem Programm und ihrem Kandidaten stand. Anders bei der CDU, bei der die Erosion – gerade auch in Mannheim als einem besonderen Sumpfloch – sich noch bis zuletzt fortsetzte. Noch dramatischer war die negative Dynamik bei den Grünen: Nur 71,4% vom Briefwahlergebnis betrug die Zustimmung am Wahltag selbst. Besonders auffällig ist die gegenteilige Dynamik bei der AfD. Sie liegt zwar in Mannheim insgesamt mit 9,1% 3,7 Prozentpunkte unter ihrem Ergebnis von 2017. Jedoch gab es offenbar eine große Schlussmobilisierung für die extreme Rechte. Ihr Urnenergebnis liegt 211,8% über dem Briefwahlergebnis. Die sich demoskopisch abzeichnende Ampelkoalition hat alles was derzeit rechts ist offensichtlich an die Urne getrieben, einschließlich abgewanderter CDU-Anhänger*innen. Bei der LINKEN gab es einerseits gegenüber 2017 den riesigen Einbruch, der auch auf den Wegfall taktisch Wählender (Nähe zur 5%-Hürde!) zurückzuführen ist. Andererseits hat sie im Urnenergebnis 120,5% des Briefwahlergebnisses erreicht, weil der eine die andere ein mögliches Scheitern dann wohl doch verhindern wollte.
Der obere Tabellenteil zeigt die absoluten Zahlen der für die jeweiligen Parteien abgegebenen Stimmen aus der Urnen- und der Briefwahl sowie die Summen aus beiden an. Der untere Teil die prozentualen Anteile der Parteien an der Zahl der abgegebenen gültigen Stimmen. Die unterste Zeile zeigt für jede Partei das Verhältnis der Stimmanteile bei der Urnen- und der Briefwahl an. Daraus werden Unterschiede im Wahlverhalten zwischen Urnen- und Briefwahl deutlich. (Quelle: Amtliches Ergebnis der Bundestagswahl WK 275, eigene Berechnungen).
Entwicklung der äußersten Rechten in Mannheim
Seit der Schockwahl 2016 zum Landtag, bei der die AfD eines von zwei Direktmandaten im Mannheimer Norden (Wahlkreis 35) bekam, schaut man auf die Schönau. Dort hatte diese Partei in einem Stimmbezirk der Schönau Nord-West 35,4% der Stimmen bekommen. Die Stimmführerschaft ging in den Folgewahlen auf einen benachbarten Stimmbezirk über, in das jetzige Sanierungsgebiet Schönau nordwestlich der Endstelle der Linie 1.
Während für die Schönau insgesamt, die ja keinesfalls ein einheitlicher Sozialraum ist, das AfD-Ergebnis seit jener Landtagswahl von 30,1% auf aktuell bei der Bundestagswahl 18,6% gesunken ist, steht Schönau Nord nach wie vor mit 33,7% AfD-Stimmen an der Spitze – bei einer Wahlbeteiligung von 25,2%. Bei der Landtagswahl 2021 kam in diesem Stimmbezirk die AfD immer noch auf 34,7%. Und das, obwohl die fünf Jahre zuvor auf der Schönau wohl kaum jemand den in Mannheim Nord gewählten AfD-MdL Klos jemals zu Gesicht bekommen hatte. Er verbrachte seine Zeit hauptsächlich mit juristischen Auseinandersetzungen mit seinem Kreisverband Mannheim. Die Wahlbeteiligung lag bei der letzten Landtagswahl in Schönau Nord bei 16,5%.
Der Zuschnitt und die Anzahl der Stimmbezirke ändern sich leider von Wahl zu Wahl, worunter die Vergleichbarkeit leidet. Dennoch ergibt sich ein aussagekräftiges Bild. (Quellen: Amtliche Ergebnisse der Bundestagswahlen 2013, 2017 und 2021 im Wahlkreis 275 sowie der Landtagswahlen 2016 und 2021 zusammengefasst aus den Wahlkreisen 35 und 36, eigene Berechnungen).
Leider ist der hohe Anteil der AfD in einzelnen Stimmbezirken nicht auf die Schönau beschränkt. Sie grassiert auch auf der Vogelstang, im Waldhof und Sandhofen, sowie im Mannheimer Süden in Casterfeld und Hochstätt, sowie knapp unter der 20%-Marke besonders in Rheinau.
Bundestagswahl 2021 WK 275, Stadtteilergebnisse der AfD mit 20% und mehr
In Gesamtmannheim hat sich der Stimmenanteil gegenüber dem Stimmenanteil der Landtagswahl 2016 von 18,2% auf 9% halbiert. Jedoch sollte man nicht vergessen, dass der AfD eine kleine Konkurrenz in Form der Partei dieBasis Stimmen gekostet hat (1,31%). Auch diese Partei gibt sich gut bürgerlich und „basisdemokratisch“, kann viele Akademiker aufweisen und ist ansonsten das Segelboot eines großen Teils der Querdenkerszene. Sie ist die Fortsetzung der von dem Schwindelarzt Bodo Schiffmann gegründeten und dann verlassenen Partei Widerstand2020.
Bleibt der Vollständigkeit halber zu erwähnen, dass die LKR („liberal-konservative Reformer“), die Abspaltung von der AfD, zu der fast die gesamte AfD-Fraktion im letzten Mannheimer Gemeinderat übergetreten war, in Mannheim insgesamt nur noch 23 Stimmen verbuchen konnte. Die NPD, die wahrscheinlich nur zwecks Aufrechterhaltung ihres Parteienprivilegs kandidierte, erhielt 146 Stimmen. Damit erweist sich die AfD auch als willkommene Heimat ehemaliger NPD-Wähler*innen – stramm auf Rechtskurs, völkisch und rassistisch. Die liberal-konservativen Kräfte, die mit Bernd Lucke die AfD verlassen hatten, spielen als eigene Formation keine Rolle mehr.
Thomas Trüper