Freiwillig im „Jungle“ – Bericht eines Mannheimer Krankenpflegers vom Einsatz in einem Flüchtlingslager an der EU-Außengrenze
Severin lebt in Mannheim und arbeitet in einer Ludwigshafener Klinik als Gesundheits- und Krankenpfleger. Für mehrere Wochen hat er sich vom Dienst unbezahlt freistellen lassen, um bei einem Freiwilligeneinsatz in einem Flüchtlingslager an der EU-Außengrenze medizinische Nothilfe zu leisten. KIM sprach mit ihm über seine Erfahrungen, die Risiken des Einsatzes und warum er sich trotz allem dazu entschieden hat. (cki)
Bei Flüchtlingscamps an der EU-Außengrenze denkt man zuerst an Griechenland oder Italien. Du warst aber in Frankreich. Wo genau befindet sich das Camp, in dem dein Einsatz stattgefunden hat und warum wird es „Jungle“ genannt?
Das Camp befindet sich außerhalb der nordfranzösischen Hafenstadt Dunkerque, an der Küste zum Ärmelkanal, knapp 40 Kilometer von Calais entfernt, wo sich ein weiteres inoffizielles Flüchtlingscamp befindet. Also immer noch in einem der stabilsten Staaten, im Herzen Mitteleuropas und tatsächlich von Mannheim weniger (!) als 600 Kilometer entfernt.
Diese Bezeichnung, welche als „Jungle“ in seiner englischen Form verwendet wird, ist eine über Europas Grenzen hinausgehende Selbstbezeichnung der dort lebenden Flüchtlinge, für die inoffiziellen Teile von Flüchtlingscamps, welche außerhalb der offiziellen Bereiche, häufig in Wäldern gebaut werden (So wird z.B. auch auf Lesbos in Camp und Jungle unterschieden).
Im Fall von Dunkerque verhält es sich entsprechend ähnlich, da das Camp als inoffizielles, welches zwar von den französischen Behörden mehr oder weniger geduldet, aber nicht unterstützt oder reglementiert wird, in einem Waldstück mit einer Fläche von ca. vier Quadratkilometern existiert. Die Menschen dort sind in erster Linie auf sich alleine gestellt und (über-)leben in diesem Wald in Zelten oder selbstgebauten Unterkünften, ohne Zugang zu grundlegender Basisversorgung, welche als selbstverständlich gilt, wie sanitäre Anlagen, Elektrizität oder gesicherten Gebäuden.
Da staatlicherseits jegliche Hilfe untersagt wird und dieser Ort höchstens im Sinne polizeilicher Repression Beachtung erfährt, wird von unterschiedlichen, häufig internationalen NGO´s und selbstorganisierten Hilfsgruppen oder Einzelpersonen versucht, die grundlegendsten und existenziellen Bedürfnisse, wie Essen, Kleidung oder eben medizinische Versorgung zu gewährleisten und so die Menschen vor Ort zu unterstützen.
Im Laufe der Zeit habe ich allerdings immer mehr realisiert, dass Jungle nicht nur so, sondern auch in einem anderen wortwörtlichen bzw. soziokulturellen Sinne zu verstehen ist. Dazu aber später mehr.
Was sind das für Leute, die in dem Camp leben?
Das sind Menschen, welche aus unterschiedlichen Gründen ihre Heimatländer verlassen mussten und sich seitdem auf der Flucht und der Suche nach einem sicheren Lebensort befinden – auch als People on the Move bezeichnet – und auf ihren Weg recht- und schutzlos physischer wie psychischer Gewalt ausgesetzt sind.
Speziell in Dunkerque handelt es sich dabei um Menschen aus Kurdistan, dem Irak, dem Iran, Afghanistan, dem Südsudan, Äthiopien, Eritrea und Indien.
Während meines Einsatzes war die Schätzung, dass sich gerade 2000 Menschen im inoffiziellen Camp befinden, davon größtenteils Männer. Viele davon wirkten noch sehr jung bzw. minderjährig und natürlich befanden sich auch ganze Familien, Frauen und (Klein-)Kinder dort.
