Türkische Wahlen haben in Deutschland unter fragwürdigen Bedingungen begonnen. Keine Wahllokale in Mannheim.
Entscheidung über Demokratie oder Fortsetzung von Diktatur und Faschismus
(Anmerkung der Redaktion: Außer dem Artikel “Doch keine Wahlen in Mannheim – Wahlen in Deutschland unter fragwürdigen Bedingungen” sind die Artikel zu den Wahlen in der Türkei in den “Politischen Berichten – Zeitschrift für linke Politik Nr.2/2023” erstveröffentlicht)
Am 14. Mai finden in der Türkei die vorgezogenen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen statt. Präsident Erdoğan und seine Regierungskoalition haben seit Monaten in den Wahlumfragen keine Mehrheit mehr. Daran hat sich auch nichts nach einer weiteren Verschärfung der Repression gegen die Opposition geändert.
Anfang des Jahres wurden der HDP die öffentlichen Mittel entzogen und der Verbotsprozess vor dem Verfassungsgericht geht in die entscheidende Phase. Am 11. April will das höchste Gericht darüber entscheiden. Die HDP hat mit anderen linken Parteien das „Bündnis für Arbeit und Freiheit“ gebildet. Dieses besteht aus der Demokratische Partei der Völker (HDP), der Partei der Grünen Linken (YSP), der Arbeiterpartei der Türkei (TIP), der Partei der Arbeit (EMEP), der Partei der sozialen Freiheit (TÖP), der Partei der Arbeitsbewegung (EHP) und dem Bund der Sozialistischen Räte (SMF). Aufgrund des drohenden Verbots gegen die HDP fiel die Entscheidung, dass die Kandidat:innen des Bündnisses auf der Liste der Grünen Linken antreten. Nur die TIP will unter eigenem Logo antreten.
Für die Präsidentschaftswahlen hat das Bündnis keinen eigenen Kandidaten aufgestellt. Ein eigener Kandidat würde die Stimmen gegen Erdogan zersplittern. Unterstützt wird der Kandidat der größten Oppositionspartei CHP, Kemal Kılıçdaroğlu. Zuvor hatte Kılıçdaroğlu zugesichert, dass er das Präsidialsystem abschaffen werde.
Die HDP hat sich diese Entscheidung nicht leicht gemacht. In vielen Versammlungen haben ihre Mitglieder und ihre Wähler:innen über das Vorgehen diskutiert.
Die kurdische Politikerin Bedia Özgökçe Ertan sprach darüber in Karlsruhe beim Landesausschusses der Partei DIE LINKE Baden-Württemberg. Die frühere Oberbürgermeisterin von Wan (türk. Van) fasste die Motivation und Hoffnung so zusammen: „Die HDP unternimmt alles für den Sturz des Diktators Erdoğan und seiner AKP/MHP-Regierung, um die Türkei zurück auf einen Weg der Demokratie und des Friedens zu führen.“ Das friedliche Zusammenleben aller Ethnien und Religionen in der Türkei, in Rojava, Südkurdistan oder auch im Iran – das sei das Anliegen der HDP.
Rudolf Bürgel
Doch keine Wahlen in Mannheim – Wahlen in Deutschland unter fragwürdigen Bedingungen
Auch die im Ausland wohnenden türkischen Staatsbürger können vom 27. April bis 9. Mai ihre Wahlstimme abgeben. Erdogan hat hierfür 2015 das Gesetz entsprechend erlassen. Die Wahlbüros befinden sich in Botschafts- oder Konsulatsgebäuden. Bisher konnte sich Erdogan gewiss sein, von den Stimmen der im Ausland lebenden Türken überproportional zu profitieren.
Die Lage in Deutschland ist jedoch unübersichtlich. Denn viele Wahllokale durften am Donnerstag (27. April) nicht öffnen, da sie keine Genehmigung von der Bundesregierung erhalten haben, wie erst vor zwei Tagen bekannt wurde. Dabei handelt es sich um zusätzliche Räumlichkeiten, die eigens vom türkischen Staat angemietet worden sein sollen. In den türkischen Generalkonsulaten darf jedoch weiterhin zwischen dem 27. April und 9. Mai gewählt werden. Nun gibt es statt der ursprünglich 16 bekannt gewordenen Wahllokale nur noch 16. Eines der Wahllokale, in dem nicht gewählt werden darf, sind die zwei Wahllokale in Mannheim, nämlich das Kulturhaus Käfertal und eine Sporthalle des TSV 1846 Mannheim am Fernsehturm.
