Mannem vorne bei der Vogelgrippe? – Eine kritische Bestandsaufnahme

 Weltweit bricht der aktuelle Seuchenzug der Vogelgrippe alle Rekorde, beschleunigt das Artensterben und rückt näher an die Menschen heran

Im Februar 2022 berichtete KIM eingehend über Ausbrüche der Vogelgrippe in Mannheim, Heidelberg und Karlsruhe (https://kommunalinfo-mannheim.de/2022/02/15/vogelgrippe-in-mannheim-heidelberg-und-karlsruhe/). Statt sich wie in den Jahren zuvor im Frühsommer zurückzuziehen, breitete sich die Vogelgrippe im vergangenen Sommer weltweit aus, knackte alle Rekorde und steigerte ihr Gefährdungspotenzial in verschiedener Hinsicht. Schwerpunkte lagen in Deutschland zunächst in Küstenregionen sowie in Gegenden mit vielen Massentierhaltungen. An Mannheim und am Rhein-Neckar-Raum ging das katastrophale Geschehen jedoch leider nicht vorbei. Und Sorgen, die durch die auch als Geflügelpest bezeichnete Vogelgrippe ausgelöst werden, haben in Mannheim und der Region bereits eine lange Geschichte.

Die Vogelgrippe und Mannheim

Erstmalig geriet Mannheim 2006 im Zusammenhang mit der Vogelgrippe bundesweit in die Schlagzeilen. Im Februar war im Industriehafen eine tote Wildente entdeckt worden, bei der sich herausstellte, dass sie mit dem Subtyp H5N1 der Geflügelpest infiziert war.

Damit hatte die Vogelgrippe zum ersten Mal eine deutsche Großstadt erreicht!

H5N1 ist der gleiche Subtyp, der auch den aktuellen Seuchenzug bestimmt. Vor 2006 waren in Baden-Württemberg H5N1-Infektionen nur im Bodenseegebiet festgestellt worden. Für Mannheim und die Region wurden umgehend verschärfte Schutzmaßnahmen in Kraft gesetzt. In einem Umkreis von zehn Kilometern um die Fundorte mussten Hunde an die Leine genommen werden, Katzen durften nicht mehr ins Freie und Geflügelställe durften nur noch von Betriebsangehörigen und Tierärzten betreten werden.  Bundesweit waren zu diesem Zeitpunkt 140 Vogelgrippefälle bestätigt worden. In einem Einzelfall handelte es sich um ein Säugetier, ein Kater auf der Insel Rügen starb an der Vogelgrippe. Das Überspringen auf weitere Säugetiere und auch eine Infektion des sogenannten Nutzgeflügels konnte durch die raschen und energischen Schutzmaßnahmen verhindert werden.

Mehr als zehn Jahre später kam die Vogelgrippe im Oktober 2016 wieder nach Mannheim. Zwei Fasane im Luisenpark starben an dem als gering pathogen (krankmachend) geltenden Subtyp H7N3. 26 Enten, 6 Fasane und 2 Pfaue, die wahrscheinlich mit den gestorbenen Fasanen in Kontakt gewesen waren, wurden sofort getötet. Alle anderen Vögel durften ihre Ställe nicht mehr verlassen. Die Vogelhaltungen des Luisenparks wurden für sechs Wochen für Besucher gesperrt.

Im Februar 2022 schließlich kam es zu den Infektionsfällen in Mannheim, Karlsruhe und Heidelberg, über die das Kommunalinfo berichtet hatte. Der Heidelberger und der Karlsruher Zoo mussten vorübergehend geschlossen werden. Seit November 2021 waren bereits einzelne Fälle festgestellt worden, die jedoch lokal begrenzt waren auf den Schwarzwald-Baar-Kreis, Karlsruhe und die Rhein-Neckar-Region. Bundesweit jedoch traten außerdem Infektionen auf in Rheinland-Pfalz, Bayern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Hamburg. In Mannheim musste im November 22 wegen der Vogelgrippe-Situation eine Landesgeflügelausstellung abgesagt werden, an der sich Geflügelzüchter aus mehreren Bundesländern hatten beteiligen wollen.