Sehr viele von ihnen waren bereits über einen längeren Zeitraum oder auch über Jahre in einem EU-Mitgliedsstaat, mussten diese dann aber aufgrund von Asylrechtsverschärfungen oder schlichtweg inhumanen politischen Entscheidungen (So wurde z.B. in dem Zeitraum meines Einsatzes seitens deutscher Politik der Irak wieder als „sicheres Herkunftsland“ eingestuft, weshalb Tage später sehr viele Iraker:innen mit guten Deutschkenntnissen, in Dunkerque ankamen, da ihnen direkt die Aufenthaltserlaubnis entzogen wurde) verlassen mussten, oder abgeschoben wurden. So habe ich viele Flüchtlinge kennengelernt, welche teils Jahre in Heilbronn, Bremen, Frankfurt, Wien oder auch Heidelberg gelebt haben, sich mehr oder weniger eine Existenz aufbauen konnten und entsprechend gut Deutsch gesprochen haben – und trotzdem gehen mussten.
Kannst du den Alltag der Menschen kurz schildern, wie sie leben, wie ihre Pläne aussehen und mit welchen Gefahren sie konfrontiert sind?
Aus Respekts- und Vulnerabilitätsgründen ist es schwierig, über den Alltag der Menschen und wie sie im Jungle tatsächlich leben, zu viel auszusagen und als Freiwilliger habe ich mich meist an bestimmten Orten, wie eben unserem „mobile Hospital“ oder der „Distribution Area“ – einem großen, offenen Platz, an dem die verschiedenen NGO´s und Hilfsgruppen tagtäglich ihre Infrastruktur aufbauen, z.B. Essens- und Kleidungsausgaben stattfinden und welcher so als sozialer Treffpunkt für viele Bewohner:innen des Camps fungiert – aufgehalten. Zu tief im Wald zwischen den Behausungen rumzulaufen und so in die „Privatsphäre“ der Leute vor Ort einzudringen, wäre unangebracht gewesen und war auch nur in Ausnahmefällen wie z.B. bei einem medizinischen Notfall gestattet. Damit möchte ich sagen, dass ich den Alltag der Menschen auf einer punktuellen, ausschnittsweisen und bestimmten Perspektive erlebt habe und mir dazu nicht zu viel feste Aussagen erlauben möchte.
Was hingegen gesagt werden muss, ist, dass die Gegebenheiten vor Ort unfassbar und schrecklich sind: Die Menschen sind der Witterung und den Temperaturen ausgesetzt, im November hat es mit Ausnahme von wenigen Tagen durchgeregnet, das ganze Camp glich einem Schlammbad und einer Müllhalde. Während meiner Zeit dort gab es mehrere schwere Stürme und Überschwemmungen im Umland. Die Zelte und Behausungen halten dem natürlich nicht Stand. Die Menschen bewegen sich tagelang durchnässt und/oder ohne festes Schuhwerk im Matsch. Mit dem Winteranfang löst die Kälte die Nässe ab und wenn die Nächte Minusgrade erreichen, beginnt der eigentliche Überlebenskampf erst. Haben viele nicht mal stabile Schuhe, reicht es für eine Winterausstattung mit entsprechenden Jacken und Mützen bei weitem nicht aus.
Hinzu kommt die Gewalt: Da wie oben erwähnt, der Staat sich nicht kümmern möchte, ist das Camp mehr oder weniger ein rechtsfreier Raum, in dem es ständig an allen Ressourcen mangelt und sehr viele Formen von Gewalt, tagtäglich sind und sich gegeneinander richten.
Ebenso kam es ziemlich regelmäßig zu polizeilichen (Teil-)Räumungen, in welchen mit Baggern die Infrastruktur des Camps immer wieder abgerissen und die Bewohner:innen teilweise mit Einsatz von Tränengas und Schlagstöcken vertrieben wurden. Diese kehren jedoch anschließend zurück und errichten ihre Unterkünfte von neu.
Ich hatte keine Vorstellung davon, dass die Lage vor Ort tatsächlich so schlimm ist und ich denke, dass niemand, der:die nicht dort war, es sich vorstellen kann.
