Mannheimer Studie stellt fest: Globalisierung verschärft weltweit die soziale Ungleichheit
Die wirtschaftliche Globalisierung der letzten 50 Jahre stand in Verbindung mit wachsenden Einkommen, aber auch mit wachsenden Einkommensunterschieden. Von höheren Einkommen profitiert haben vor allem die obersten zehn Prozent der Einkommensverteilung. Die Kluft zwischen Arm und Reich hat sich damit in den meisten Ländern der Welt noch vergrößert, besonders gilt dies für diejenigen Länder, die sich stärker in die Weltwirtschaft eingegliedert haben, wie China, Russland und einige osteuropäische Länder. Die zunehmende Skepsis gegenüber der Globalisierung – vor allem in stark in den Weltmarkt integrierten Ländern – hat demnach eine massive materielle Grundlage. Dazu kommt, dass die Einkommen eher in den früheren und mittleren Stadien der Globalisierung anwuchsen, mit steigendem Globalisierungsgrad aber immer langsamer ansteigen. Gleichzeitig hat sich im Zuge der Globalisierung die Ungleichheit zwischen den Ländern eher verringert.
Dies sind die wichtigsten jetzt veröffentlichten Ergebnisse einer von Prof. Dr. Valentin Lang von der Universität Mannheim zusammen mit Marina Mendes Tavares vom Internationalen Währungsfonds durchgeführten Studie. Dass nur wenige Reiche von der Globalisierung profitieren, zeigte sich nach ihrer Mitteilung in den Daten „… deutlicher als erwartet.“
Erfreulicherweise interessieren sich nicht nur Ökonomen für das Thema soziale Ungleichheit. Wenige Tage nach der Mannheimer Untersuchung wurden die Ergebnisse einer Studie zur Ungleichheit zwischen wohlhabenden und benachteiligten Regionen in Deutschland veröffentlicht. Ein Thema, das auch für die Städte Mannheim und Ludwigshafen von größter Bedeutung ist. Nicht nur, weil sich die Schere zwischen hohen und niedrigen Einkommen und mehr noch zwischen den ganz großen und den ganz kleinen Vermögen seit 1980 immer weiter öffnet. Sondern auch, weil weitere Arten der sozialen Ungerechtigkeit, vor allem im Bildungsbereich, auf dem Wohnungsmarkt und in der gesundheitlichen Versorgung für einen rasch anwachsenden Teil der Gesellschaft bedrückende und bedrohliche Ausmaße annehmen. Erstellt wurde diese Studie in Zusammenarbeit des Robert-Koch-Instituts (RKI) mit dem Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) und der Medizinischen Hochschule Hannover. Sie kann im Bundesgesetzblatt nachgelesen werden (1). Vor allem ging es hier um die Frage, auf welche Todesursachen die größer werdende soziale Kluft in der Lebenserwartung zurückgeht. Dass Menschen in sozioökonomisch benachteiligten Wohngegenden früher sterben als jene in wohlhabenderen Gegenden, ist seit langem bekannt und wissenschaftlich belegt. In den letzten Jahrzehnten aber hat sich diese Kluft trotz eines beträchtlichen Wirtschaftswachstums weiter geöffnet, besonders in den Jahren der Pandemie. 2019 starben Männer in sogenannten sozial deprivierten Wohngegenden 3,1 Jahre vor ihren Geschlechtsgenossen in Wohngegenden mit geringer sozialer Deprivation, 2021 betrug dieser Abstand bereits 3,5 Jahre. Bei Frauen vergrößerte sich der soziale Abstand in der Lebenserwartung relativ noch stärker von 1,8 auf 2,2 Jahre. Vor allem Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs erwiesen sich als die Hauptgründe für soziale Unterschiede in der Lebenserwartung. Besondere Bedeutung entdeckten die Forschenden bei der Krebssterblichkeit, die in benachteiligten Regionen weniger stark zurückging als in wohlhabenderen. Vorwiegend gilt dies für frühe Krebssterbefälle, die Menschen unter 75 Jahren betreffen.
Mit anderen Worten: Menschen in benachteiligten Wohngegenden erkranken häufiger und früher an Krebs und sterben häufiger daran.
Hieraus folgern die Forschenden: Um die gesundheitliche Chancengleichheit in Deutschland zu verbessern, sind gleichwertige Lebensverhältnisse im gesamten Bundesgebiet ein wichtiges Ziel. Man könnte es auch so ausdrücken: Umverteilung kann zu einem langen und gesunden Leben führen.