Für die türkischen Wähler in Mannheim bedeutet das jetzt, dass sie ihre Stimmen im türkischen Generalkonsulat in Karlsruhe abgeben müssen. Auch in Kiel, Siegen, Fulda, Limburg, Mannheim, Saarbrücken, Bielefeld oder Ulm wird es kein Wahllokal vor Ort geben. Die AKP-Lobbyorganisation UID (Union Internationaler Demokraten) sowie der Moscheeverband Ditib werden – wie in der Vergangenheit – ihre Gemeindemitglieder aber mit Bussen zu den Wahllokalen transportieren.
Die deutsch-türkische Journalistin Süheyla Kaplan sieht es skeptisch: „Die finanziellen Ressourcen der Opposition, also CHP und HDP sind in Deutschland gering. Sie werden nicht die Möglichkeiten haben, ihre Wählerschaft mit Bussen zu den Wahllokalen zu fahren. Hinzukommt, dass der AKP-Lobbyverein UID und auch die Moscheeverbände Ditib und IGMG (Milli Görüs) Erdogan und seine AKP unterstützen. Genau wie in der Türkei finden die Wahlen auch hier in Deutschland nicht unter fairen Bedingungen statt.“ (Frankfurter Rundschau, 27.04.2023)
(ros)
HDP: Aufruf zu Demokratie, Gerechtigkeit und Frieden
EINE STARKE DEMOKRATIE: Wir glauben, dass die Türkei vor allem eine starke Demokratie braucht, die auf den Grundsätzen der Partizipation, der Verhandlung und des demokratischen Konsenses beruht und in der die universellen Grundrechte und -freiheiten so weit wie möglich gewährleistet sind. In diesem Rahmen stellen wir uns ein demokratisches parlamentarisches System vor, das ein pluralistisches Parlament mit weitreichenden Befugnissen gewährleistet, die Gewaltenteilung sicherstellt und ein wirksames System der gegenseitigen Kontrolle einführt.
Eine starke Demokratie erfordert auch ein Verständnis von Subsidiarität und lokaler Verwaltung. Deshalb sollte das Prinzip der Gewaltenteilung auf die Kommunalverwaltungen ausgeweitet werden; den Kommunalverwaltungen sollten Befugnisse und Ressourcen übertragen werden, und die lokalen Beteiligungsmechanismen sollten in einer starken lokalen Demokratie voll funktionieren. Ohne diese Mechanismen wäre es unmöglich, eine starke Demokratie aufzubauen.
EINE UNPARTEIISCHE UND UNABHÄNGIGE JUDIKATIVE: Die Justiz steht unter der Vormundschaft der Exekutive. Die herrschende Mentalität hat die Gerechtigkeit in jeder Hinsicht zerstört, indem sie die Politik und die Gesellschaft durch die Hand der Justiz umgestaltet und die rechtsprechende Gewalt in ein Instrument zur Liquidierung der Opposition verwandelt hat. Deshalb sollten alle politisch motivierten Prozesse, Verurteilungen und deren Folgen aufgehoben werden, um Gerechtigkeit und sozialen Frieden wiederherzustellen. Um Ungerechtigkeiten zu beseitigen und das Unrecht zu korrigieren, ist es auch dringend erforderlich, den Entscheidungen und Empfehlungen internationaler Institutionen, vor allem der Parlamentarischen Versammlung des Europarats (PACE), des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) und des Komitees zur Verhütung von Folter (CPT), in Bezug auf Rechtsverletzungen, rechtswidrige Haftbedingungen, Isolationshaft und dergleichen nachzukommen.
DEN WILLEN DES VOLKES ANSTELLE DES REGIMES DER TREUHÄNDER: Es müssen dringend gesetzliche Änderungen vorgenommen werden, um dem Regime der Zwangsverwaltung, das viele Institutionen – von lokalen Behörden über Universitäten bis hin zu Organisationen der Zivilgesellschaft – durchdrungen hat, das das Recht zu wählen und gewählt zu werden verletzt, den Willen des Volkes usurpiert und die Wahlgerechtigkeit missachtet, ein Ende zu setzen. Es müssen auch Schritte unternommen werden, um den durch dieses Regime verursachten Schaden wiedergutzumachen, und die Grundrechte der Opfer der Zwangsverwaltung müssen wiederhergestellt werden.