Niemand möchte sich freiwillig in diesem Waldstück aufhalten, geschweige denn, über einen längeren Zeitraum dort leben. Der einzige Grund, weshalb diese Menschen dort hinkommen (genauso wie nach Calais) ist die Chance auf eine Überfahrt über den Ärmelkanal nach Großbritannien.
Da seit dem sogenannten Brexit, dem Austreten Großbritanniens aus der EU, entsprechend die EU-rechtlichen Asylrechtsbestimmungen nicht mehr für Großbritannien gelten, ist die Chance auf eine potentielle Aufenthaltsmöglichkeit für Geflüchtete, welche in einem EU-Staat keine Aufenthaltsmöglichkeit mehr besitzen, wieder offen. Entsprechend sehen viele Flüchtlinge Großbritannien als ihre letzte Hoffnung auf einen sicheren Aufenthalts- und Lebensort innerhalb Europas, nachdem dieser innerhalb der EU verunmöglicht wurde. Gleichzeitig werden seitdem in Großbritannien eigene Asylrechtsverschärfungen ausgearbeitet und vorbereitet, welche deren Aufenthaltsmöglichkeiten nochmals erschweren sollen. So ist die offizielle Überfahrt per Fähre oder Einreise mit Automobil per Tunnel illegal und inzwischen so stark überwacht, dass dies kaum mehr möglich ist. Deshalb bleibt als einzige Möglichkeit nur noch die inoffizielle Überquerung des Ärmelkanals mittels Schlauchboot.
Wie reagiert die Polizei auf die Versuche, die Grenze nach Großbritannien zu überqueren?
Ich habe verschiedene Erzählungen gehört: Entweder ist die Polizei bereits vor Ort und schlitzt mit Messern die Boote auf, bevor die Flüchtlinge diese am Strand erreichen können und drängt diese mehr oder weniger „behutsam“ zurück. Oder es kommen Tränengas und Schlagstöcke zum Einsatz, mit denen die Flüchtlinge aus den Booten rausgezogen und vom Strand weg geprügelt werden. Oder auch, dass Boote mit Flüchtlingen, welche sich bereits im Meer befinden von Polizeibooten Richtung Strand zurück gedrängt und an der Weiterfahrt gehindert werden.
Diese Erzählungen decken sich meiner Meinung nach mit Verletzungen, welche wir tags nach gescheiterten Überfahrten bei zurückkehrenden Flüchtlingen gesehen und versorgt haben: Gerötete und gereizte Augen von Tränengas, Prellungen, Schwellungen, Hämatome und Hautabschürfungen an Rippen und Extremitäten von Schlagstöcken oder Tränengasgranaten – ebenso blaue Augen und Platzwunden an Augenbrauen. Und auch (groß-)flächige Verbrennungen durch Motorenöl bei Personen, die wohl in der Nähe des Bootsmotors aus dem Schlauchboot gefallen sind.
Auffällig und erfreulich ist, dass scheinbar immer wieder Boote durchkommen und es auch immer wieder Überfahrten gibt, auf die die Polizei nicht vorbereitet ist, wenn sie diese vielleicht nicht sogar manchmal ignoriert.
Wie lange warst du im Camp und was war dort deine Aufgabe?
Mein Einsatz hat knapp 6 Wochen gedauert und ging vom 21. Oktober bis zum 01. Dezember letzten Jahres. Ich war dort als Freiwilliger mit der NGO „No Border Medics“ und habe unterschiedliche medizinische Versorgung geleistet. Das heißt konkreter, dass ich gemeinsam mit einem internationalen und interdisziplinären Team aus verschiedenen Gesundheitsberufen, vor allem aber mit Ärzt:innen und Krankenpfleger:innen vor Ort im Camp Patient:innen versorgt habe. Neben vielen unterschiedlichen pflegerischen, diagnostischen und logistischen Tätigkeiten war Wundversorgung eine meiner häufigsten Aufgaben. Fast täglich haben wir weit mehr als 150, teilweise über 200 Patient:innen versorgt, was nochmals zeigt, wie wichtig und richtig diese NGO an diesem Ort ist.
Kannst du ein paar Worte zu eurer Organisation sagen?
