Impfpflicht? JA BITTE!
Dass es keine Pflicht zur Corona- Impfung geben soll, scheint zum politischen Allgemeinplatz in der Pandemie geworden zu sein. Aber könnte eine allgemeine Impfpflicht nicht auch Vorteile haben?
„Es kann und wird keine Impfpflicht geben“ – Ein Satz, der bereits seit Mitte des Jahres 2020 von Bundeskanzlerin Angela Merkel als auch Gesundheitsminister Jens Spahn und vielen Politiker*innen so oder so ähnlich angeführt wurde, um den sich möglicherweise anbahnenden Protesten entgegenzuwirken. Eine Pflicht sollte in der Regel zwar wirklich nicht zu den Mitteln der ersten Wahl zählen, ihr kategorisches Ausschließen kann sich jedoch als fataler (desaströs, katastrophal) Fehler erweisen. Auch innerhalb linker politischer Diskurse scheint Reflex die Reflexion abzulösen, sobald das Buzzword “Pflicht” auftaucht.
Strategisch mag die Aussage von Bundeskanzlerin und Gesundheitsminister sinnvoll gewesen sein, um die Akzeptanz für die Impf- Kampagne zu erhöhen. Aber war es nicht vielleicht auch voreilig und hat den politischen Handlungsspielraum unangemessen begrenzt? Eine Vierte Welle mit Rekord- Infektionszahlen und Stagnation bei den Impfquoten nach fast einem Jahr Impfkampagne, sollten Anlass bieten die politische Strategie der Überzeugung und des Wohlmeinens in Frage zu stellen.
Das gute Recht
Zunächst einmal wäre zu klären, ob eine Impfpflicht rechtlich überhaupt möglich sei. Dass Impfpflichten nicht grundsätzlich ausgeschlossen sind, zeigt sich an den bestehenden Regelungen in Bezug auf die Pflicht zur Impfung gegen Masern für bestimmte Gruppen. Auch das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit aus Artikel 2 Absatz 2 GG ist wie alle anderen Grundrechte – außer der Menschenwürde aus Artikel 1 – kein absolutes. Das heißt, es kann eingeschränkt werden, wenn andere Grundrechte dies erfordern und eine besondere Prüfung der Verhältnismäßigkeit vorgenommen wird. Ohne Einschränkungen der körperlichen Unversehrtheit einzelner wäre z.B. ein Handeln der Polizei kaum vorstellbar. Hinzu kommt, dass sich ja auch alle CoViD- Risikogruppen darauf berufen können, dass der Gesetzgeber alles tun muss, um auch ihre Leben und körperliche Unversehrtheit zu gewährleisten, wozu auch eine Impfpflicht zählen könnte. Artikel 2 (2) des Grundgesetzes schließt also eine Impfpflicht unter gewissen Umständen nicht aus und scheint auch als Argumentationsgrundlage eher für einen Patt zu sorgen.
Zur aktuellen Situation
Mittlerweile gelten etwa 2/3 der Bevölkerung in Deutschland als doppelt geimpft. Bestimmte Gruppen haben sogar bereits eine dritte, sogenannte „Boosterimpfung“ erhalten. Dass diese Impfquote nicht ausreicht, wird uns gerade eindrucksvoll vorgeführt, denn die mittlerweile dominante Delta- Variante zeigt sich deutlich ansteckender als vorherige und zieht bei hohen Zahlen von Neuinfektionen zwangsläufig auch vermehrte Impfdurchbrüche mit sich. Das spricht jedoch nicht gegen die Impfstoffe! Bei hohen Infektionszahlen und einer weiten Verbreitung des Virus, sind steigende Impfdurchbrüche auch bei hohen Wirksamkeiten von 90% und einer Impfquote um die 66%, mathematisch einfach nur eine logische Folge. Insofern kann es momentan auch für Geimpfte kein einfaches weiter so geben, wobei man womöglich noch mit dem Finger auf die Ungeimpften zeigt, sondern müsse entgegen unser aller Illusion, dass nun vieles wieder „normal“ sei, wieder vorsichtiger agiert werden.
Nichtsdestotrotz haben wir es aktuell zu großen Teilen mit der von Expert*innen vorhergesagten „Pandemie der Ungeimpften“ zu tun. Dies zeigen zum einen die Inzidenzzahlen (Bsp. Sachsen: Geimpfte um die 60, Ungeimpfte über 700) und bestätigen auch Beschäftigte in den Krankenhäusern, deren Warnungen wir besonders ernst nehmen sollten. Die Wahrscheinlichkeit eines Krankheitsverlaufs mit Krankenhauseinweisung und schweren Folgen hingegen sinkt mit der Impfung deutlich und auch eine dritte Impfung scheint nach ersten Erkenntnissen aus Israel sehr effektiv zu sein und hat dort eine Welle brechen können.
