Wer spricht mit der Subalternen?* – Neckarstadt-West zwischen Prekarität und Gentrifizierung

 

Für weite Teile der Öffentlichkeit der Inbegriff für den “Westen vom Westen”: Die Lupinenstraße

 Aktuell mischen sich in der Debatte um die Neckarstadt-West zwei Diskussionsstränge: Auf der einen Seite ist da die ZDF-Dokumentation „Zwei Quadratkilometer Stress“, ausgestrahlt am 07. Juli 2020, die ein Milieu der Neckarstadt-West in recht düsteren Farben malt. Allen lokalen Widersprüchen gegen diese Dokumentation zum Trotz, dass es auch eine „andere“ Neckarstadt gäbe, sollte man festhalten, dass dieses Milieu im Westen des Westens, jenseits der Neumarkts, das größte oder doch ein relevantes, ein im Mikrokosmos der Neckarstadt vermutlich sogar hegemoniales, ist. Die Veränderung der Neckarstadt-West, in welche Richtung auch immer, kann nicht ohne eine Einbeziehung dieses Milieus passieren, es sei denn, man will es explizit ausschließen und vertreiben oder akzeptiert einen solchen Ausschluss zumindest stillschweigend. Die politischen Akteure der Mehrheitsgesellschaft von konservativ bis linksradikal würden das zwar allesamt weit von sich weisen, aber auf die Verdrängung eines spezifischen Teils der Neckarstadt-West läuft es auf die eine oder andere Weise hinaus: es geht um sprachliche Verdrängung aus der eingebildeten Stadtteilgemeinschaft, dem diskursiven “Kiez”, teilweise um die Leugnung der Verhältnisse, teilweise geht es um ganz reale Verdrängung unter dem Deckmantel einer vermeintlich diversen Kultur. Es erscheint mir sehr wichtig, sich das bewusst zu machen, denn nur so lässt sich konstatieren, dass es hier mitnichten um ein buntes, multikulturelles Miteinander geht, in dem sich ja “über alles reden” lässt, sondern dass die Debatte um die Neckarstadt-West ein beinharter Konflikt mit klaren Fronten ist, in dem es mangels gemeinsamer Basis auch gar nichts zu reden gibt.

Reaktionen auf ZDF-Dokumetation

Schauen wir uns die Reaktionen auf die ZDF-Dokumentation mal an: Oberbürgermeister Peter Kurz (SPD) meldete sich direkt via Facebook zu Wort, beschreibt die Dokumentation als “absurd” und “tendenziös” und präsentiert indirekt gleich seine Lösung, in dem er die Kritiker*innen der Gentrifizierungsprozesse gleich mit angreift. Die ganze Art der Reaktion ist ein Indiz für die These, dass die osteuropäischen Neumannheimer*innen in diesem Prozess völlig irrelevant sind, sie und ihre Situation kommen natürlich nicht vor. Die SPD-Staträt*innen Reinhold Götz und Isabel Cademartori schreiben im SPD-Mitteilungsblatt Rotes Quadrat (29/2020): „[D]ie positiven Entwicklungen in der Neckarstadt finden im Beitrag keinerlei Erwähnung: […] Unabhängig davon, dass nicht alle Projekte und Entwicklungen in so einer Reportage aufgegriffen werden können, zeigen sie jedoch, dass das Bild von einem Stadtteil, aus dem die Stadt, die Politik und die Zivilgesellschaft sich weitestgehend zurückgezogen haben, ein verzerrtes und irreführendes ist. Diese Seite der Neckarstadt-West wurde leider bewusst weggelassen und der Stadtteil als Elendskulisse missbraucht – das ist enttäuschend für alle, die sich dort engagieren und wird dem Stadtteil und seinen Menschen nicht gerecht.“ Auch Quartiersmanagerin Jennifer Yeboah beurteilt die Dokumentation in einem Beitrag des Neckarstadtblogs als „einseitig“, sie würde Vorurteile zementieren. Und selbst die Aktivist*innen vom ewwe longt’s bezeichnen die Dokumentation im Kommunalinfo als „sensationslüstern“ (!) sowie „überspitzt und einseitig“.