„No Border Medics“ ist eine kleine und junge spendenfinanzierte NGO, mit Vereinssitz in Hamburg, welche seit ca. 2 Jahren in Dunkerque medizinische Hilfe für Flüchtlinge leistet und so mit einfachen Mitteln Erkrankungen und Verletzungen wie Wunden, Verbrennungen, Erkältungen, Grippe, scabies (Krätze) oder orthopädische Probleme versorgt. Die NGO sieht sich selbst in der Verantwortung, ein temporäres Angebot an medizinischer Erstversorgung zu schaffen und ist so an sechs Tagen die Woche tagsüber mit der „mobile Clinic“ im Camp. Diese besteht (momentan) aus einem großen Behandlungszelt zum Schutz vor Regen und Wind, sowie einem ausgebauten und beheizbaren Transporter mit Behandlungsliege für Untersuchungen. Dadurch besteht die zusätzliche Möglichkeit, Patient:innen, insbesondere vulnerable Gruppen wie Frauen und Kinder, einen Schutzraum für mehr Privatsphäre zu bieten.
Das Team besteht aus zwei Koordinator:innen und temporär wechselnden internationalen Freiwilligen unterschiedlicher medizinischer Qualifikationen, welche aus verschiedensten Ländern kommen. Die Teamsprache dabei ist Englisch.
Selbstanspruch von „No Border Medics“ ist es dabei eine zugängliche und bedürfnisorientierte Anlaufstelle für alle Menschen vor Ort zu bieten und so eine kontinuierliche und verlässliche medizinische Erstversorgung zu gewährleisten.
Wo wart ihr untergebracht und wie hast du dich in den sechs Wochen gefühlt?
Wir hatten in einem Vorort von Dunkerque, welcher mit dem Auto nur ca. 10 Fahrminuten vom Camp entfernt war, eine große Unterkunft, in der wir als Team wie in einer großen WG zusammengewohnt haben.
Meine Gefühlslage in den sechs Wochen war sehr unterschiedlich, aber vor allem intensiv und lebendig. Von großer Freude bis zu tiefer Traurigkeit, Angst, Frustration und Wut war alles dabei. Gefühle haben sich schnell abgewechselt oder waren gleichzeitig und konnten teilweise gar nicht verarbeitet werden, weil ständig so viel auf einmal passiert ist. Trotz routinierten Tagesabläufen ist fast jeden Tag etwas neues, unvorhergesehenes und krasses geschehen und fast jeder Tag war nicht wie der andere. Also insgesamt eine sehr emotionale, intensive und herausfordernde Zeit.
Welches Erlebnis hat dich am meisten aufgewühlt?
Es gab für mich einige sehr aufwühlende und heftige Erlebnisse: Neben den Erzählungen von Flüchtlingen nach gescheiterten Überfahrten und der Anblick von Hunderten, die total aufgerieben, durchnässt und teilweise noch die Schwimmwesten um den Hals tragend in den Dschungel zurück kehren – und trotzdem versuchen, nicht den Mut zu verlieren und weiterhin über den Ärmelkanal gelangen möchten. Begegnungen mit Patient:innen, die während der Behandlung erzählen, dass sie bereits im Boot waren und sechs oder mehrmals Pushbacks erlebt haben. Das Wissen, dass im Rahmen unserer Möglichkeiten wir oft nicht die Versorgung für Patient:innen, die keine andere Wahl haben, als zu uns zu kommen, leisten können, welche sie benötigen würden, während diese Versorgung in einem deutschen (und sehr wahrscheinlich ebenso in einem französischen) Krankenhaus kein großes Problem wäre.
Am meisten hat mich jedoch aufgewühlt, dass wir mehrmals während unserer Arbeit sehr nah an plötzlichen Gewalteskalationen im Jungle waren und zum Selbstschutz die Behandlungen abbrechen, evakuieren und mit den Fahrzeugen raus fahren mussten. Zu unserem Glück ist uns nichts weiter passiert, aber Eindrücke und Erlebnisse bleiben.
Wie habt ihr euch im Team gegenseitig unterstützt? Wie waren die Leute drauf, mit denen du zusammen im Einsatz warst?