DEMOKRATISCHE LÖSUNG DER KURDISCHEN FRAGE: Das am tiefsten verwurzelte Problem, das die Türkei lösen muss, ist die kurdische Frage. Die HDP setzt sich für eine demokratische Lösung und Frieden ein und ist bereit, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um eine konstruktive Rolle zu übernehmen, die die Probleme und Anliegen aller Teile der Gesellschaft in der Türkei berücksichtigt. Die Aufnahme eines Dialogs mit den Gesprächspartnern zur Lösung dieses Problems ist unmittelbar mit der Demokratisierung der Republik verbunden und verflochten. Anstelle einer Politik der Verleugnung und Repression müssen Schritte für eine demokratische und friedliche Lösung unternommen werden. Das Parlament sollte die Grundlagen für einen Dialog und eine Lösung schaffen und durch die Anwendung demokratischer Verhandlungsmethoden die Bemühungen um eine Zukunft für die gesamte Gesellschaft erleichtern und in den Mittelpunkt stellen. In dieser Perspektive sollten alle universellen identitätsbezogenen Rechte (vor allem das Recht auf die Muttersprache) durch die Einführung der notwendigen gesetzlichen Regelungen garantiert werden.
Anstelle einer Politik des Krieges, der Waffen und des Konflikts bieten sich aus historischer Sicht Optionen des Dialogs und der Verhandlung an, die als solche von entscheidender Bedeutung sind. Dafür sollten alle, unter Berücksichtigung der Interessen der Völker der Türkei und ihrer Zukunft, die notwendigen Opfer bringen und Maßnahmen ergreifen. Es ist unser Grundsatz, unsere Differenzen durch Gespräche, Verhandlungen und Dialog und nicht durch Gewalt zu lösen.
EINE FRIEDLICHE AUSSENPOLITIK: Friedensfördernde Strategien im eigenen Land, in der Region und in der Welt, die auf langfristiger Zusammenarbeit beruhen, sollten die Grundlage des außenpolitischen Verständnisses der neuen Zeit sein. Es ist für uns alle von Vorteil, wenn wir uns von einer abenteuerlichen, auf Krieg und Konflikt und militärische Machtdemonstration ausgerichteten Politik gegenüber anderen Ländern, vor allem gegenüber unseren Nachbarn, abwenden. Stattdessen müssen wir eine starke und prinzipienfeste Diplomatie, einen Dialog und eine friedliche Politik verfolgen, die auf verbesserten Beziehungen in allen Bereichen beruht.
FREIHEIT UND GLEICHHEIT FÜR FRAUEN: Die Rechte in Bezug auf die Gleichstellung der Geschlechter und die Freiheit der Frauen sollten auf jede erdenkliche Weise gewährleistet werden. Um eine gleichberechtigte Vertretung zu erreichen, sollte das Prinzip der genderparitätischen Doppelspitze vielerorts verankert werden. Gleichzeitig ist es notwendig, gegen systemische patriarchale Gewalt gegen Frauen und Femizide vorzugehen. Die Wiederinkraftsetzung der Istanbul-Konvention und ihre vollständige Umsetzung sowie die Beseitigung politischer, bürokratischer, wirtschaftlicher und kultureller Hindernisse auf dem Weg zur Gleichstellung der Geschlechter gehören zu den dringend notwendigen ersten Schritten.
