Endlich: Zwei Gemeinschaftsschulen mit Abi für Mannheim in Planung. BM Dirk Grunert hält Wort
Der Jugend- und Bildungsausschuss billigte als Empfehlung an den Mannheimer Gemeinderat einstimmig die Planung einer neuen Gemeinschaftsschule mit Sekundarstufe 2 (bis zum Abitur) für Mannheim Mitte oder Norden, die „idealerweise“ bis 2026 stehen soll. Weiter heißt es in der zugrundeliegenden Verwaltungsvorlage V134/2022: „Perspektivisch sollen Planungen für eine weitere dreizügige Gemeinschaftsschule im Mannheimer Süden angestrebt werden, die den Schulbetrieb ab den Jahren 2031/2032 ff aufnehmen könnte. Die Entscheidung darüber ist spätestens im Jahr 2025 zu treffen.“
Diese nun ganz friedlich getroffene Entscheidung, der der Gemeinderat mit Sicherheit folgen wird, ist durchaus spektakulär. Man vergegenwärtige sich nur, welche Grabenkämpfe noch vor 10 oder 15 Jahren um die Nützlichkeit und Notwendigkeit oder eben Verwerflichkeit von Gemeinschaftsschulen besonders im Landes Baden-Württemberg und auch in Mannheim geführt wurden (dazu weiter unten). Dirk Grunert hatte schon bei seiner Bewerbungstour um die Stelle des Bildungsdezernenten 2019 angekündigt, er werde sich für mindestens eine weitere Gemeinschaftsschule in Mannheim einsetzen.
Was ist der Vorteil der Gemeinschaftsschule gegenüber dem gegliederten Schulsystem?
Die Schülerinnen und Schüler unterschiedlicher Leistungsniveaus lernen in den Sekundarstufen gemeinsam und werden individuell gefördert. Stärkere unterstützen Schwächere (soziale Kompetenz!), die Schüler:innen lernen zu kooperieren. Entscheidend ist, dass die Differenzierung nach kürzeren oder längeren Bildungsgängen erst dann stattfindet, wenn es so weit ist. Die Weichen werden nicht schon nach der Grundschule über die bindende Grundschulempfehlung gestellt. All dies sind wesentliche Voraussetzungen für mehr Bildungsgerechtigkeit – gerade für Schüler:innen aus Elternhäusern, die ihre Kinder schulisch nicht oder wenig unterstützen können. Das lange gemeinsame Lernen umfasst im Idealfall auch die Inklusion von Schüler:innen mit körperlichen, geistigen und / oder psychischen Behinderungen. Gemeinschaftsschulen sind grundsätzlich gebundene Ganztagsschulen.
Ein weiterer Vorteil eines Gemeinschaftsschulangebotes ist, dass nach Abschaffung der bindenden Grundschulempfehlung nicht der Run auf das Gymnasium stattfinden muss, wenn die Eltern der Meinung sind, ihr Kind solle auf jeden Fall das Abitur machen um später bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt und für besser bezahlte Berufe zu haben. Das Kind kann sich in der Gemeinschaftsschule vor dieser Frage länger entwickeln und besser seine Neigungen und Fähigkeiten berücksichtigen.
Wie sieht das bisher in Mannheim aus?
Mannheim verfügt mit der Johannes-Kepler- und der Kerschensteiner-Schule über zwei Gemeinschaftsschulen, die allerdings nur bis zur Klassenstufe 9 oder 10 (Werkreal- oder Realschulabschluss) führen. Die Kerschensteiner-Schule schreibt dazu auf ihrer Website: „Welchen Abschluss ein Kind einmal machen wird, entscheidet sich bei uns nicht schon nach der Grundschulzeit, sondern erst dann, wenn es soweit ist. In der achten und neunten Jahrgangsstufe werden Schullaufbahnberatungsgespräche geführt, an denen das jeweilige Kind, dessen Eltern und Lehrkräfte teilnehmen.“
Nach der Sekundarstufe 1 steht an diesen beiden Gemeinschaftsschulen für Schüler:innen, die das Abitur anstreben, zwangsläufig ein Schulwechsel an.