Man ist sich also von hellrot bis tiefrot in einem Punkt einig: Güner Balcis Dokumentation male ein falsches Bild der Neckarstadt. Was tatsächlich „besser“ ist, da sind sich die Mannheimer Kommentator*innen nicht mehr ganz so einig: Oberbürgermeister Kurz verteidigt die Gentrifizierung als Gegenkonzept, die SPD-Stadträt*innen zählen auch einige zivilgesellschaftliche Initiativen auf. Die Mietkampf-AG des ewwe longt’s wird noch was anderes meinen und einzig bei Jennifer Yeboah kommen die Protagonist*innen des Films auch vor: „So sind z.B. nicht alle bulgarischen und rumänischen Familien arm, haben kein Interesse am Bildungserfolg ihrer Kinder und leben in Parallelwelten.“ Früheren Versuchen, die Neckarstadt-West medial darzustellen, mag man durchaus vorwerfen können, Horrorszenarien zu entwerfen, so etwa der ebenfalls heiß diskutierten Spiegel-TV-Reportage von Yasemin Yavuz 2018 oder als die konservative Journalistin Düzen Tekkal (CDU) 2017 in einer Fernseh-Talkshow die Neckarstadt-West zur No-Go-Area hochstilisierte. Güner Balci denselben Vorwurf zu machen, heißt, real existierende Probleme kleinzureden.

Gerede von einem “Kiez”

Gemein ist den Mannheimer Reaktionen, so gut sie teilweise auch gemeint sind, dass sie lediglich den Fokus auf einen anderen – und ich würde behaupten: marginaleren – Teil der Neckarstadt-West lenken. Viel ist da von einem „Wir“ die Rede. Die Rede von der „anderen Neckarstadt“ und diesem „Wir“ hat bereits einen ausschließenden Charakter, sie konstruiert eine kollektive Identität einer multikulturellen, aber auch gut gebildeten und in der formellen Ökonomie einigermaßen versierten, aufgeschlossenen, linksliberalen “Mittelschicht” (die bekanntermaßen vom mindestlohnabhängigen Callcenter-Agenten bis zum Kleinmillionär reicht, zumindest, wenn man Selbstverständnisse zugrunde legt). Nur so lässt sich das Phantom „gemeinsamer Interessen“ und die gebetsmühlenartig wiederholte „Dialogbereitschaft“ erklären. Das zunehmende Gerede von einem “Kiez” oder, formeller, vom “Quartier”, soll diese imaginierte Gemeinschaft unterstreichen. Diese Konstruktion ist schon strukturell rassistisch, auch und gerade, wenn so viel von kultureller Vielfalt die Rede ist und ohne, dass man deswegen irgendwem eine rassistische Grundposition unterstellen wollte (wer sich hier tatsächlich von rassistischen Vorurteilen frei machen kann, der werfe den ersten Stein).

Natürlich „integriert“ dieses „Wir“ die Gastarbeiter*innen-Kinder der zweiten und dritten Generation, die Studierenden aus anderen Ländern und vor allem das Popakademie-Milieu, das ohne das verkaufsfördernde Marktmerkmal Multikulturalismus gar nicht auskommen würde. Keine*r der Kommentator*innen, so unterstelle ich mal, hat sich aber jemals die Mühe gemacht, mit dem „anderen“ Milieu im Westen des Westens ins Gespräch zu kommen. Und sogar noch schlimmer: Niemand hat irgendeine Absicht oder ein Interesse, das zu tun. Die engagierten Protagonist*innen der Dokumentation – namentlich Julia Wege, Peter Delfaa und Stefan Seemel – sind da, durch die Bereitschaft zum alltäglichen Kontakt, durch ihre (teilweise beruflich gar nicht zu umgehende) Gesprächsbereitschaft und ihren konkreten Angeboten, meilenweit weiter. Das ist auch nur immanent logisch: Diese „Anderen“ wählen nicht, eröffnen keine hippe Gastronomie im Sinne des Grünen-Stadtrats und Kulturmanagers Markus Sprengler und der durch ihn verkörperten Start-Up- Kulturindustrie und zahlen auch keine „moderaten“ Mieten. Sie sind, um ein Vokabular aus der Corona-Debatte aufzugreifen, vermeintlich (!) nicht systemrelevant.