GERECHTIGKEIT IN DER WIRTSCHAFT: Es ist zwingend notwendig, Maßnahmen zu ergreifen, die die durch die Wirtschaftskrise verursachte Unsicherheit und Mutlosigkeit beseitigen. Mit dem Ziel, die Beschäftigung zu erhöhen und eine gerechte Verteilung des Wohlstands zu gewährleisten, ist ein ‚Programm zur gerechten Verteilung‘, das Arbeitslosigkeit und Armut beseitigen wird, die größte soziale Notwendigkeit. Die Haushaltsmittel sollten für das wirtschaftliche Wohlergehen des Volkes und nicht für Paläste, Kriege und Kumpaneien eingesetzt werden. Grundbedürfnisse wie Strom, Erdgas, Wasser und Internet sollten im Rahmen eines ‚Programms für soziale Rechte‘ kostenlos zur Verfügung gestellt werden. Die Lösung der Probleme der Opfer des verspäteten Renteneintrittsalters, der Opfer von Studienkrediten und der nicht eingestellten Bildungskräfte ist ein dringender Bedarf der Gesellschaft. Die Verbesserung der Lebensbedingungen von Menschen im Ruhestand, der Erlass der Schulden von landwirtschaftlich Beschäftigten, die durch eine falsche Politik entstanden sind, und die Unterstützung von Gewerbetreibenden, deren Notlage durch die Pandemie enorm verschärft wurde, sind einige der ersten Schritte, die unternommen werden müssen. Außerdem müssen unbedingt Maßnahmen zur Beseitigung der Frauenarmut und zur Gewährleistung ihrer aktiven Beteiligung am Erwerbsleben ergriffen werden. Auch die gewerkschaftliche Organisierung, Tarifverhandlungen und das Streikrecht müssen im Einklang mit den universellen Normen gewährleistet werden.
VERDIENST IN DER ÖFFENTLICHEN VERWALTUNG: Die öffentliche Verwaltung sollte nicht die Domäne für die Einstellung von Kumpanen unter dem Monopol des regierenden Blocks sein. Die Beschwerden derjenigen, die aus politischen Motiven und aufgrund von Dekreten aus dem öffentlichen Dienst entlassen wurden, sollten behoben werden, jede Art von Diskriminierung bei Einstellungen und Ernennungen sollte gestoppt werden und Verdienst sollte zur einzigen Grundlage gemacht werden.
RESPEKT VOR DER NATUR: Angesichts der Klimakrise muss der Notstand ausgerufen werden. Projekte (allen voran der Kanal Istanbul), die zu einer zügellosen Ausbeutung von Natur und Umwelt führen, Wälder, landwirtschaftliche Flächen und Flüsse aus Profitgründen nachhaltig schädigen und das ökologische Gleichgewicht stören, müssen gestoppt werden. Energie-, Verkehrs-, Urbanisierungs- und Landwirtschaftspolitik sollten auf einem am Naturrecht orientierten Ansatz beruhen. Das Recht jedes Lebewesens auf Überleben in einem gesunden Ökosystem sollte durch eine wirksame Politik sichergestellt werden. Waldbrände und Überschwemmungen können nur so gestoppt werden.
FREIHEIT FÜR JUGENDLICHE: Die Lebensvorlieben, die Jugendliche haben, sollten respektiert werden, sie sollten sich selbst ausdrücken und frei leben können. Um dies zu gewährleisten, müssen alle Hindernisse im wirtschaftlichen, sozialen und politischen Bereich beseitigt werden, wobei der Schwerpunkt auf Bildung und Kultur liegt. Die Defizite des Bildungssystems müssen angegangen und verbessert werden. Diese sind für ein freies und sicheres Leben unerlässlich. Junge Menschen sollten auch wirtschaftlich unterstützt werden, sie sollten in allen Bereichen in die Verwaltung einbezogen werden, was dazu beitragen wird, dass sich kreative und fortschrittliche Ideen in der Gesellschaft durchsetzen.
EINE DEMOKRATISCHE VERFASSUNG: Eine zivile, freiheitliche und neue Verfassung, ein Gesellschaftsvertrag im wahrsten Sinne des Wortes wird der Vorbote eines Neuanfangs und die Krönung der Demokratisierung in der Türkei sein. Diese Verfassung sollte auf der Gleichheit der Bürgerinnen und Bürger beruhen, mit Respekt vor den verschiedenen Kulturen, Identitäten, Glaubensrichtungen und Muttersprachen, Lebensformen und einer säkularen Lebensweise. Die Ausarbeitung der Verfassung sollte alle Teile der Gesellschaft einbeziehen und mit einer Methode durchgeführt werden, die auf demokratischer Beteiligung und sozialen Verhandlungen beruht.
Tayip Temel: „Es geht um den Sturz des Ein-Mann-Regimes“
Der stellvertretende Ko-Vorsitzende der Demokratischen Partei der Völker (HDP), Tayip Temel, spricht im ANF-Interview über die Strategie der HDP zu den Wahlen am 14. Mai in der Türkei und ruft zur Unterstützung der Partei der Grünen Linken (YSP) auf. (…)
Die HDP hat ihren Schwerpunkt im Wahlkampf auf Themen im Zusammenhang mit der Demokratisierung des Landes gesetzt. Nun hat die HDP keine eigene Kandidatin oder einen Kandidaten für die Präsidentschaftswahl aufgestellt. Wie ist hier der Zusammenhang?