Die gegenseitige Unterstützung fand so statt, dass wir teamintern sehr viel Zeit miteinander verbracht haben und natürlich über alles was im Camp passiert und über unsere Erlebnisse, uns ausgetauscht und reflektiert haben. Da ich in dem Zeitraum mit sehr unterschiedlichen Leuten aus Deutschland, England, Irland, Portugal, Norwegen und der Schweiz, von sehr jung bis alt, mit sehr unterschiedlichen Erfahrungswerten und Sichtweisen zusammengearbeitet habe, waren die jeweiligen Umgänge und Einschätzungen mit belastenden Situationen entsprechend verschieden – wobei reden immer hilft!
Ich selbst konnte mich mit einer der Koordinatorinnen über vieles eng austauschen und habe über den Zeitraum ebenso Unterstützung von Freund:innen aus Deutschland erhalten – insbesondere durch regelmäßige Telefonate, welche für mich eine sehr wichtige emotionale Stütze waren, um die ich sehr dankbar bin.
Und mit den Bewohner*innen des Camps? Gab es da persönliche Kontakte oder hast du dich völlig abgegrenzt?
Ich denke, wenn man sich hier völlig abgrenzen möchte, ist man am falschen Ort. Empathie, Aufgeschlossenheit, genauso wie Vorsicht, Sensibilität, Fingerspitzengefühl und ein (selbst-)kritisches Nähe-Distanzverhältnis ist meines Erachtens Bestandteil dieser Arbeit, genauso wie Wundverbände legen und Erkältungsbonbons ausgeben. Alleine deshalb schon, da der psychosoziale Aspekt unserer Anwesenheit eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt.
Natürlich lernt man im Laufe der Zeit einige der Menschen im Camp, Ausschnitte ihrer Biographien und (Flucht-)Geschichten kennen. Manche Leute kamen als Patient:innen immer wieder zu uns und so entstanden Beziehungen. Ob diese dann rein „professionell“-beruflicher oder persönlicher, freundschaftlicher Art werden, muss man selbst entscheiden. Trotz der heftigen Flucht- und Gewalterfahrungen, begegnen einige einem mit erstaunlicher Offenheit und Freundlichkeit. Gleichzeitig darf man sich selbst keine Illusionen machen, zu sehr Anteil an einzelnen „Schicksalen“ zu nehmen oder gar zu glauben, hier jemanden retten zu können – man würde vermutlich sehr schnell daran kaputt gehen und könnte dann niemanden mehr helfen.
Wie kann man die Struktur innerhalb des Camps begreifen? Ist es eine große Solidargemeinschaft oder herrscht dort das “Recht des Stärkeren”?
Wie bereits angemerkt, ist die Bezeichnung Jungle wortwörtlich zu nehmen, fernab jeder moralisch aufgeladener oder romantisierter Vorstellungen. Auch das Camp ist – genauso wie die restliche Welt – nicht frei von Hierarchien, gewaltvollen Strukturen, Rassismen und gegenseitigem Konkurrenzverhalten, welche die Lage vor Ort und die entsprechende Lebenssituation der Menschen prägen – weshalb in gewisser Weise das „Recht“ des Stärkeren dort tatsächlich „herrscht“.
Mir ist wichtig zu erwähnen, dass diese inhumanen Zustände weder natürlich noch von den Betroffenen selbst gewünscht sind, sondern Resultat und Folge einer nicht lösungsorientierten und scheinbar bewusst verfehlten Asylpolitik und ihrer beteiligten Nationalstaaten ist, welche weiterhin auf Ignoranz und Verdrängung, statt auf gemeinsamer Lösungen bauen – wodurch solche Orte wie der Jungle von Dunkerque erst entstehen konnten.
Und nichtsdestotrotz habe ich dort auch immer wieder Momente der Freundlichkeit, der gegenseitigen Unterstützung und Solidarität zueinander erlebt – uns als Helfende eingeschlossen –Momente, welche unglaublich wichtig, trotz allem zuversichtlich stimmen und wunderschön sind.
Was war deine persönliche Motivation, dich für den Einsatz zu melden?
