Propalästinensisch = antizionistisch = antisemitisch? Studie der Uni Mannheim liefert interessante Erkenntnisse
Schaut man sich die Berichterstattung zahlreicher Medien der letzten Monate an, lautet eine gängige These: Die propalästinensischen Proteste haben zu einem Erstarken des Antisemitismus in Deutschland geführt. Gerade erst erschien im Mannheimer Morgen ein großer Artikel über propalästinensische Demos aus Sicht einer proisraelischen Gegendemonstrantin. Die Vorwürfe sind massiv: Judenhass, Antisemitismus und Todesdrohungen. Auf ihren Schildern wirft sie den propalästinensischen Demonstrant*innen vor, ihre Vernichtung zu fordern.
Noch schärfer wird die Berichterstattung, wenn Greta Thunberg an propalästinensischen Demos teilnimmt. „Selfie mit Judenhassern“ schreibt die Bildzeitung neben ein Foto der Klimaaktivistin. Die CDU greift das auf und fordert in der Bildzeitung ein „Einreiseverbot“ gegen die „Antisemitin“.
Zunahme antisemitischer Vorfälle
Objektiv gesehen gibt es eine starke Zunahme behördlich registrierter antisemitischer Vorfälle. Allerdings gibt es auch eine größere Sensibilisierung der Behörden und mehr Betroffene melden die ihnen bekannt gewordenen Vorfälle. Das ist grundsätzlich gut. Ob insgesamt von mehr Antisemitismus in der Gesellschaft gesprochen werden kann und ob gar die propalästinensischen Proteste, teils unterstützt aus dem akademischen linken Lager, dafür verantwortlich sind, sollte aber genauer untersucht werden.
Eine Studie mit dem Titel „Pro-Palästina Proteste, Antizionismus und Antisemitismus in Deutschland“ der Professoren Marc Helbling und Richard Traunmüller an der Uni Mannheim hat sich mit dieser Frage beschäftigt.
Was ist Antisemitismus?
In der oben erwähnten medialen Berichterstattung wird oft alles in einen Topf geworfen. Antisemitismus, Antizionismus, Israel-Feindlichkeit, Israel-Kritik, Judenhass, Palästina-Solidarität. Für eine genauere Betrachtung der verschiedenen Phänomene haben die Verfasser der Studie zwei „Antisemitismus-Skalen“ verwendet und unterscheiden dabei in „traditionellen Antisemitismus“ und „antizionistischen Antisemitismus“. „Während sich der traditionelle Antisemitismus direkt auf Juden als soziale Gruppe bezieht, fokussiert antizionistischer Antisemitismus auf den Staat Israel und macht Juden kollektiv für dessen Politik verantwortlich“ erklären die Autoren ihre Differenzierung.
Propalästina-Haltung und traditioneller Antisemitismus korrelieren nicht miteinander
Die Studie liefert einige interessante Erkenntnisse. Traditioneller Antisemitismus lässt sich demnach weiterhin in der Gesellschaft deutlich nachweisen. 13 Prozent der Befragten stimmten etwa der Aussage zu, dass Juden zu viel Einfluss in der Welt hätten. 18 Prozent vertreten die Ansicht, dass Juden nur über den Holocaust sprechen, um ihre politische Agenda voranzutreiben.
Die Studie untersucht im zweiten Teil, ob im jungen, linken, akademischen Milieu Antisemitismus besonders weit verbreitet ist. Das Ergebnis: Es ist die am wenigsten antisemitisch eingestellte Gruppe in der deutschen Bevölkerung. Gleichzeitig ist es die Gruppe, mit der am stärksten ausgeprägten propalästinensischen Haltung.
„Tatsächlich ist der traditionelle Antisemitismus sowohl in älteren Alterskohorten als im rechten politischen Spektrum deutlich verbreiteter“, stellen die Autoren fest.
Bei antizionistischem, also Israel-bezogenen Antisemitismus sieht es hingegen anders aus. Hier gibt es nur geringe Unterschiede bei Alter, politischer Orientierung und Bildungsabschluss. „Insgesamt bestehen damit hinsichtlich des Antizionismus nur vernachlässigbare Unterschiede.“
Unterstützung für die israelische oder palästinensische Sache?