Seit 1975 verfügt Mannheim jedoch auch über die Integrierte Gesamtschule Mannheim Herzogenried (IGMH). Dort gibt es zwar nach einer dreijährigen gemeinschaftsschulartigen Orientierungsstufe für Alle dreigliedrige Klassenzüge (Werkrealschul-, Realschul- und Gymnasialzweig); es besteht jedoch eine große Durchlässigkeit zwischen den drei Zweigen. Die IGMH ist bekannt dafür, dass sie zu Zeiten der verbindlichen Grundschulempfehlung viele Schülerinnen und Schüler mit deutlich höherem Schulabschluss entließ, als es die Grundschulempfehlung vorsah. Entsprechend beliebt ist diese Schulart in Mannheim: Die Nachfrage ist jedes Jahr etwa doppelt so hoch, wie die Schule Plätze zu vergeben hat. Es ist bezeichnend für das nun seit 70 Jahren bestehende und 58 Jahre davon schwarz regierte Land Baden-Württemberg, diesen erfolgreichen Schultyp, den es ansonsten nur noch einmal in Freiburg und einmal in Heidelberg gibt, mehr als drei Jahrzehnte als „Schulversuch“ eingestuft zu haben und Gemeinschaftsschulen erst 2012/13 eingeführt zu haben. Heute ist die IGMH eine „Schule besonderer Art“.
Gemeinschaftsschulen in Baden-Württemberg
Mit Beginn der grün geführten Landesregierungen 2011 fiel das Verbot der Gemeinschaftsschulen. Zunächst wurden 42 dieser Schulen im Lande zugelassen, inzwischen sind es 308. Jedoch nur acht dieser Gemeinschaftsschulen führen bis zur Hochschul- / Fachhochschulreife. Gemeinschaftsschulen bis Klasse 9 oder 10 sind breit in der Fläche verteilt. Denn auch CDU-regierte Landkreise und Kommunen merkten schnell, dass mit dem gemeinsamen Lernen auch Schulschließungen in der Fläche reduziert werden konnten, weil die Mindestforderung der Zweizügigkeit so durch Umwidmung oft noch erfüllt werden konnte, was im System der Dreigliedrigkeit nicht mehr der Fall gewesen wäre.
Der politische Kampf um die Gemeinschaftsschule
Die eingangs erwähnten Grabenkämpfe waren heftig und es gab eine klare Blockbildung zwischen schwarz-gelb und rot-rot-grün. Auch die Lehrer*innenverbände positionierten sich meist gegensätzlich: Die GEW unterstützte im Wesentlichen das Prinzip Gemeinschaftsschule, der Philologenverband sah die Besserstellung der Gymnasiallaufbahn gegenüber der Haupt- und Realschullehrer:innen-Laufbahn gefährdet, die ja in der Gemeinschaftsschule alle miteinander kooperieren müssen und dabei sehr unterschiedlich für das Gemeinsame qualifiziert waren und sind. Wo sich Schulen auf den Weg zur Gemeinschaftsschule machten, gab es meist auch regelrechten Krach innerhalb der Elternschaft. Viele fürchteten, dass ihnen das Gymnasium weggenommen werde, andere sahen die großen Chancen für ihre Kinder. „Sich für die Schulreform stark zu machen, ist die sicherste Art, Landtagswahlen zu verlieren“ war ein geflügeltes Wort; das Hin- und Her in der Bildungspolitik war bei den Wählenden insgesamt sehr unbeliebt.
Die SPD konzentrierte sich in der Auseinandersetzung jedoch praktisch auf den Kampf um die Ganztagsschule; die Grünen entwickelten eine gewisse Affinität zu Privatschulen, insbesondere Richtung Waldorfschulen. DIE LINKE setzte sich in den Landtagswahlkämpfen stets intensiv für die Gemeinschaftsschule ein.
