Mannheim und Auschwitz

Bildschablone von Friedrich Dürr an der Fassade des JUZ | Bild: JUZ

Der 27. Januar, der 80. Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz, ist dieses Jahr ein sehr spezieller Gedenktag. Nicht nur wegen der runden Zahl, sondern auch, weil dieses Gedenken so beklemmend viel zu tun hat mit dem, was wir gerade erleben. Niemand kann mehr übersehen: Gegenwart und mehr noch die Zukunft sind nicht nur durch Klimakatastrophe und Artensterben bedroht, sondern auch durch Nationalismen in allen Kontinenten, die imperiale Ausdehnung verfolgen, Konflikte gewaltsam lösen, sich auf Abwertung und Ausgrenzung verschiedenster Menschengruppen stützen und die fest entschlossen sind, soziale und demokratische Errungenschaften rücksichtslos zu schleifen. Mithin greifen sie auf genau die Art von „Lösungen“ zurück, die von 1933 bis 1945 ihre höchste Konjunktur hatten.

Stolpersteine

Im letzten Kommunalinfo schilderten wir in Kürze die Schicksale von Hedwig und Paul Eppstein, zweier bekannter Personen aus Mannheim und aus Ludwigshafen. Von 1933 an wurden sie bedroht, drangsaliert, entwürdigt, entlassen, verhaftet und deportiert, bevor sie schließlich beide 1944 in Auschwitz bzw. Theresienstadt ermordet wurden – nur drei bw. vier Monate vor der Befreiung. Zwei Stolpersteine befinden sich vor ihrer ehemaligen Wohnung in der Collinistraße 20. Sie gehören zu insgesamt 311 Stolpersteinen in Mannheim, aufgelistet sind sie in einem Wikipedia-Eintrag.

Auschwitz war nur eines von über 1.000 von den Nazis eingerichteten Konzentrationslagern in Deutschland. Von allen aber war es das größte, gleichzeitig war es auch das größte Vernichtungslager. Bis heute gibt es keine genauen Angaben über die Anzahl der dort Ermordeten. Denn für die meisten wurde gar nicht erst eine Akte angelegt – weil sie gleich nach ihrer Ankunft „ins Gas geschickt“ wurden. Wissenschaftliche Schätzungen nennen 1,1 bis 1,5 Millionen Ermordete. Dem oben erwähnten Wikipedia-Eintrag können wir 39 Namen und Adressen von in Auschwitz ermordeten Personen entnehmen, die aus Mannheim kamen. Unter ihnen einige, die im Widerstand kämpften. So steht gleich am Anfang der Liste Kurt Steiner, für den ein Stolperstein an seinem ehemaligen Wohnort in A2, 5 liegt. Er kämpfte von 1933 bis 1939 in Spanien in den Internationalen Brigaden gegen den Franco-Faschismus, wurde nach seiner Gefangennahme 1939 in Gurs interniert und 1942 in Auschwitz ermordet.

In Mannheim wurde 2007 mit der Verlegung von Stolpersteinen begonnen, das Projekt geht zurück auf eine in den 1990er Jahren begonnene Arbeit des Kölner Künstlers Gunter Demnig. Bis heute hat er über 100.000 von ihnen hergestellt und in ganz Europa verlegt. Von 1933 bis 1945 wurden durch die Nationalsozialisten schätzungsweise 17 Millionen Menschen ermordet, darunter etwa 6 Millionen Juden, Millionen von sowjetischen Zivilisten und Kriegsgefangenen, polnischen Zivilisten, Sinti und Roma, Menschen mit Behinderungen, Homosexuellen und anderen Minderheiten. 100.000 Stolpersteine mag uns als große Zahl erscheinen, und doch erinnern sie noch nicht mal an jedes tausendste Mordopfer. Umso wichtiger sind sie – auch angesichts der Tatsache, dass die geistigen Erben der Mörder heute wieder an die Schalthebel der Macht gelangen.

Hinter den über dreihundert Mannheimer Stolpersteinen stehen mindestens ebenso viele Schicksale und Lebensgeschichten. Die meisten von ihnen sind sowohl bewegend als auch bedrückend, sie sind aber auch außerordentlich lehrreich. Sehr zu empfehlen ist ein Blick auf die interaktive Karte, die das MARCHIVUM zu den in Mannheim verlegten Stolpersteinen ins Netz gestellt hat. Wie dort zu sehen, befinden sich die meisten Stolpersteine in der Innenstadt und der Neckarstadt, sind jedoch auch weit über Mannheim verteilt. Im Mannheimer Süden beginnt es in Seckenheim mit einem Gedenkstein für den jüdischstämmigen Fotografen Sigmund Lewin in der Offenburger Straße 23. Er wurde 1882 geboren, heiratete 1912 die Protestantin Johanna Barbara Brunner und konvertierte zum Christentum. 1938 war er mehrere Wochen im KZ Dachau inhaftiert, kehrte anschließend nach Seckenheim zurück, wurde aber Anfang 1945 in das Ghetto Theresienstadt deportiert. Er überlebte und kehrte wieder nach Seckenheim zurück, wo er weiterhin als Fotograf tätig war und 1959 starb. Im Krieg wurde sein Sohn Kurt zum Kriegsdienst eingezogen, fiel 1944 in Frankreich, hinterließ eine Frau und drei Kinder.