In den medizinischen Berufen und der medizinischen Forschung hat sich die Erkenntnis noch wenig durchgesetzt: Krankheit und Gesundheit sind nicht nur Konsequenz individuell gewählter Lebensstile oder gar mehr oder minder guter Gene, sondern Folge sozioökonomischer Strukturen, genauer gesagt: von Klassenbeziehungen. Und dennoch waren es weder Ökonomen noch Soziologen, sondern der Epidemiologe Richard Wilkinson und seine Kollegin Kate Pickett, die zum Thema eines der interessantesten Bücher der letzten Jahre vorgelegt haben (2). Nach Jahrzehnten empirischer Forschung stellten sie sich die Frage, warum eigentlich die Lebenserwartung in verschiedenen gesellschaftlichen Klassen und Schichten so unterschiedlich ist, warum die Menschen umso mehr gesundheitliche Probleme haben, je tiefer sie auf der sozialen Stufenleiter stehen.
Sie fanden heraus, dass sowohl das objektive Ausmaß der Gesundheitsprobleme als auch die empfundene Lebenszufriedenheit relativ wenig mit der Höhe des Einkommens zu tun haben, dafür umso mehr aber damit, wie gleich oder ungleich das Einkommen verteilt ist. Dies gilt auch, eventuell sogar stärker, für psychische Belastungen und Erkrankungen. Als Indikator für den Gesundheitszustand einer Bevölkerung gilt die durchschnittliche Lebenserwartung, die psychische Gesundheit wird idRR anhand der Suizidrate eingeschätzt. Der französische Star-Ökonom Thomas Piketty weist in mehreren umfangreichen Werken u.a. darauf hin, dass seit Ende des 18. Jahrhunderts eine „langfristige historische Tendenz zu mehr sozialer, ökonomischer und politischer Gleichheit“ zu beobachten ist (3). Er vergisst nicht, zu erklären: Diese „historische Tendenz“ liegt nicht in der Natur des Kapitalismus, sondern ist im Gegenteil „die Konsequenz des Aufbegehrens gegen Ungerechtigkeiten und sozialer Kämpfe“ (4). Seit 1980, verstärkt seit 1990 drehte sich diese historische Tendenz um, vor allem die Einkommensunterschiede vergrößerten sich nicht nur in Deutschland, sondern auch in den meisten anderen Industrieländern und wenig entwickelten Ländern. Wilkinson und Pickett machen darauf aufmerksam, dass es aus diesen Jahrzehnten über 300 Studien gibt, die belegen, dass in Ländern mit weniger Ungleichheit die Gesundheit besser und die Suizidrate geringer ist.
Eine zentrale Rolle bei der zersetzenden Funktion der Ungleichheit spielen systemisch bedingte Gefühle und Verhaltensweisen der Statuskonkurrenz, der Über- und Unterlegenheit. Sie überlagern, durchdringen und vergiften tendenziell alle beruflichen und privaten Beziehungen und Interaktionen.
Die Destruktivität der Ungleichheit ist empirisch bereits bestens belegt: In ungleicheren Ländern gibt es weniger Hilfsbereitschaft, weniger sozialen Zusammenhalt, weniger Gemeinschaftsleben, mehr Gefühle des Misstrauens und der Unversöhnlichkeit, mehr Gewalt (gemessen an der Mordrate), strengere Rechtssysteme, mehr Gefängnisinsassen und mehr Bedrohungsgefühle in der Bevölkerung.
Erfreulicherweise spricht es sich langsam herum, dass die Ungleichheit bei allen Menschheitskrisen, die uns gerade begleiten, eine tragende Rolle spielt. So liegt es eigentlich auf der Hand, dass bei der Lösung dieser Krisen der Kampf gegen Ungleichheit dasjenige Kettenglied ist, das es als erstes zu ergreifen gilt, um die Kette in die Hand zu bekommen.
(Michael Kohler)
(1) Sozioökonomische Deprivation und vorzeitige Sterblichkeit in Deutschland 1998–2021 (springer.com)
(2) R. Wilkinson & K. Pickett (2016). Gleichheit. Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind. Haffmans & Tolkemitt, Berlin.
(3) T. Picketty (2022). Eine kurze Geschichte der Gleichheit. Beck, München. S. 13
(4) s. ibid.: 22