Auch seit ihrer Präsenz im Mannheimer Gemeinderat ab 2009 spielte dieser Einsatz eine große Rolle. 2010 führte die zweiköpfige Gruppe der LINKEN ein groß angelegtes Hearing zur Werkrealschule durch, die von der CDU als Antwort auf den Niedergang der Hauptschule im Wesentlichen durch Umetikettierung gepuscht und in Mannheim auch umgesetzt wurde. Im Gegensatz dazu wurde von der LINKEN das Prinzip des langen gemeinsamen Lernens vertreten. Die praktische Forderung war: „Eine zweite Integrierte Gesamtschule für den Mannheimer Süden“. Diese Forderung war der realpolitische Versuch, unter dem Verdikt der schwarzen Landesregierung gegen Gemeinschaftsschulen wenigstens die Erklärung der Integrierten Gesamtschulen zu limitierten Schulversuchen aufzuheben oder durch Filialbildung der IGMH im Mannheimer Süden einen Schritt voranzukommen.
Im Kommunalwahlprogramm 2009 der LINKEN heißt es:
„Grundsätzlich fordern wir zum Schulwesen in Mannheim:
- Ausstattung der Mannheimer Schulen als integrative Gemeinschaftsschulen.
- Die Stadt muss gegenüber Landesregierung / Kultusministerium alle Möglichkeiten nutzen, die Zulassung von Gemeinschaftsschulen in Mannheim zu erwirken.“
Im Kommunalwahlprogramm 2019 heißt es:
„Die Gemeinschaftsschule soll allen Kindern eine individuelle Förderung ermöglichen. Wir wünschen uns den weiteren Ausbau dieser Schulform auch mit gymnasialer Oberstufe.
DIE LINKE. fordert:
- „Im Mannheimer Süden soll schnellstmöglich eine zweite Gesamtschule nach dem Modell der IGMH geschaffen werden.
- Die übrigen weiterführenden Schulen sollen in Gemeinschaftsschulen mit Möglichkeit zum Abitur umgewandelt werden.“
Letztere Forderung ist ausgesprochen langfristig. Umwandlungen erfordern zunächst die Zustimmung der jeweiligen Schulkonferenzen und sind mit großen Investitionen Richtung Ganztagsbetrieb und erweiterte Räumlichkeiten für Individualförderung und begleitende Dienste verbunden. Allein schon der Grundsatz der Inklusion wird auf die Dauer jedoch tatsächlich die Umstellung erfordern.
Der jetzt vorgelegte Plan zur Weiterentwicklung der weiterführenden Schullandschaft ist ein Meilenstein
Es ist kein Zufall, dass die Planung von zwei Gemeinschaftsschulen mit Sekundarstufe 2 bei Schulneubauten ansetzt. Diese ist aus o.g. Gründen leichter und sicherer umzusetzen als die Umwandlung.
Rückenwind geben die nun wieder steigenden Schüler:innenzahlen. Nach 20 Jahren Abwärtstrend zeigen die neuen Prognosen einen Wiederanstieg um 17,5% von jetzt bis 2040. Diese Prognosen sind nach aller Erfahrung stets mit Vorsicht zu genießen. „The Länd“ und insbesondere Mannheim sind keine abgeschotteten Inseln, auf denen man aus dem generativen Verhalten der Bevölkerung sofort sichere Zukunftsprognosen ableiten kann. Vielmehr sorgt der Gang der Weltgeschichte für Wanderungs- und Fluchtbewegungen, Binnenwanderungen. Die Wirtschaftsentwicklung und sonstige Unwägbarkeiten haben eine erhebliche Bedeutung. Man wird eher auf der sicheren Seite liegen, wenn man einen „Risikozuschlag“ in die Planung einbaut. Das „Schlimmste“, was passieren kann, wenn die Bevölkerungszunahme unter den Schätzungen liegt, ist die Möglichkeit, die Klassen zu verkleinern. Das kostete jedoch alles viel Geld – Thema Umverteilung von Oben nach unten, Stärkung der Öffentlichen Haushalte.
Nach all den Auseinandersetzungen über die Gemeinschaftsschule stellt jetzt das Bildungsdezernat lapidar fest: „Vergleicht man heute Angebot und Bedarf, so fehlen laut Aussage des zuständigen Schulrates bereits jetzt Schulplätze an Gemeinschaftsschulen“.