Unsere Partei spielt mit dem, was sie tut oder nicht tut und was sie unterstützt oder nicht unterstützt, eine entscheidende Rolle für die Politik des Landes. Wir sind wahlentscheidend. Alle Augen sind auf uns gerichtet. In diesem Bewusstsein und auf der Grundlage unserer Verantwortung gegenüber unseren Völkern haben wir am 27. September 2021 in einer Erklärung unsere Grundsätze für die Politik des Landes bekannt gegeben. (..). Wir haben eine Diskussion über die großen Probleme des Landes gefordert, insbesondere die kurdische Frage, auf der Grundlage dieser Prinzipien. Dieses Positionspapier haben wird als „Aufruf für Gerechtigkeit, Demokratie und Frieden“ betitelt. Hinsichtlich der Präsidentschaftswahlen haben wir klargestellt, dass wir über diese Prinzipien und nicht über Namen diskutieren sollten. Bei den Gesprächen, die wir geführt haben, haben wir gesehen, dass wir mit Herrn Kılıçdaroğlu keine Meinungsverschiedenheiten über die Grundprinzipien unserer Erklärung wie starke Demokratie, unparteiische und unabhängige Justiz, Beendigung der kommunalen Zwangsverwaltung und eine demokratische Lösung der kurdischen Frage haben. Um es noch einmal zu betonen: Niemand, der für Demokratie und Freiheit eintritt, kann sich diesen Grundsätzen widersetzen. Sie sind für eine Gesellschaft so wichtig wie Brot und Wasser. Deshalb beharren wir auf unseren Grundsätzen und gestalten unsere Praxis entsprechend. Das Treffen, das wir mit Herrn Kılıçdaroğlu im Parlament hatten, fand auf dieser Grundlage statt.
Was bedeutet es, in der ersten Phase keine Unterstützungsbekundung für einen Kandidaten abzugeben? Nach Angaben Ihrer Ko-Vorsitzenden wird der Name in den nächsten Tagen bekannt gegeben …
(…) Unser Ziel ist es, dieses Ein-Mann-Regime, das das Land plagt, zu beenden. Wir haben hart daran gearbeitet, die dafür am besten geeigneten Wege und Methoden zu bestimmen. Die Frage der Nominierung von Kandidaten wurden in den autorisierten Gremien unserer Partei intensiv diskutiert. Wir haben die Meinungen unserer Basis und der Völker eingeholt. Zunächst war die Tendenz, einen Kandidaten zu nominieren, stärker ausgeprägt. Die Erdbeben vom 6. Februar veranlassten uns jedoch, unsere Einschätzungen zu revidieren. Infolge der Politik der AKP/MHP-Regierung, die auf Profit und Plünderung basiert, haben wir mehr als 50.000 Menschen verloren. Tausende sind erfroren, weil die starre zentralistische Verwaltung nicht reagiert hat und in den Erdbebengebieten tagelang nicht eingegriffen wurde. Wir haben mit großer Wut miterlebt, wie das Erdoğan-Regime die Menschen nach dem Erdbeben ihrem Schicksal überlassen hat. Die Menschen erheben zu Recht Einwände gegen das so genannte Präsidialsystem und die AKP/MHP-Regierung. Die Umstände haben sich geändert. Als Bündnis für Arbeit und Freiheit haben wir dies der Öffentlichkeit auf einer Pressekonferenz mitgeteilt. (…)
Es wird immer wieder gesagt, dass diese Wahlen einen Wendepunkt darstellen. Was unterscheidet diese Wahlen konkret von anderen?