Anfang März werden in Heidelberg mit Vogelgrippe infizierte und im Mannheimer Handelshafen an Vogelgrippe gestorbene Möwen gefunden. Auch im Tierpark Walldorf bricht die Vogelgrippe aus, eine Nandu stirbt daran. Die Stadt Mannheim verfügt diverse verstärkte Sicherheitsvorkehrungen; Geflügel in den rhein- und neckarnahen Stadtteilen muss im Stall bleiben.

In Mannheim steht die Bundesgartenschau BUGA23 in den Startlöchern, die am 14. April eröffnet und am 8. Oktober abgeschlossen werden soll. Könnte die Vogelgrippe ihr einen Strich durch die Rechnung machen?

26 Jahre Massentötungen

Bereits im vergangenen Jahr wurde der aktuelle Seuchenzug der Vogelgrippe als die größte Infektionswelle bezeichnet, die jemals auf dem Planeten stattgefunden hat. Die Zahl der gestorbenen und getöteten Tiere bricht immer neue Rekorde. Für die aktuelle Welle  spricht die Weltorganisation für Tiergesundheit (OIE) Ende Februar von 200 Millionen gestorbenen und getöteten Vögeln. Davon jeweils etwa 50 Millionen in Europa und 50 Millionen in den USA. Noch weiß niemand, was die Zugvögel bis April mitbringen werden, viele Ornithologen befürchten dann aber  neue Wellen des Massensterbens.

Wissenschaftlich dokumentiert wurde ein Ausbruch der Vogelgrippe des Typs H5N1 das erste Mal 1959 in Schottland. Der entscheidende Einschnitt ereignete sich wahrscheinlich im Jahre 1997 in Hongkong. Vermutlich durch Enten und Gänse übertragen, übersprang das Virus die Artengrenze und trat zum ersten Mal unter Hühnervögeln auf. Die Behörden ließen umgehend den gesamten Zuchtflügelbestand der Sonderverwaltungszone mit über sieben Millionen Einwohnern auf 1.106 Quadratkilometern töten. Alle für Hühner gefährlichen Virusvarianten wurden dadurch offenbar ausgerottet. Sechs Jahre danach kam es jedoch zu weiteren Ausbrüchen in mehreren Regionen Südostasiens. Seitdem häufen sich die Ausbrüche und gelten mittlerweile als die schlimmste Erkrankungswelle, die jemals unter Tieren bekannt geworden ist. Ein ähnlich drakonisches Vorgehen wie in Hongkong war Anfang der 2000er Jahre aber nicht durchsetzbar aufgrund der wirtschaftlichen und politischen Bedeutung, die die Geflügelindustrie inzwischen erlangt hatte. In Thailand, Indonesien und Vietnam wurde die Geflügelproduktion zwischen 1975 und 2005 verachtfacht, in China wurde sie allein in den 1990er Jahren verdreifacht. Diese Tendenzen betrafen nicht nur die Geflügelproduktion und nicht nur Ostasien. Nach Zahlen der FAO wurde von 1983 bis 2020 die Fleischproduktion in der (von der FAO so genannten) entwickelten Welt um 33% gesteigert – von 88 auf 117 Millionen Tonnen. In der sogenannten Dritten Welt stieg die Fleischproduktion von 50 auf 217 Millionen Tonnen um mehr als das Vierfache. China verzeichnete einen Anstieg auf fast das Siebenfache von 16 auf 107 Millionen Tonnen. In allen drei genannten Wirtschaftsbereichen wurde und wird zu mehr als zwei Dritteln das Fleisch von Hühnern und Schweinen ‘produziert’. Ein Ergebnis der sogenannten Revolution der Massentierhaltung in den letzten 40 Jahren ist, dass ca. 70 Prozent der Vögel dieser Welt Nutztiere sind, von denen wiederum 90 Prozent in Massenhaltungen ‚leben‘. Nur noch etwa 30 Prozent der Vögel leben frei. Diese noch in vollem Gang befindliche Revolution der Massentierhaltung war und ist verbunden mit einem rasanten Konzentrationsprozess. Immer mehr Tiere werden in immer größeren ‘Ställen’ gehalten. Für Länder des globalen Südens bedeutet dies unter anderem, dass Hinterhofhaltungen, durch die ein großer Teil des Proteinbedarfs der armen Landbevölkerung gedeckt wurde, liquidiert werden. Auch die aufgrund der Vogelgrippe beschlossenen Maßnahmen der Biosicherheit bedrohen und verdrängen durch ihre Kosten vor allem Hinterhofhaltungen und Kleinbetriebe. In zahlreichen Entwicklungs- und Schwellenländern wurden sie zudem direkt verboten oder eingeschränkt. So gelingt dem Fleischkapital das Bubenstück, die von ihm zu verantwortende Seuche in den Dienst der ursprünglichen Akkumulation zu nehmen.