Im Norden geht es bis zur Marienburger Straße in Mannheim-Schönau, an der Ecke zur Königsberger Allee liegen dort sechs Steine für die 1943 nach Auschwitz deportierte Sinti-Familie Steinbach. Für die Familie folgen Aufenthalte in den Konzentrationslagern Bergen-Belsen, Ravensbrück und Sachsenhausen. Drei der vier Kinder sterben, die Eltern und eines der vier Kinder überleben. Die Mutter Katharina Steinbach starb 1994 in Mannheim-Schönau, der Vater Gustav 2004 in Schwäbisch-Hall. Das einzige überlebende Kind Gregor Steinbach lebte bei Verlegung der Stolpersteine 2022 noch in Mannheim.

Das Vergangene ist niemals tot. Es ist nicht einmal vergangen.

Diesen Satz schrieb William Faulkner 1951. Wir springen in die Gegenwart und nach Österreich: 28. September 2024: FPÖ-Funktionäre nehmen an der Beerdigung von Walter Sucher teil, einem ehemaligen FPÖ-Bezirksrat und Mitglied der rechtsextremen Burschenschaft Olympia. Das Treuelied der SS wird gesungen, das im SS-Liederbuch nach dem Deutschlandlied und dem Horst-Wessel-Lied an dritter Stelle aufgeführt war. 29. September 2024: Rechtsextremisten der Identitären Bewegung nehmen an einer Wahlparty der FPÖ zur Nationalratswahl teil. Einige lassen sich mit Herbert Kickl abbilden und zeigen dabei White-Power-Gesten. 27. Januar 2025: Es wird bekannt, dass sich auf der Todesanzeige eines ehemaligen FPÖ-Landtagsabgeordneten ein Symbol der SS befand, sowie ein Spruch, der von Nationalsozialisten für gefallene Soldaten verwendet wurde. Dies sind die letzten drei von mehr als hundert Einträgen einer Wikipedia-„Liste rechtsextremer und neonazistischer Vorfälle in der FPÖ“.

Auch deshalb sei abschließend ein Stolperstein erwähnt, der sich in der Lange Rötterstraße 22, Ecke Kleiststraße befindet. Er dient dem Gedenken an den Widerstandskämpfer Friedrich Dürr, der am 28. April 1945 in Dachau ermordet wurde. Vor 50 Jahren beschloss das Mannheimer Jugendzentrum, seinen Namen zu tragen. Auf dessen Homepage erfahren wir die biografischen Hintergründe und lesen eine bestürzend aktuelle Schlussfolgerung: „Im Jahre 1975 berichtet Fritz Salm, Autor des Buchs „Im Schatten des Henkers“, im alten JUZ (O4, 8) über den Mannheimer antifaschistischen Widerstand gegen die Naziverbrecherdiktatur. Sein Hinweis auf den Widerstandskämpfer Dürr führt zu folgendem Beschluss der JUZ-Vollversammlung: „Nicht etwa, um einen Helden zu ehren, sondern in dem Bewusstsein, dass der Kampf gegen die Kräfte der Reaktion fortgeführt werden muss, haben wir den Namen des Mannheimer Maschinenschlossers ‚Friedrich Dürr‘ angenommen.“ Wegen seiner Auflehnung gegen den Faschismus wurde Friedrich Dürr 1935 verhaftet und in das Konzentrationslager Dachau verschleppt. Doch selbst in der Gefangenschaft war er weiter aktiv. Maßgeblich beteiligt war er am Dachauer Aufstand, der die SS erfolgreich daran hinderte, 30.000 Häftlinge kurz vor ihrer Befreiung durch die Alliierten zu deportieren und zu ermorden. Der Name ‚Friedrich Dürr‘ soll daran erinnern, dass konsequenter und unbeugsamer Antifaschismus trotz erbarmungsloser Unterdrückung und Repression durch die Nationalsozialisten existierte und dass dieser nach wie vor notwendig ist.“

mk