Über die Landesausstellung »Arbeit & Migration« im Mannheimer TECHNOSEUM
Das Museum als demokratische Intervention
Fast pünktlich zum 60-jährigen Jubiläum des vierten Anwerbeabkommens der Bundesrepublik mit der Türkei eröffnete am 12. November 2021 im Mannheimer Landesmuseum für Technik und Arbeit TECHNOSEUM die große Landesausstellung »Arbeit & Migration. Geschichten von hier«, aus der die Bilder dieser Ausgabe des express entnommen sind. Das könnte man für gut getimt halten, aber tatsächlich ist es Zufall: Die Ausstellung hätte bereits vor fast einem Jahr eröffnen sollen, aber Kuratorin Anne Mahn hatte sich mehr Zeit auserbeten.
Dieses Mehr an Vorbereitungszeit wurde nötig aufgrund des hohen Partizipationsanspruchs der nun eröffnenden Ausstellung. Partizipation, so Mahn auf der Pressekonferenz des Hauses am 9. November, sei ein aktuell fast schon inflationär gebrauchter Begriff in der Museumslandschaft. So umgesetzt wie hier findet man diesen Anspruch jedoch wohl eher selten: Die Kuratorinnen Anne Mahn und Bahdja Maria Fix waren nicht nur mit einem »Sammelmobil« unterwegs auf Marktplätzen, Flohmärkten und Betriebsfesten in der Region, sie haben seit mehr als drei Jahren den direkten Kontakt zu den migrantischen, postmigrantischen und migrantisierten Akteur:innen ihres Themas gesucht, nicht zuletzt auch unter Einbeziehung des nicht-wissenschaftlichen Museumspersonals.
Das Resultat ihrer Bemühungen ist nicht nur ein vielfältiges, Geschichten erzählendes Sammelsurium von Exponaten vom Werkzeug des Homo Heidelbergensis als symbolischem »ersten Migranten« im Rhein-Neckar-Gebiet bis zum abgemalten Starschnitt von La Boum-Darsteller Pierre Cosso mangels Geld für eine eigene Bravo, sondern ein Begleitprogramm, an dem sich die Leihgeber:innen und Schenker:innen der Exponate aktiv beteiligen.
Teilhabe und Teilnahme sind auch Bestandteil der Ausstellung selbst: In der Ausstellung haben die Besucher:innen z.B. die Möglichkeit, eigene Einschulungs- und Hochzeitsfotos via QR-Code in interaktiven Bilderrahmen zu ergänzen. Das ist nicht nur reine Museumsspielerei, das ist ausgeklügeltes didaktisches Konzept: Die Einschulungsfotos von Grünen-Politiker Cem Özdemir oder Mannheimer Comedian Bülent Ceylan und der Museumsmitarbeiter:innen und -besucher:innen gehören, herkunftsunabhängig, zusammen, sind eben, wie der Untertitel der Ausstellung besagt, »Geschichten von hier«. Man darf sich aber auch in einen Delivery Rider hineinversetzen und mit schwerem Thermorucksack in die Pedalen treten (obgleich so manch ein »Rider« sich über ein Fahrrad dieser Qualität freuen dürfte). Vor allem aber ist der letzte Raum der Ausstellung ein Diskussionsraum, in dem die Besucher:innen ihre eigenen Erfahrungen mit dem in der Ausstellung Dargestellten kontextualisieren können.
Die »Riders« geben das Stichwort: Um die aktuellen Streiks und Proteste der Berliner Gorilla Workers zu reflektieren, war die Zeit nun doch zu knapp, aber von den »wilden« Streiks der 1970er Jahre, hier am Beispiel Lanz-John Deere in Mannheim, bis zu den Protesten der osteuropäischen Erntehelfer:innen im rheinländischen Bornheim bei Bonn 2020, den Protesten der Riders bei Foodora, Deliveroo und Lieferando seit 2016 sowie den Auseinandersetzungen und Debatten um den Care-Sektor vor allem während der Pandemie wird auch und vor allem die Geschichte der migrantisch geprägten Arbeitskämpfe erzählt.
Und selbst der im TECHNOSEUM unvermeidliche Ausstellungsteil zur unternehmerischen Sicht der Dinge – das »Gründungspotential«, das (post-)migrantische Unternehmensgründungen im Geist von Volks- und Marktwirtschaft meint – atmet noch den Odem einer Sozialgeschichte von unten: Die Inszenierung einer schwäbischen Eisdiele (Eiscafé Venezia, natürlich) nehmen die Kuratorinnen zum Anlass, die dortigen sozialen Verschiebungen in den Blickpunkt zu nehmen. Das Großexponat hat das Museum nicht, wie man meinen könnte, aufgrund einer Pleite erreicht, sondern aufgrund einer Umstellung zur Selbstbedienungs-Eisdiele. Hintergrund: Die italienischen Eisdielen bekommen kein ausgebildetes Personal mehr. Die dritte, oder vielleicht vierte, Generation verwirklicht sich im Studium der Medizin oder Juristerei, wie Anne Mahn während der Ausstellungseröffnung berichtete (nachzuschauen hier: https://youtu.be/EF17XH3udBw). Neues Personal rekrutieren die Eisdielen vorrangig von italienischstämmigen Einwanderer:innen aus Brasilien. »Europäische Arbeitnehmerfreizügigkeit auf der Schwäbischen Alb«, kommentiert Anne Mahn augenzwinkernd in ihrer Eröffnungsrede.
Damit ist das TECHNOSEUM so nah an seinem neben Technik zweiten großen Thema »Arbeit« wie seit der Ausstellung »Durch Nacht zum Licht? Geschichte der Arbeiterbewegung 1863 – 2013« im Jahr 2013 nicht mehr. Im direkten Vergleich mit der Ausstellung zur Geschichte der Arbeiter:innenbewegung gewinnt die aktuelle Ausstellung, weil sie nicht die »große Geschichte« von Gewerkschaften, Parteien und Genossenschaften erzählen muss, sondern sich auf die »kleinen Erzählungen« stützt, diese aber nicht postmodern-individualisierend im leeren Raum stehen lässt, sondern zu einer Gesamterzählung zusammenfügt.
Diese Gesamterzählung ist schlicht: Deutschland ist – und war schon immer – ein Einwanderungsland – entgegen dem migrationspolitischen Selbstverständnis, das bis zum Jahr 2005 brauchte, um den Sachverhalt der Einwanderung offiziell anzuerkennen und auch seitdem begrifflich an dem Konstrukt der kontrollierten Zuwanderung festhält. Anne Mahn und Bahdja Maria Fix erzählen diese Geschichte empathisch anhand der Exponate. Anne Mahn ist bei der Führung für die Vertreter:innen der Presse die Liebe zu jedem einzelnen Exponat anzumerken. Das ist nicht nur die klassische Eigenschaft einer musealen Sammlerin, das basiert auf dem demokratischen und partizipativen Prozess des Sammelns. Ob Schultüten oder Schreibmaschinen, ob Schlümpfe oder Schränke: Sie alle erzählen Episoden einer Arbeits- und Migrationsgeschichte, die sich hier kunstvoll und informativ zu einem stimmigen und kritischen Gesamtbild vereinen.
Torsten Bewernitz
Erstveröffentlichung in „express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit“ 11/2021