Ergebnis der Studie war außerdem, dass 82 Prozent der Befragten der Meinung sind, Israel habe das Recht, als Heimatland für das jüdische Volk zu existieren. Gleichzeitig vertreten 85 Prozent die Meinung, die Palästinenser haben das Recht auf einen eigenen Staat. Daraus lässt sich interpretieren, dass insgesamt eine große Mehrheit der Bevölkerung hinter einer Zwei-Staaten-Lösung stehen würde.
Einen bedeutsamen Unterschied gibt es allerdings in der Gruppe der unter 35-jährigen. Während bei links orientierten jungen Menschen eine propalästinensische Haltung weit verbreitet ist, ist sie bei rechts orientierten deutlich geringer ausgeprägt.
Ergebnisse der Studien-Autoren
Helbling und Traunmüller kommen in einer Zusammenfassung ihrer Ergebnisse zu folgenden Schlüssen:
- Der an das junge, linke und akademische Milieu gerichtete Antisemitismusvorwurf ist vorschnell – tatsächlich handelt es ich um die am wenigsten antisemitisch eingestellte Gruppe in Deutschland.
- Was junge, linksorientierte Menschen mit Hochschulabschluss tatsächlich auszeichnet, ist eine ausgeprägte pro-palästinensische Haltung.
- Pro-palästinensische Einstellungen hängen kaum oder nur in geringem Maße mit traditionellem Antisemitismus zusammen.
- Der richtige Umgang mit israelkritischen Positionen auf Demonstration, an Universitäten und in den sozialen Medien spaltet die deutsche Bevölkerung.
Welche Erkenntnisse sind nun daraus zu ziehen?
Zumindest den Vorwürfen aus rechten und konservativen Kreisen, ein linker Antisemitismus mache sich in Deutschland breit, setzt die Studie argumentativ etwas entgegen. Traditioneller Antisemitismus, die „klassische“ Judenfeindlichkeit, ist weiterhin – welch Überraschung – in rechten Kreisen am weitesten verbreitet. In der propalästinensischen Solidaritätsbewegung gibt es diese Form vergleichsweise wenig. Israel-bezogener Antizionismus ist dagegen in allen gesellschaftlichen Gruppen in ähnlicher Ausprägung vorhanden.
Eine sozialwissenschaftliche Studie ist jedoch ein theoretisches Gebilde und noch lange keine Erklärung für das, was auf den Mannheimer Straßen passiert. Man sollte nicht den Fehler machen, propalästinensische Demos als gleichförmiges ideologisches Gebilde zu betrachten.
Auch wenn viele Menschen einfach nur wollen, dass der Krieg endet und alle Menschen – Palästinenser und Israelis – in Frieden leben können, gibt es dennoch antisemitische Hetzer, die Israel und seine Bewohner*innen auslöschen wollen. Die Eingangs erwähnte proisraelische Gegendemonstrantin hat dafür zahlreiche Beispiele gesammelt und veröffentlicht.
Zur Betrachtung der hiesigen propalästinensischen Bewegung muss auch ergänzt werden, dass in Mannheim vergleichsweise wenig Unterstützung aus dem jungen, akademischen und linken Milieu kommt. Hier laufen eher einige Altlinke auf den Demos von Free Palestine und Zaytouna mit. In anderen Unistädten sieht das anders aus.
Wie groß der Einfluss radikaler Antisemiten und religiöser Fanatiker in Mannheim ist und wie viele Anhänger*innen sie auf den Demos haben, ist sicherlich schwer von außen zu beurteilen. Eine Greta Thunberg auf eine Ebene mit einem Hamas-Anführer zu stellen, dürfte der differenzierten Betrachtung aber sicher nicht förderlich sein. (cki)
Die Studie kann unter folgendem Link heruntergeladen werden: https://www.uni-mannheim.de/media/Einrichtungen/gip/Bilder/Dokumente/GIP_Wie_tickt_Deutschland_2_Antisemitismus.pdf