Im globalen Norden werden kleine und mittlere Betriebe zunehmend durch große Fleischbarone verdrängt. In Deutschland beispielsweise stieg die Zahl der Masthühner von 68 Millionen im Jahr 2010 auf 111 Millionen in 2020. (Etwa elfmal so viele werden pro Jahr geschlachtet, da das Schlachtalter 34 Tage beträgt.) Im gleichen Zeitraum stieg der Anteil der Betriebe, die mehr als 50.000 Tiere halten, von 8,5% auf 18,3%. In letzteren werden 81% der Masthühner gehalten. Entsprechend sank der Anteil der Betriebe, die weniger als 1.000 Hühner haben, von 76% auf 59%. Diese 59% der deutschen Mastbetriebe haben noch 0,1% der Masthühner.

Die Mauern fallen

Tausende Ausbrüche in den letzten Jahren wurden und werden in den Massenmedien immer noch kommentiert mit dem Textbaustein: “Laut Aussage von Experten besteht für Menschen keine Gefahr.” In Wirklichkeit gab es in den letzten 20 Jahren bei sehr großer Dunkelziffer knapp 3.000 Vogelgrippe-Erkrankungen bei Menschen, von denen mehr als die Hälfte starben. Etwa 900 davon gingen auf das Konto von H5N1, auch hier lag die Letalität über 50 Prozent.

Was ist nun für die Zukunft zu erwarten?

Influenza-A-Viren sind unter ‘wild’ (Dysphemismus für ‘frei’)  lebenden Enten und anderen Wasservögeln weit verbreitet. Diese gelten deshalb als das “natürliche Reservoir” für das Virus. Will heißen: Sie tragen das Virus, erkranken aber selbst nicht oder zumindest nicht schwer daran. Nur gelegentlich kommt es zu kleineren Ausbrüchen. Die Grippeviren werden nach zwei Eiweißkörpern auf ihrer kugelförmigen Oberfläche bezeichnet, dem Hämagglutinin und der Neuraminidase. Von ersterem gibt es bei Vögeln 16 Subtypen, vom zweiten 11.  Die gegenwärtige Panzootie (Pandemie bei Tieren) wird vom H5N1-Virus dominiert, er trägt also den fünften Subtyp des Hämagglutinin und den ersten Subtyp der Neuraminidase. Innerhalb eines Subtyps entstehen immer neue Varianten. Bis ein Virus mit pandemischem Potential tatsächlich eine Epidemie oder gar Pandemie auslösen kann, muss einiges passieren – das Virus muss  auf diesem Weg mehrere Mauern durchbrechen. Dabei hat es jedoch mächtige Verbündete: Massentierhaltung, Globalisierung, Entwaldung und Erderwärmung sorgen gemeinsam dafür, dass pandemische Risiken exponentiell zunehmen. In Bezug auf die Vogelgrippe sickert langsam in das öffentliche Bewusstsein, dass das Geflügelpest-Virus H5N1 es in dem seit 2021 andauernden Seuchenzug beunruhigend schnell geschafft hat, ein halbes Dutzend Mauern zu durchbrechen. Diese sind:

