Unbedingt lesenswert: Mannheim-Neckarstadt von Hans-Joachim Hirsch
Das Buch „Mannheim-Neckarstadt“ von Hans-Joachim Hirsch bietet für viele, die nicht schon beim Neckarstadt-150-Rundgang waren, sicherlich überraschende Einblicke in die Entwicklung der Neckarstadt, die in ihrer Entstehungsphase so gar nicht so war, wie wir sie heute kennen. Dafür steht exemplarisch der „Alte Messplatz“: Wer ahnt schon, dass sich seit 1855 auf diesem Platz unmittelbar hinter der Neckarbrücke die wirklich beachtlich große Chemiefabrik von Carl Zimmer erstreckte, die ein halbes Jahrhundert lang Dünger aus Naturdung produzierte und damit heftigen Gestank verbreitete? Diese Fabrik verschwand ersatzlos. Bopp und Reuther füllte die Spitze des Dreiecks zwischen Damm- und Langstraße aus, bis die Firma nach Waldhof verlagert wurde. Die erste Fabrik von Carl Benz wurde längs der Waldhofstraße erbaut und existiert als MWM (heute Caterpillar) fort. Im Wohlgelegen entstand eine weitere Chemiefabrik. Und das ist nur eine Auswahl. Die Neckarstadt begann als regelrechter Industrieort.
Diese Gründungen liegen zeitlich alle vor dem „Geburtstag“ der Neckarstadt. Der erfolgt erst am 15. Februar 1872 mit der Genehmigung der städtebaulichen Erschließung der Neckargärten und der Wiesen längs der Dammstraße. Es geht um die Unterbringung der Arbeiterinnen und Arbeiter der Neckarstädter Fabriken, die teilweise in fabrikeigenen Schlafsälen nächtigen. Die Eigentumsverhältnisse der bis dahin dem Alt-Mannheimer Bürgertum gehörenden Gartenparzellen und Gartenhäuschen oder –villen erweisen sich von Anfang an als Hemmnis für den längst überfälligen massiven Wohnungsbau. Zur Gründung einer großen Wohnungsbaugesellschaft kommt es nicht (S. 42). Der Wohnungsbau in der Neckarstadt(-West) kommt schwierig und kleinteilig voran und leidet unter der Privatparzellierung – bis heute. Und diese Privaten nutzen damals schon den Wohnungsbau, um sich daran zu bereichern: Kleine Wohnungen und oft maßlos überteuert, das Wohnungselend der Industrialisierungs- und Gründerzeit.
Interessant auch die Entwicklung der Neckarstadt-Ost als „Musebrotviertel“, als bürgerlich gehobenes Wohnquartier, die ebenfalls erstmal ziemlich ausgebremst wird, durch Rezession und dann den 1. Weltkrieg. Im Außenbereich der Neckarstadt geht die Stadtverwaltung in den 20er Jahren mit ihrer frisch gegründeten Baugesellschaft GBG und mit einem hohen Prozentsatz kommunal geförderter Wohnungen die Wohnungsnot der wachsenden Industriestadt planmäßig und erfolgreich an. Die Erlenhofsiedlung rechts und links der Waldhofstraße ist hierfür mustergültig. Dennoch gibt es in den Spelzengärten zwischen Max-Joseph-Str. und Huthorstweg bis in die 20er- und frühen 30er-Jahre ein augesprochenes Elendsquartier aus Holzverschlägen. Die Stadtverwaltung ist in den 20er Jahren bemüht, mit Volksküche, Volksbad und einem Mütter- und Säuglingsheim den größten Missständen entgegenzuwirken.
Nochmals Alter Messplatz: Als er schließlich angelegt war, fungierte er als Endpunkt dreier Vororteisenbahnlinien mit jeweils eigenen Bahnhöfen, von denen auch der letzte am jetzigen „ALTER“ verschwunden ist, von denen man heute nichts mehr ahnt. (Hierzu wird übrigens die Initiative „Neckarstadt 150“ demnächst eine eigene Ausstellung am Platzhaus zeigen.)
Die politischen Verhältnisse, insbesondere die Arbeiter:innenbewegung besonders in der Neckarstadt-West werden von Hans-Joachim eindringlich geschildert, einschließlich des Kampfes gegen die Versuche der NSDAP, den Stadtteil zu vereinnahmen. Dennoch gelang es den Nazis, sich in den Fabriken einzunisten und links eingestellte Menschen zu terrorisieren. Die Neckarstadt war auch ein lohnendes Ziel für die Arisierer, um sich an Geschäften und Firmen in jüdischem Besitz zu bereichern.
Das Buch schließt mit der unmittelbaren Nachkriegszeit bis zum Jahr 1950, mit dem schwierigen Wiederaufbau von Wohnhäusern und Infrastruktur, der Nutzung von Bunkern als Wohnraum bis in die 60er Jahre hinein.
Nach Lektüre der Geschichte der Neckarstadt (Teil 1 – Hans-Joachim Hirsch hofft ja auf einen Teil 2 bis zur Gegenwart) begreift man Vieles von der ungeheuren Dynamik dieses 150 Jahre jungen größten Mannheimer Stadtteils und auch von der Bedeutung der heimlichen „Demarkationslinie“ Waldhofstraße zwischen West und Ost, zwei ungleichen Schwestern, die aber eben doch die eine Neckarstadt ausmachen.
Das Buch von Hans-Joachim Hirsch ist trotz des wissenschaftlichen Niveaus gut lesbar und spannend. Es ist ein Muss (keineswegs nur) für die Neckarstädter:innen. Und auch hier gilt: Man muss wissen, wo der Stadtteil herkommt, wenn man sich Gedanken macht, wie er sich zukünftig weiterentwickeln kann und sollte.
(tht)
Hans-Joachim Hirsch: Mannheim-Neckarstadt. Ein Stadtteil von den Anfängen bis in die Nachkriegszeit. Bearbeitung und Redaktion: Anja Gillen. Schriftenreihe MARCHIVUM Nr. 8. ISBN 978-3-95505-330-7. Verlag Regionalkultur 2022.