Es mag wie ein Klischee klingen, aber diese Wahlen sind tatsächlich sehr, sehr kritisch. Wenn wir sagen, dass die Wahlen 2023 eine Zäsur sein werden, dann sagen wir das nicht, um die Menschen zu motivieren. Die Wahlen 2023 werden in der Tat schicksalhafte Wahlen für das Land sein. Es gibt nur zwei Möglichkeiten. Entweder wir stoppen den Faschismus, oder der Faschismus wird stärker werden und die Gesellschaft ersticken. Das ist kein Scherz, es gibt keinen anderen Weg. Aus diesem Grund werden die Wahlen am 14. Mai 2023 die kritischsten Wahlen der Geschichte sein. Wissen Sie, auf den Straßen, zum Beispiel, wenn wir den Bosporus überqueren, sehen wir manchmal ein Schild mit der Aufschrift „Letzte Ausfahrt vor der Brücke“. Die Wahlen am 14. Mai sind genauso. Es ist die letzte Ausfahrt vor der Brücke. Entweder wir nehmen den Weg in den Faschismus oder wir werden uns für die Demokratie und die Freiheiten entscheiden. So einfach ist die Sache. Deshalb denken wir, offen gesagt, nicht, dass die Wahlen 2023 Wahlen sein werden, bei denen alle ihre eigene Macht messen und eine Show abziehen. Einen solchen Luxus können wir uns nicht leisten. Wenn der Faschismus gewinnt, wird es zu spät sein.
Wie würde sich die Präsenz der Grünen Linkspartei im Parlament mit hundert oder mehr Abgeordneten auswirken?
Sowohl im Präsidialsystem als auch im parlamentarischen System spielt das Parlament eine wichtige Rolle im Gesetzgebungsprozess. Wenn die Grüne Linkspartei mit hundert Abgeordneten ins Parlament einzieht, werden die Unterdrückten, die Marginalisierten und diejenigen, deren Rechte und Gesetze in der türkischen Politik nicht geschützt sind, einen entscheidenden Einfluss darauf haben, welche Gesetze wie im Parlament gemacht werden, und vor allem werden sie die neue Regierung mitbestimmen. Die gesetzlichen Regelungen der beiden hegemonialen Blöcke, die Kapital, Profit und Zerstörung in den Vordergrund stellen, werden verhindert werden. Mit anderen Worten, die Wahl von hundert oder mehr Abgeordneten der Grünen Linkspartei wird eine Garantie für die Verteidigung der Gesellschaft nicht nur gegen eine Partei, sondern gegen beide Blöcke sein.
Ihre Partei stellt insbesondere das Ende des aktuellen Regimes in den Mittelpunkt. Das Programm für die Zeit danach ist in den Hintergrund getreten. Was können Sie zur Perspektive sagen?
Am Vorabend des zweiten Jahrhunderts der Republik treten wir in einen Wahlkampf ein, in dem wir einen historischen Showdown der Blöcke innerhalb des Systems erleben werden. Als diejenigen, die in diesem Land ausgegrenzt und marginalisiert sind, bestehen wir auf dem dritten Weg. Aus diesem Grund betrachten wir die bevorstehenden Wahlen nicht nur auf eine auf ein Kräftemessen der Blöcke innerhalb des Systems limitierten Art und Weise. Wir haben eine Reihe von Zielen vorgelegt, um den dritten Weg zu organisieren und zu stärken und sicherzustellen, dass er in der neuen Periode entscheidend sein wird. In diesem Zusammenhang vertreten wir eine Linie, die sich nicht damit begnügt, die Regierung zu beseitigen und eine neue zu schaffen, sondern auch die bestehende Ordnung zu verändern und diese Veränderung nachhaltig zu machen.
In der Opposition herrscht Zuversicht, dass die AKP/MHP-Regierung besiegt werden wird, und in regierungsfreundlichen Kreisen ist man besorgt …
Zunächst einmal sollte sich die Opposition nicht von dem Klima der Unruhe und Angst einfangen lassen, dass die Regierung im Hinblick auf eine Lösung der historischen Probleme der Türkei schaffen will. Mutige Äußerungen zu historischen Problemen, insbesondere zur kurdischen Frage, werden sowohl das psychologische Klima zerschlagen, das die Regierung schaffen will, als auch diejenigen stoppen, die von der gesellschaftlichen Polarisierung profitieren.
In diesem Zusammenhang lässt sich feststellen, dass die Gesellschaft den beiden hegemonialen Blöcken innerhalb des Systems weit voraus ist. Das Ziel, die Führungsrolle der Gesellschaft zu politisieren und sie mit der Perspektive der demokratischen Republik zusammenzubringen, wird sowohl die Türen zum Sieg öffnen als auch ein Gegengift gegen konformistische Hindernisse wie Selbstgefälligkeit sein.
Es gab bei vergangenen Wahlen immer wieder Provokationen und Betrug. Wie sehen Sie diese Gefahr im aktuellen Wahlprozess?
