David Julian Kirchners „Klassenkampfprojekt IG Pop” – Eine Erörterung von Bernd Köhler

Im Barjazz-Abendkleid – Richtung sozialistische Weltrepublik?

Foto: „Staatsakt”

Es kommt nicht oft vor, dass sich der Kulturteil des Mannheimer Morgen einem deutschsprachigen Popmusiker widmet, der mit Titeln wie dem »Einheitsfrontlied«, der »Internationale« oder dem »Heimlichen Aufmarsch« von Erich Weinert die kämpfende Arbeiterklasse unterstützen möchte. So gelesen am 9.11.22 in einem halbseitigen Artikel über den Pop-Akademie-Absolventen David Julian Kirchner und sein Bandprojekt IG Pop.

Einen „seiltanzend pulsierenden Hauch von David Bowies »Heroes«” empfand der MM-Berichterstatter beim neu interpretierten »Einheitsfrontlied« (Drum links, zwei, drei usw.)  und dem Lied vom Heimlichen Aufmarsch gegen die Sowjetunion attestiert er mit „tiefergelegter Effektstimmung im Barjazz-Abendkleid” Richtung sozialistische Weltrepublik zu marschieren.

Da musste ich doch kurz lachen und dann kräftig durchatmend einen revolutionären Schluckauf bekämpfen.

Nein, nein „nichts davon sei ironisch oder klamaukig” gemeint, wird David Julian Kirchner noch zitiert, was auf seiner Internetseite mit PR-Zitaten dann auch eindrucksvoll untermauert wird: “Der Mannheimer Künstler formt aus alten Polit-Gassenhauern und einigen eigenen Songs den aktuellen Soundtrack zum Klassenkampf, und wie es sich für richtigen Agitprop gehört, geht er dabei nicht verstellt vor, sondern immer gleich voll auf die Zwölf…. Der Traum von der Revolution, er lebt”, beißt ihm der »Musikexpress«, Magazin für »Music, Style, Movies« ins revolutionäre Stammbuch und vergibt 5 Bewertungs-Sterne (ich gehe davon aus: rote) und die Monatszeitschrift »Kulturnews« ergänzt: „… schließlich hängt dieses Jahr am Tannenbaum der rote Stern.” – und vergibt den Titel „Highlight des Monats”.

WAS IST LOS frage ich mich. HABE ICH ETWAS VERPASST? Tobt da draußen der REVOLUTIONÄRE AUFSTAND und mir hat wieder mal keine/r was gesagt!? UND WER BITTESCHÖN ist dieser revolutionäre Pop-Titan, der die Massen vorantreibt???

Wie so oft hilft ein schürfender Griff in die Tiefen des Internets bei der Suche nach den Wurzeln bzw. dem vielleicht wahren ICH des Protagonisten. In einer mehrteilige SWR-Web-Doku, mit der er sein musikalisches Oeuvre begleitet, (oder ist es andersrum?) werde ich fündig. Zum Beispiel in einem Film über den Odenwald. Titel: „Wo zur Hölle liegt der Odenwald? Oder ist der Odenwald sogar die Hölle?” oder so ähnlich.

Der Film startet durchaus realistisch mit einem kurzen Blick auf ein wehendes Reichsbürgerbanner, dem der Kollege Kirchner aber sichtlich NICHT auf den Grund gehen möchte, sondern lieber gleich / Schnitt / beim »Lewwerworschtkaiser« landet, der sich, übers familiäre Kotelett und Korsett hinausgewachsen, jetzt INTERNATIONALER LEBERWURSTMEISTER nennen darf. »Kein Schwein ruft mich an« ist sein Lieblingslied. Zu allem was der »Lewwerworschtkaiser« sagt, sagt der brave David Jürgen Kirchner „Ja, ja, ja” und resümiert im Abspann: „Vom Lewwerworschtkaiser nehme ich mit, dass Selbstverwirklichung kein Privileg der Städter ist, der Mann ist wirklich er selbst, kein Zweifel.” – AHA!

Und als später ein geplagter Odenwälder Milchbauer ihm den Stammtisch-Kalauer zum Thema Arbeiterklasse ins Mikro diktiert: „Die in der Industrie schreien 35-Stundenwoche, ah, die hab ich in der Mitt’ der Woch schun voll”, kommentiert der revolutionäre Liedersänger: „Unzufriedene Bauern und unglückliche Kühe, aber wer hat Schuld. Ich würde mich jedenfalls nicht freisprechen.”

So läuft er also im blitzsauberen Anzug mit ordentlich gebundener Krawatte über grüne Wiesen und verkündet: „Ich muss weiter, mal sehen wie der Bayernwald so tickt, in Sachen Prekariat”.

Ach, es gibt schlimmere Konzepte seinen Bekanntheitsgrad erhöhen zu wollen, denke ich – und im Odenwald, Bayerischen Wald oder im Saarland hat er die schrägen Vögel für seine Filme ja auch ganz nett ausgewählt, aber WAS BITTESCHÖN hat das alles mit dem kämpfenden PROLETARIAT oder PREKARIAT zu tun? Leider genauso wenig wie seine popmusikalischen AUFBEREITUNGEN von Klassikern des Arbeiterliedes.

Unbeantwortbar bleibt auch die Frage ob es der Protagonist mit seinem Aufschlag zwar etwas naiv-verirrt, aber doch ehrlich meint oder ob es sich ganz einfach nur um eine weitere Nuance der Popkultur handelt, auf der Suche nach einer besonderen pekuniären Nische?

Schnitt / Klappe / Ende / Szenenwechsel

Wer sich selbst ein Bild machen möchte, kann am 2. Dezember zum Tour 22-Abschlußkonzert in die »Kulturbrücken Jungbusch« kommen.

Dort ist dann sicher auch die zugehörige Langspielplatte für ungemein prekariatsfreundliche 23,50 Euro erhältlich. Erschienen beim Label „Staatsakt” in Hamburg. Wer sagts denn.

 

Bernd Köhler – 29. November 2022