Die Weiterentwicklung der Bildungslandschaft insgesamt ist ein gigantisches und unausweichliches Investitionsprojekt
Allein die Bedarfsanalyse in den Bereichen der Sekundarstufen 1 und 2 bis 2027 zeigt einen Fehlbestand von 11 Klassenzügen auf (multipliziert mit den jeweils Jahrgangsstufen ergibt sich das Bild der Klassenräume).
Damit ist es jedoch nicht getan: „Die zunehmende Etablierung von Kooperationspartner*innen, die außerschulische Unterstützungsangebote an den Schulen vor Ort umsetzen, führt teilweise zur Umnutzung von Räumen, die dann nicht mehr für den Unterrichtsbetrieb zur Verfügung stehen (z.B. Büro für Schulsozialarbeit oder Ausbildungslots*innen, Berufsberater*innen etc.).
Auch die in den letzten Jahren gewachsene Anzahl von Vorbereitungsklassen (Zugewanderte) erfordern zusätzliche Klassenräume. Sie weisen meist eine kleinere Anzahl von SuS (Schülerinnen und Schülern) auf (17 VKL-Klassen mit durchschnittlich 14 SuS bezogen auf Sekundar 1-Schulen). Auch Differenzierungsmaßnahmen innerhalb der schulischen Inklusion, Schulsozialarbeit, Ausbildungslots*innen sowie Ganztagsangebote benötigen mehr Raum.“
Daraus folgt der Hinweis: „Die vom Land vorgegebenen Flächenbedarfe für die Schulen berücksichtigen die im letzten Abschnitt genannten Aspekte nur zu geringen Teilen bzw. gar nicht. Darüber hinaus besteht die Problematik, dass die Betrachtung von Schülerzahlen alleine nicht auf die Anzahl der belegten Klassenräume schließen lässt. (…) Dies führt zu einer hohen Diskrepanz bei den Vorgaben des Landes und der Klassenbildung in der Realität.“
Der gesamte Grundschulbereich – ebenfalls mit steigenden Schüler:innenzahlen – kommt hinzu, wie auch der Gewerbeschulbereich. Die drei Mannheimer Gewerbeschulen am Neckarufer Nord bedürfen allesamt der grundlegenden Sanierung (es kursieren schon Abriss- und Neubauüberlegungen).
Und wie wir alle wissen: Das Fundament einer gelingenden Bildung der Kinder und Jugendlichen setzt den hohen Anforderungen entsprechende Kitas voraus – ein nicht enden wollendes Ringen um genügend Plätze. Summa summarum: Die Zukunftsaufgabe gute Bildung für alle ist ein immenses Investitionsunterfangen, wie ja auch Wohnen, Umwelt und Verkehr, Kultur. Wer hier auf den schwarzen Nullen herumreitet versündigt sich an der Zukunftsfähigkeit der Stadt Mannheim.
Sicher ist noch gar nichts
Die Vorlage über die Weiterentwicklung der weiterführenden allgemeinbildenden Schulen stellt eine sehr gute und realistische Konzeption dar, eine Willenserklärung. Sie verschweigt – anders als in der Vergangenheit – tatsächliche Bedarfe nicht, weil sie angeblich nicht finanzierbar seien. Aber die ganze Konzeption muss erst noch in den nächsten Haushalten verankert und mit Finanzmitteln hinterlegt werden. Und nicht vergessen: Bis zur konkreten Planung der zweiten Gemeinschaftsschule im Mannheimer Süden gibt es 2023 noch eine OB- und 2024 eine Gemeinderatswahl. Mit der Einstimmigkeit könnte es dann rasch vorbei sein, wenn z.B. die Fans der Dreigliedrigkeit und der Gymnasien wieder erwachen. Es wird noch manche Auseinandersetzungen geben. Es lohnt sich auch hier, für klare Mehrheitsverhältnisse zu kämpfen, z.B. für mehr Bildungsgerechtigkeit.
Thomas Trüper, Altstadtrat DIE LINKE / LI.PAR.Tie.