Die AKP/MHP-Regierung wird natürlich alle möglichen Taktiken und Tricks anwenden, um die Wahlen zu gewinnen. Wir haben es mit einer kriminellen Regierung zu tun, die keine moralischen Prinzipien besitzt, die Erfahrung mit Diebstahl hat und die jede Möglichkeit, zu gewinnen, als legitim betrachtet. Das wissen wir, aber wenn wir uns deswegen in eine passive Position begeben, werden wir verlieren. Man sagt, dass Wahlen an der Wahlurne gewonnen werden. Die Sicherheit der Wahlurnen wird bei diesen Wahlen sehr wichtig sein. Wir haben Vorbereitungen getroffen, um sicherzustellen, dass keine einzige Stimme gestohlen wird, aber die Opposition muss zusammenarbeiten und sich beim Schutz der Wahlurnen zusammenschließen. Hätten die Menschen bei den letzten Wahlen in Istanbul die Wahlurnen nicht geschützt, hätte man den Betrug wahrscheinlich vertuscht. (…)
Es sind anderthalb Monate bis zur Wahl. Nun ist es wichtig die Grüne Linkspartei bekannt zu machen. Haben Sie entsprechende Appelle an die Wähler:innen?
Wir treten mit der Partei der Grünen Linken zu den Wahlen an. Das Logo der Grünen Linkspartei und der HDP sind ähnlich. Das ist ein großer Vorteil für uns. Für Analphabeten ist es wichtig, dass das Logo ähnlich ist. Darüber hinaus kommen wir aus einer Tradition, in der jede kleinste Aktivität entscheidend ist. Wir werden jedes Haus besuchen und die Grünen Linkspartei vorstellen und erklären. Das Logo der Grünen Linkspartei sieht aus wie ein Baum und ein Mensch. Es symbolisiert die Vergangenheit durch die Wurzeln, die Gegenwart durch seinen Stamm und die Zukunft mit seinen Ästen. Es ist genau das Logo, das zu unserem Paradigma passt. (…)
Wir werden die Botschaft vermitteln, dass wir unsere Völker nicht alternativlos gegen alle Arten von politischen Verschwörungen zurücklassen werden, dass wir vor einer großen Herausforderung stehen und dass wir die Kraft des Wandels sind. Wir werden den aufregendsten und vielversprechendsten Wahlkampf aller Zeiten führen. Wir sind voller Enthusiasmus und in großer Begeisterung. Trotz der Repression werden wir die Botschaft vermitteln, dass wir hier sind und gemeinsam etwas verändern werden. Und das werden wir definitiv erreichen.
https://anfdeutsch.com/aktuelles/hdp-vertreter-es-geht-um-den-sturz-des-ein-mann-regimes-36856
Solidarität üben – Hilfe für Erbebenopfer
Die Bilder der schweren Erdbeben in der Südosttürkei und Nordsyrien erschüttern.
Die Hilfe des türkischen Staates kommt – wenn überhaupt – in den Orten an, die einen hohen Wähleranteil von APK (Erdoganpartei) und MHP (in Deutschland die Faschisten der Grauen Wölfe) haben. Erdogan verhängte den Ausnahmezustand über zehn überwiegend von Kurden bewohnten Provinzen, was in der Türkei dem Kriegsrecht gleichkommt. So wollen er und seine Regierung die Hilfe und Berichterstattung kontrollieren und die schreckliche Situation der Menschen vor den Wahlen in der Türkei für sich ausnutzen, die jahrelange Veruntreuung der Erdbebensteuer und die Korruptionswirtschaft vertuschen.
In Syrien passiert von Regierung und Staat überhaupt nichts und das türkische Militär bombardiert auch nach dem Erdbeben weiter betroffene Gebiete in Rojava.
Dringend wird Hilfe direkt vor Ort benötigt. Medico international und Heyva Sor a Kurdistanê e. V. (Kurdischer Roter Halbmond) gewährleisten, dass die Hilfe direkt über Projekte und Vereine vor Ort bei den betroffenen Menschen in der Türkei und in Syrien ankommt.
Bitte spendet und mobilisiert in eurer Umgebung dafür!
Heyva Sor a Kurdistanê e. V., Kreissparkasse Köln, IBAN DE49 3705 0299 0004 0104 81
medico international, GLS-Bank, IBAN DE69 4306 0967 1018 8350 02