1.Die Opferzahl Die immense Zahl der Opfer ist nicht nur eine Katastrophe für die erkrankten, gestorbenen und getöteten Tiere, sie bedeutet auch eine entscheidende Steigerung des Risikos kommender Ausbrüche. Wie bereits bei SARS-Cov-2 kommt es auch bei H5N1 erst dann zur Erkrankung, wenn viele Viren aufgenommen werden. Die sogenannte Viruslast beeinflusst nicht nur das individuelle Erkrankungsrisiko, sie bestimmt auch mit, wie schnell und in welchem Umfang sich eine Epidemie ausbreiten und ob sie zur Pandemie werden kann. Große Geflügelfarmen produzieren bei Infektionen gewaltige Virenlasten. Je mehr kranke Tiere, desto mehr Neuinfektionen. Der Epidemiologe Rob Wallace formulierte diese grundlegende Tatsache schon 2016 im Titel seines Buches “Big Farms Make Big Flu”. Außerdem: Je mehr sogenannte Intensivtierhaltungen, desto mehr Mutationen und deshalb desto mehr Überschreitungen der Artengrenzen. Massentierhaltung bedeutet, dass die Vogelgrippe unvermeidlich auf immer mehr Vogelarten überspringen wird, ebenso auf immer mehr Säugetierarten und – auf immer mehr Menschen.  Einer der wenigen, die hier ganz offen sprechen, ist Professor Stephan Ludwig von der Nationalen Forschungsplattform für Zoonosen: “Massentierhaltungen in Großgeflügelfarmen sind ein Problem. Wenn dort ein Virus hineinkommt, infizieren sich in Nullkommanix alle Tiere und die Virus-Last im Betrieb wird sehr hoch. Dies kann dazu führen, dass sich Menschen infizieren.”

2.Geographische Ausbreitung Seit 2006 breitete sich H5N1 außer in Australien und der Antarktis auf alle Kontinente aus. Deutschland und Europa waren besonders betroffen, die Saison 2020/21 brachte laut Friedrich-Loeffler-Institut die bis dahin schwersten Ausbrüche sowohl unter frei lebenden Vögeln als auch unter Zuchtgeflügel. Schon die nächste Saison 2021/22 stellte den Rekord des Massensterbens ein. Bei etwa 2.500 Ausbrüchen in Geflügelhaltungen wurden ca. 48 Millionen Vögel getötet. Die laufende Saison 2022/23 betrifft in Europa 37 Länder von Finnland über die Färöer bis Irland, von Russland bis Portugal. Sie brachte außerdem eine Ausbreitung der Seuche auf Südamerika. Argentinien musste Anfang März den Export von Geflügelfleisch und Eiern einstellen. In dem Land werden jährlich 740 Millionen Hühner geschlachtet und Geflügelfleisch im Wert von 383 Millionen US-Dollar exportiert.  Wenige Tage später musste Chile mit einer Aussetzung der Exporte von Geflügelprodukten nachziehen. In Europa und Nordamerika wurden jeweils etwa 50 Millionen Tiere getötet, in Kanada etwa 32 Millionen. In Spanien haben Supermärkte damit begonnen, den Verkauf von Eiern zu kontingentieren.  In den USA sind die Eierpreise so stark gestiegen, dass Schmuggler an der Grenze zu Mexiko von Rauschgift auf Eier umgestiegen sind.

3.Ganzjährigkeit In Europa war bis 2020 ‘Vogelgrippe-Saison’ üblicherweise von Oktober bis April. 2021 werden erstmals sowohl bei Wildvögeln als auch bei Geflügel Fälle auch im Sommer festgestellt, 2022 waren es keine Einzelfälle mehr, die Vogelgrippe ist plötzlich ganzjährig vorhanden. Timm Harder, Leiter des Nationalen Referenzlabors für Aviäre Influenza am Friedrich-Loeffler-Institut (FLI) spricht im Oktober von einer ganz neuen Qualität. Ein Infektionsgeschehen wie im aktuellen Sommer beobachte man zum ersten Mal. Zudem sei auch ganz Nordamerika betroffen. Man könne von einer echten Pandemie bei Wildvögeln sprechen.