Ja ich verstehe. Aber…
Landauf, landab wird nach nahezu einem Jahr Impfkampagne trotzdem immer noch dafür geworben, dass man doch Verständnis herbeiführen müsse und Druck nichts bringt. Eine notwendige Grundlage für Verständnis ist die Anerkennung gemeinsamer Grundlagen der Erkenntnisgewinnung. Diese werden von Querdenke*innen und Impfgegner*innen zunehmend jedoch zunehmend in Frage gestellt. Unabhängig von der persönlichen Einstellung über Philosophie und Kritik der Erkenntnismöglichkeit und die Beständigkeit von Fakten und Wissen, deutet sich an, dass das Hoffen auf Verständnis hier vergebens erscheint. Hierzu eine kleine Anekdote:
Neulich wurde in der Telegram-Gruppe von „Querdenken Mannheim“ ein Wikipedia- Artikel zu kognitiver Dissonanz geteilt. Diese entstehen, so heißt es dort, durch “einen als unangenehm empfundenen Gefühlszustand, der dadurch entsteht, dass ein Mensch unvereinbare Kognitionen hat (Wahrnehmungen, Gedanken, Meinungen, Einstellungen, Wünsche oder Absichten)”. Dieses Phänomen wurde am Beipiel einer Sekte beschrieben, deren Anhänger*innen, trotz des Ausbleibens des von ihrer Anführerin prophezeiten Weltuntergangs, nur noch fanatischer an ihrer Überzeugung festhielten und nicht ihre Weltsicht und –Deutung in Frage stellten, sondern die aller anderen. Natürlich zielte Querdenken hiermit auf die Mehrheit der Bevölkerung, welche sich nach ihrer Deutung wie diese Sekte verhalte und völlig irrational dem von einer Elite inszenierten Weltuntergangszenario einer Corona- Pandemie anhänge.
Alleine schon, dass offenbar trotz dieses reflexiven Zaunpfahls nicht auch nur im Geringsten darüber nachgedacht wurde, ob man vielleicht nicht selbst die Sekte sei und den Weltuntergang in Form von Gen-Therapie, Nano-Chips oder neuer Weltordnung befürchte, zeigt, dass das Werben um Verständnis in Bezug auf die Impfung bei einem gewissen Teil der Bevölkerung zum Scheitern verurteilt ist.
Zwar bildet diese extreme Ausprägung der Impfgegnerschaft nur einen kleinen Teil der Ungeimpften ab, aber ihr Einfluss auf den Diskurs scheint sich bemerkbar zu machen indem verschiedene, teils absurde Diskussionen immer wieder in größere Teile der Gesellschaft einsickern. Für einen nicht unerheblichen Teil der noch nicht geimpften Bevölkerung spielt zum Beispiel das Thema Langzeitfolgen bzw. Langzeitstudien eine Rolle für ihre eigene Entscheidung. Hierbei stellt sich die Frage auf welche Ergebnisse diese Personen nach etwa einem Jahr Impfkampagne und weltweit über 7 Milliarden verabreichter Impfdosen warten? Zumal nahezu alle Expert*innen schon mehrfach öffentlich darauf hingewiesen haben, dass Langzeitfolgen bei Impfungen, im Gegensatz zu Medikamenten, auf Grund der unterschiedlichen Wirkungsweise nicht auftreten und es auch keine Rolle spielt, ob es sich um etablierte Tot- Impfstoffe oder neuartige MRNA- Impfstoffe handelt.
Nun ist die Wirksamkeit der zugelassenen Impfstoffe ja im Gegensatz zu manch anderen Mitteln nicht abhängig von der Überzeugung der Geimpften. Wie lang will man also noch warten, bis auch der letzte Kicker der Nation sich Informationen beschafft hat, die schon lang und für alle verfügbar sind? Ab wie viel Infizierten und Toten ist von einer allgemeinen Überzeugung auszugehen? Jetzt wird’s moralisch.
Und dann die Moral
Weitere Argumente für eine allgemeine Impfpflicht können sich auch aus moralischen Überlegungen ableiten. Die Entscheidung über eine etwaige Impfung würde dann nicht mehr allein dem Individuum überlassen, was zu einer starken Entlastung und einer Reduzierung des sozialen Drucks sich impfen lassen zu müssen, führen würde. Gleichermaßen gilt dies übrigens auch für den sozialen Druck sich nicht impfen zu lassen. Eine allgemeine Pflicht eröffnet es Menschen, die sich in den vergangenen 20 Monaten in ein Umfeld radikaler Impfgegner*innen begeben haben und sich in diesen Netzen bewegen, die Möglichkeit ihr Gesicht zu wahren und weiterhin die Rolle als „Querdenker*in“ oder „Freiheitskämpfer*in“ wahrzunehmen, nur eben geimpft und mit weniger Risiko für alle anderen.
Mehr Druck von unten!
Dass Druck nichts bringe lässt sich in diesem Zusammenhang ebenfalls in Zweifel ziehen. Immerhin begeben sich täglich Millionen von Menschen zu einem Arbeitsplatz, dem sie ohne ökonomischen und politischen Druck vermutlich lieber fernbleiben würden. Allein auf den Erfolg von Druck zu verweisen, genügt hier jedoch nicht.