Meine persönliche Motivation war bzw. ist nach wie vor aus unterschiedlichen Gründen entsprungen: Einerseits ist die Idee, mit einer sinnvollen beruflichen Tätigkeit, mit der man wirklich helfen bzw. etwas vernünftiges bewirken und damit ins Ausland gehen kann, schon etwas älter und war tatsächlich auch einer der wesentlichen Gründe, weshalb ich mich damals für eine Ausbildung in der Gesundheits- und Krankenpflege überhaupt entschlossen habe und ich nun mit etwas Berufserfahrung für mich einlöse.
Andererseits nach einigen Jahren von politaktivistischen Engagement in verschiedenen Bereichen und einer inzwischen eingetretenen Frustration, Unzufriedenheit und entsprechender Kritik an diesen politischen Bereichen, ich für mich statt zu resignieren oder zu polemisieren, entschieden habe, dass ich nochmals einen Schritt weiter gehen und auf einer Ebene aktiv sein möchte, in welcher diese Aktivität tatsächlich auch eine Wirkmächtigkeit entfalten kann.
Diese beiden Gründe verbindet gemeinsam mit dem älter werden auch die Überlegung, welche Möglichkeiten es gibt, berufliche Fähigkeiten und politische Überzeugungen mit einem entsprechenden Engagement bestmöglich zusammenzubringen, ohne möglichst wenig Abstriche machen zu müssen. Nach dieser Zeit in Dunkerque fühle ich mich in dieser Überlegung und meinen Motivationsgründen nur bestätigt und möchte auf diese Erfahrungen weiterhin aufbauen.
Solche Camps verdeutlichen ganz offensichtlich das Versagen der EU, wenn es um Fragen der Menschenrechte und der Migrationspolitik geht. Was denkst du, sind die politischen Hintergründe, die solche Camps überhaupt erst möglich machen?
Das ist eine sehr komplexe und weitreichende Frage, welche entsprechend viele und unterschiedliche Aspekte betrifft – Aus meiner politischen Position heraus meine ich, wenn man diese Frage auf die EU reduziert, ist ein wesentlicher Grund der scheinbar gemeinsame Unwille der betreffenden Regierungen innerhalb der EU, Werte und Rechte, welche sie vorgeben zu vertreten, universell für alle Menschen – unabhängig von Herkunft, Nation oder eben Passpapiere umzusetzen und sich stattdessen nach außen immer mehr abschotten, genauso wie die einzelnen Mitgliedsstaaten ihre Grenzen zueinander immer stärker und brutaler für Flüchtlinge ausbauen. Damit einher geht ebenso die Unfähigkeit für die bestehenden Probleme – sei es mit Migration oder Asyl – tatsächliche Verantwortung zu übernehmen und als EU gemeinsame Lösungen zu finden, die für jeden einzelnen Mitgliedstaat die geringsten Nachteile und im besten Sinne für alle, inklusive schutzsuchende Menschen sein könnte.
Diese Annahme macht aber nur Sinn, wenn davon auszugehen ist, das im Politprojekt EU tatsächlich vorgesehen sein soll, dass alle Beteiligten sich so gemeinsam zueinander verhalten, dass für alle das bestmögliche dabei herauskommt. Ein schöner Gedanke, der aber daran schon zerschellt, dass Logik und Funktionsweise der amtierenden Wirtschaftsform des Neoliberalismus im Zusammenhang mit Nationalstaaten und einer daraus resultierenden Standortkonkurrenz humane Werte, welche sich die EU auf die Fahne geschrieben hat, gegenüber den eigentlichen Interessen um globale Vormachtstellung und Konkurrenzvorteilen, wenn überhaupt auf Halbmast wehen. Mal ganz zu schweigen von postkolonialen Strukturen, welche einzelne Mitgliedsstaaten nach wie vor zu verantworten haben, den weiter voranschreitenden Rechtsruck in Europa (und erneute damit einhergehende Asylrechtsverschärfungen; Stichwort: GEAS) und der Tatsache, dass wenn schon an den Folgen und Symptomen von Flucht an vernünftigen Lösungen gescheitert wird, der Gedanke an die Bekämpfung von Fluchtursachen nur noch grandioser scheitern kann – um hier nur einige Aspekte zu nennen. Also ein Versagen auf ganzer Linie, das wie immer die Schwächsten, also in dem Fall weiterhin flüchtende Menschen, ertragen müssen.