4.Übersprung auf weitere Vogelarten Das Adverb “erstmals” ist vermutlich das am häufigsten vorkommende Wort in der Berichterstattung über die Vogelgrippe. In Nordchina ist der Qinghai-See ein Rastplatz für Zugvögel, umgeben jedoch von zahlreichen Geflügelfarmen. 2005 wurde dort bei Streifengänsen erstmals ein Massensterben unter sogenannten Wildvögeln beobachtet, verursacht durch H5N1. Es kam zu weiteren Ausbrüchen unter frei lebenden Vögeln in Südost- und Ostasien, verursacht durch die neue, hoch virulenten H5N1-Variante unter Zuchtgeflügel. Ebenfalls 2005 stellten US-amerikanische sowie asiatische Forschende fest, dass H5N1 sogenannte Hausenten weniger stark erkranken lässt als noch vor Jahren. Dies bedeutet, dass sie über lange Zeit unbemerkt Viren über Kot und Atemluft ausscheiden, was die Wahrscheinlichkeit, andere Tiere und auch Menschen zu infizieren, beträchtlich erhöht. Tatsächlich wurden ab 2006 H5N1-Infektionen bei Menschen beobachtet, die Kontakt hatten mit Geflügel, das anscheinend gesund war und aus Gebieten stammte, in denen weder Wild- noch Zuchttiere an H5N1 verstorben waren. Der Seuchenzug 2022/23 bringt Rekorde des Massensterbens unter sogenannten Wildvögeln mit sich. 8.000 Kraniche in Israel, tausende tote Pelikane in Lateinamerika und Griechenland, hunderttausende tote Seevögel an den Küsten Lateinamerikas, in Deutschland Basstölpel, Brandseeschwalben, zum Teil sehr bedrohte Arten. Nochmals Ursula Höfle: “Das Virus hat einen gewaltigen Impact auf die Biodiversität.”

5.Übersprung auf Säugetiere Als besonders gefährlich gilt, wenn Schweine mit Vogelgrippe infiziert sind. Von keiner anderen Tierart ist der Weg zum Menschen und damit zur Pandemie kürzer: Das RKI erklärt uns den Grund: “Schweine gelten als klassische Mischgefäße, weil sie sich mit Vogel-, Menschen- und Schweine-Influenzaviren anstecken können. Ihre Zellen im Atmungstrakt können daher mit unterschiedlichen Viren gleichzeitig infiziert sein – und neue Viren (Reassortanten) hervorbringen.” Schon 2005 aber wurden H5N1-Infektionen bei Schweinen aus Indonesien und aus China berichtet. 2006 wurde berichtet, dass sich Hunde, Pferde, Pumas, Tiger, Leoparden, Mäuse, Frettchen und Hauskatzen mit H5N1 infiziert hatten. Im vergangenen Jahr kam es zur bisher mit Abstand größten Steigerung der Artensprünge. Allein in den USA wurden 17 Nicht-Vogelarten mit H5N1 infiziert. Erstmals infizierten sich u.a. Robben, Delphine, Füchse und Berglöwen. Im letzten Juni wurde H5N1 erstmals bei einem in Schweden gestrandeten und verendeten Schweinswal festgestellt. Besonderes Aufsehen erregte es, als im Dezember 700 tote Robben im Kaspischen Meer gefunden wurden. Bisher wurde davon ausgegangen, dass erkrankte Säugetiere infizierte Vögel gefressen oder anderweitig mit ihnen interagiert hatten. Wenn aber 700 tote Robben auf einmal gefunden werden, ist dies unwahrscheinlich, dann ist das Virus eher innerhalb der Säugetiergruppe übergesprungen.