Die entscheidende Frage müsse doch lauten, wie gerecht Druck verteilt wird? Ist es gerecht, dass von Armut betroffene und einkommensschwache Haushalte sich impfen lassen, weil sie sich die Kosten für Tests nicht leisten können? Ist das die Überzeugungsarbeit von der Politiker*innen gerne reden? Ist es gerecht eine Gruppe stärker ökonomisch unter Druck zu setzen, die ohnehin schon deutlich härter von den Folgen der Pandemie betroffen ist, während ein zur Esoterik neigendes Bürgertum es sich leisten kann sich ihrer Verantwortung zu entziehen? Eine Impfpflicht könnte hier für Gerechtigkeit sorgen, da man sich nicht einfach so von ihr freikaufen könne. Statt den Druck immer nur in kleinen Schritten zu erhöhen, wäre eine ehrliche Diskussion einer Impfpflicht angebracht und würde zudem den Diskussionen eines „Zwangs durch die Hintertür“ die Grundlage entziehen.
Andere Länder sind bereits mit einer Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen vorausgegangen, weil diese vermutlich auf Grund der Verhältnismäßigkeit einfacher umzusetzen ist, als eine allgemeine Impfpflicht. Expert*innen befürchten, dass es in diesem Falle gerade in der Pflege, wo die Anzahl der Beschäftigten ohne Impfschutz immer noch erschreckend hoch zu sein scheint, zu einer Welle von Kündigungen kommen könnte, was den bestehenden Notstand eher verschärfen würde. Auch hier könnte eine allgemeine Impfpflicht diesem entgegenwirken und zu einem größeren Verständnis führen, da nicht bestimmte Gruppen anders behandelt werden würden als andere. Eine allgemeine Impfpflicht kann also unter Gesichtspunkten der Gerechtigkeit durchaus sinnvoll sein und sollte auch in Berufsverbänden diskutiert werden.
Es geht ums Geld!
Zu Guter Letzt, kann eine Impfpflicht auch aus ökonomischer Perspektive sinnvoll sein, da sie Milliardenschäden öffentlicher Haushalte durch CoViD- Behandlungskosten, Bekämpfungsmaßnahmen, Einkommens- und Steuerverluste sowie Milliarden-Subventionen für Konzerne verhindern oder dämpfen kann. Wie die Erfahrungen des vergangenen Jahres gezeigt haben, haben die Pandemie-Maßnahmen zu einer noch drastischeren Umverteilung von Vermögen hin zu den Wohlhabenden geführt, während untere Einkommensgruppen und Arme noch stärker belastet wurden. Diesem gilt es auch aus einem Klassenstandpunkt heraus entgegenzutreten, denn bisher hat jede „Corona- Welle“ dazu geführt, immer mehr öffentliche Gelder in private Vermögen und Renditen zu überführen. Öffentliche Gelder, welche deutlich sinnvoller in Sozialsystemen, die ihren Namen verdienen oder Gesundheit und Infrastruktur investiert werden sollten. Und auch wer es der Pharma- Industrie so richtig zeigen möchte, sollte sich Impfen lassen, denn eine Behandlung einer Corona- Erkrankung ist deutlich teurer und sorgt für höhere Profite als der Impfstoff.
Und nun?
Nachdem Umfragen zu einer allgemeinen Impfpflicht im August noch eher auf ein Unentschieden in der Bevölkerung hindeuteten, zeigt sich im November erstmals eine Mehrheit von 57% der Befragten (Tagesschau Deutschlandtrend) für eine allgemeine Impfpflicht. Klar, auch eine deutlich höhere Impfquote wird uns vermutlich nicht von CoViD19 befreien und es kann noch Jahre dauern, bis eine Balance aus Herdenimmunität und Infektionsfolgen eingetreten ist, wie es z.B. bei der Grippe der Fall ist. Es sollte nun aber an der Zeit sein, politisch wieder das Heft des Handelns zu ergreifen und auch die Vor- und Nachteile einer allgemeinen Impfpflicht offen zu diskutieren, statt uns vom Anachronismus eines Merkel‘schen Imperativs lähmen zu lassen. Hieran wird sich auch zeigen, ob wir gesellschaftlich in der Lage sind noch größere Herausforderungen wie z.B. die Folgen der Erderwärmung konstruktiv zu diskutieren und sozial zu gestalten oder nur über uns ergehen lassen und hoffen, dass es schon nicht so schlimm werde.
Kommentar: DeBe
Quellen:
https://www.tagesschau.de/inland/deutschlandtrend/deutschlandtrend-2821.html
https://www.sueddeutsche.de/politik/booster-impfungen-wie-israel-die-vierte-corona-welle-gestoppt-hat-1.5454603
https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Daten/Impfquoten-Tab.html
https://de.wikipedia.org/wiki/Kognitive_Dissonanz