Welche Forderungen stellst du an die deutsche und europäische Politik, wenn du nach deinem sechswöchigen Einsatz im „Jungle“ wieder zurück in die scheinbar heile Welt kommst?
Weder in Mannheim, noch in Deutschland, ist ja auch so vieles nicht wirklich heil. Aber ja, das ist nochmals ein qualitativer Unterschied.
Im realpolitisch, also wirklich realistisch und gesellschaftlich umsetzbaren Rahmen wäre, dass Überlegungen zu Asylrechtsverschärfungen, wie sie aktuell stattfinden, sofort eingestellt werden.
Stattdessen Menschen, welche sich auf der Flucht befinden, gesetzlich wie gesellschaftlich weder illegalisiert, noch unsichtbar, wert- und rechtlos gemacht werden, sondern Schutz und Sicherheit erfahren sollen. Flüchtlingslager in einem humanen Sinne aufgelöst und eine menschenwürdige Unterbringung und Versorgung sichergestellt wird. Damit einhergehend, sei es Mittelmeer, Balkanroute oder sonst wo, die EU sich um sichere Fluchtkorridore bemüht und damit z.B. auch dem organisierten Verbrechen von Schleuserstrukturen effektiv begegnen würde.
Dass in einem demokratischen Sinne der Rechtsruck würdig begegnet wird, indem recht(sradikal)e und menschenverachtende Strukturen geschwächt werden und mit einer nachhaltigen und konsequenten Sozial- und Migrationspolitik die (lohnabhängige) Bevölkerung unterstützt, entlastet und im Sinne einer wirklichen und offenen Willkommenskultur sensibilisiert werden kann.
Die jeweiligen Staaten haben Verantwortung zu übernehmen für die eigenen staatlichen Angelegenheiten ihrer Bevölkerung (mit oder ohne Pass), wie Wohlfahrt, Soziales und eine flächendeckende Versorgung von Existenz- und Grundbedürfnissen, das heißt im Klartext: Weder Wohlfahrtsverbände, NGO´s, religiöse Gemeinschaften, noch Politaktivist:innen und Freiwillige, wie meine Kolleg:innen in Dunkerque, haben ehrenamtlich dafür aufzukommen, dass Arme nicht hungern und nicht frieren und Flüchtlinge nicht im Wald verenden oder im Meer ertrinken. Darum allein muss dieser Staat, muss diese Staatengemeinschaft sich kümmern, damit Schreckensorte wie die Jungle von Dunkerque und Calais erst gar nicht entstehen und nie wieder entstehen werden.
Es gibt bedauerlicherweise jedoch hinsichtlich der aktuellen gesellschaftlichen und politischen Lage kaum Anlass zu glauben, dass mit solchen Forderungen – auch wenn sie an sich nicht unrealistisch wären – gegenüber diesen Staaten und ihren Regierungen sich irgendwas positives bewirken lässt.
Deshalb möchte ich solche Forderungen viel mehr an Menschen adressieren, welche sich nicht komplett unaufgeschlossen gegenüber allen außerhalb ihres Selbst verhalten und empathielos durch ihr Leben gehen. Wenn Staaten und Nationen mal wieder nicht ihren Verantwortungen gerecht werden möchten, dann ist es umso mehr Aufgabe der sozialen Bewegungen und ihren jeweiligen Akteurinnen, zusammen mit Betroffenen gesellschaftlichen Druck aufzubauen und so mit der Unterstützung kritischer Zivilgesellschaft von Unten gegen das Elend der bestehenden Verhältnisse und für den sozialen Fortschritt aller zu kämpfen.
Deswegen meine einzige tatsächliche Forderung, an uns und an mich selbst:
Wir müssen weiter machen! – denn sonst wird es nicht gemacht werden.
Alle Bilder, sofern nicht anders gekennzeichnet: No Border Medics
Infos zu den “No Border Medics” und Möglichkeiten zu Spenden gibt es hier: https://nobordermedics.org