6.Übersprünge innerhalb von Säugetierpopulationen Ein völlig neues Gefahrenlevel entstand mit einem H5N1-Ausbruch im vergangenen Oktober auf einer Nerzfarm im spanischen Galizien. In wenigen Tagen starben die meisten der 50.000 Tiere qualvoll. Das Ereignis gilt als der erste nachgewiesene Fall einer Übertragung innerhalb einer industriellen Haltung von Säugetieren. Es wurde eine Variation des H5N1-Subtyps nachgewiesen, welche die Vermehrung des Virus in Säugetieren begünstigt. Ursula Höfle vom Nationalen Forschungsinstitut für Wildtiere in Kastilien-La Mancha: “Diese Mutation bedeutet nicht, dass eine Übertragung auf jedes Säugetier möglich ist. Aber es zeigt, dass das Virus solche Mutationen erwerben kann.” An der Küste Perus wurden zwischen November und Februar 3.500 tote Seelöwen gefunden. Die hohe Opferzahl macht es sehr unwahrscheinlich, dass die Tiere sich nur durch Vögel infiziert haben. Dies wäre der erste Fall einer Übertragung innerhalb einer frei lebenden Säugetierpopulation.

Pandemiegefahr?

Die meisten Medien klammern sich noch an das Mantra, für Menschen bestünde laut Experten keine Gefahr. Die Experten aber warnen immer eindringlicher. Der angesehene israelische Epidemiologe Professor Amnon Lahad von der Hebräischen Universität Jerusalem bezeichnet die Gefahr, dass das Virus auf Menschen überspringe, derzeit als “real und sehr besorgniserregend”. Daniel Olson, Epidemiologe an der Universität von Colorado: “Die Vogelgrippe steht ganz oben auf der Liste der Viren mit Pandemiepotenzial. Coronaviren sind auch dort oben, aber die Vogelgrippe ist genauso hoch – vielleicht sogar höher.” Die bereits zitierte Ursula Höfle: “Das H5N1-Influenzavirus ist schon lange ein guter Kandidat (für eine Pandemie M.K.), weil es offensichtlich sehr flexibel ist. Mit der aktuell sehr hohen Zahl infizierter Tiere gibt es ständig neue Infektionen und Möglichkeiten. Die ständig neuen Infektionen bei neuen Arten zeigen deutlich, dass das Virus zur Zeit sehr schnell wechselt.” Christian Drosten sieht noch keinen Grund zur Panik, plädiert aber dafür, die Entwicklung von Impfstoffen für einen möglichen Pandemiefall vorzubereiten.

Unaufhaltsam greift auch die Erkenntnis um sich, dass die Covid-19-Pandemie nicht ganz zufällig passierte und deshalb voraussichtlich nicht das letzte Ereignis dieser Art war. Sogar Ursula von der Leyen äußerte auf dem Klimagipfel “One-Planet-Summit 2021”, der der Biodiversität gewidmet war,  düster und hellsichtig zugleich: “Vielleicht befinden wir uns bereits am Anfang eines Zeitalters der Pandemien.”

Was aber sind die Hauptgründe für das Entstehen einer Pandemie?

Wenn ein Virus die Weltherrschaft übernehmen möchte, so macht es sich zunächst auf die Suche nach geeigneten Wirten. Sie sollten in großer Zahl und eng zusammenleben, nur über geringe Abwehrkräfte verfügen und sich genetisch möglichst ähnlich sein. 1918 machte sich das Vogelgrippevirus H1N1 auf den Weg und mutierte in einer Schweinehaltung in Kansas so, dass es ihm gelang, auf Menschen überzuspringen. Drei von vier seiner optimalen Bedingungen  – die geringen Abwehrkräfte, eine große Zahl von Wirten sowie räumliche Enge – fand es in den Schützengräben des ersten Weltkrieges und  anschließend in den von Krieg, Hunger und Armut geschwächten Völkern. 50 bis 100 Millionen Menschen starben, die meisten von ihnen in Indien und China. In den 1990er Jahren fand das Virus in den rasch anwachsenden Massentierhaltungen auch das vierte Optimum: Die hohe genetische Ähnlichkeit begünstigte, dass sich das Virus von einem infizierten Tier auf alle anderen ausbreiten konnte.

2005 gelang es, das H1N1-Virus von 1918 zu rekonstruieren, wobei sich herausstellte, dass das Vogelgrippe-Virus nach wenigen – etwa 10 – Mutationen die Fähigkeit erlangt hatte, Menschen zu infizieren. Damit war klar, dass das Pandemierisiko deutlich höher ist als bis dahin angenommen. Der damalige RKI-Präsident Reinhard Kurth erklärte: “Die Gefahr einer Pandemie ist real und das Risiko derzeit so hoch wie seit Jahrzehnten nicht mehr.” Im folgenden Jahr fanden japanische und US-amerikanische Forscher heraus, dass aggressive Vogelgrippeviren sich bei Menschen anders als herkömmliche Grippeviren vor allem in den unteren Atemwegen festsetzen. Dies erschwert eine Verbreitung durch Husten und Niesen. Sobald sie aber die Fähigkeit entwickelt haben, die oberen Atemwege zu besiedeln, steigt wiederum die Wahrscheinlichkeit einer Pandemie.

Zeitgleich mit der Ausbreitung der Vogelgrippe fand eine noch andauernde gewaltige Vernichtung der Wälder statt, allein 2021 wurden 111.000 km2 Wald vernichtet, mehr als das 40-fache der Fläche des Saarlandes. Es gibt viele verschiedene Möglichkeiten, um im Zusammenhang mit der Abholzung von Wäldern viel Geld zu machen, die umfangreichste aber und damit die Hauptursache des Waldsterbens ist: die Massentierhaltung. Entweder, um auf dem gerodeten Gelände riesige Herden zu halten oder aber – noch profitabler – um dort Tierfutter anzubauen. Ein Problem ist nun, dass nicht alle Tiere in den zerstörten Wäldern sofort und freiwillig sterben. Einige flüchten und geraten in die Nähe der Menschen oder ihrer sogenannten Nutztiere. Und sie bringen die Viren mit, mit denen sie schon sehr lange einigermaßen friedvoll koexistieren, die aber für die Menschen und ihre Nutztiere extrem gefährlich sein können.

Schutzmaßnahmen

Das Gefährdungspotential kommender Pandemien kann in kürzester Zeit enorme Ausmaße annehmen. Die WHO spricht bei der Vogelgrippe von bis zu 100 Millionen möglichen Todesopfern, andere Schätzungen nennen eine Milliarde. Um kommende Pandemien aufzuhalten, sind viele verschiedene Maßnahmen erforderlich und werden auch seit etwa 20 Jahren mit beträchtlichem Aufwand nach und nach etabliert. Sie drehen sich aber fast ausschließlich um Früherkennung und Impfung. Eine präventive Gesundheitspolitik im Interesse der Menschen und im Sinne des One-Health-Ansatzes müsste sich aber darauf konzentrieren, die Entstehung und den Spillover pandemiepotenter Mikroben zu verhindern. Dies ist auch die einzig realistische Perspektive. Solange weiterhin gefährliche Mikroben in der intensiven Tierhaltung produziert werden und der Kontakt mit existierenden gefährlichen Mikroben in großem Umfang stattfindet, werden in einer globalisierten Welt unweigerlich neue Pandemien hervorgebracht. Die Technologie der Massentierhaltung ist ähnlich wie die Technologie der nuklearen Energiegewinnung nicht beherrschbar. Ähnlich wie die Kernkraftwerke belasten die Tierfabriken die Menschheit jetzt und in Zukunft mit gewaltigen Schäden und absolut unkalkulierbaren Risiken.

Deshalb wären nun zwei Dinge mit höchster Dringlichkeit vonnöten: Erstens müsste die Massentierhaltung konsequent beendet werden, um die Brutöfen pandemiepotenter Viren (und antibiotikaresistenter Bakterien) außer Betrieb zu nehmen. Zweitens müsste die Massentierhaltung beendet werden, um den massenhaften Kontakt von Menschen und ihren sogenannten Nutztieren mit den Mikroben sogenannter Wildtiere zu reduzieren. Alle, denen Menschenleben wichtiger als Profite sind, sollten diese Ziele ganz oben auf ihre Tagesordnung setzen.

Michael Kohler