Das „andere“ Milieu im Westen des Westens

Lassen wir Güner Balci selber zu Wort kommen – das ist aus zwei Gründen relevant. Erstens zu ihrer Ehrenrettung und zweitens, um eine Lanze für die von ihr vorgestellten Organisationen und Personen zu brechen: Auf der ZDF-Homepage zur Dokumentation betont sie die “Überzeugung, dass alle Menschen ein Recht auf ein gewaltfreies Leben haben, ein Recht auf ein Leben in Würde, egal woher sie kommen”, die Bemühungen dafür sieht sie in ihren drei Protagonist*innen verkörpert. Und weiter: “Hier kann man aber auch sehr gut beobachten, wie man ein Miteinander schafft, in dem jeder ein Recht auf Teilhabe bekommt – und wie wichtig es vor allem ist, kein einziges Kind abzuschreiben” – eine recht positive Beschreibung dessen, was in der Neckarstadt-West so gemacht wird, überhaupt nicht “einseitig” oder “sensationslüstern”. (Zitate von dort.  Noch deutlicher wird die Filmemacherin in einem Interview mit der Rhein-Neckar-Zeitung: “Ich sage, diese Menschen sind Europäer, sie haben ein Recht darauf, zu uns zu kommen. Wenn man aber die Probleme kleinredet, ist niemandem geholfen […]” Balci geht es nicht, wie den anderen genannten Dokumentationen, darum, Schuldzuweisungen in einem “osteuropäischen kriminellen Milieu” zu suchen, sondern darum, darauf aufmerksam zu machen, dass es unseren unmittelbaren Nachbar*innen nicht gut geht. Es ist schon ein Witz, dass uns, die wir hier leben, eine Berlinerin darauf aufmerksam machen muss und dass die Reaktion darauf aus Mannheim – bis ganz links – darin besteht, diese Probleme einfach zu leugnen. Und im schlimmsten Fall gar zu torpedieren: Laut Rhein-Neckar-Zeitung hat “mindestens einer der Hauptprotagonisten […] Ärger mit der Stadt bekommen”. Sie seien, so Güner Balci “erheblichem Druck ausgesetzt”. Anstatt an den Problemen anzusetzen, werden diejenigen, die sich hier sozial engagieren, schikaniert. Ohne vorgreifen zu wollen, sei hier schon mal gesagt: Die Protagonist*innen und ihre Organisationen benötigen den Schutz der Neckarstädter “Zivilgesellschaft”. Wenn es ein “Wir” der Neckarstadt-West geben soll, dann heißt es jetzt, sich schützend vor die Arbeit von Amalie, Aufwind und der Neckarschule entsprechend zu stellen – auch, weil wir solche Initiativen im Kampf gegen die Gentrifizierung brauchen.

Links die Rückseite des “Notwohngebiets” Jollystraße, Mitte-hinten ein moderner Block der GBG, rechts “Sprach-Kita” Kinderkrippe Langstraße für frühkindliche Sprachförderung. Impressionen vom äußersten Westen des Westens. (Bilder KIM)

Gentrifizierung, ja echt

“Bunt bemalte Wände und eine Lichtmeile sind schön. Kunst- und Musikprojekte sind oft eine Bereicherung. Die Frage ist, für wen sind diese Projekte und wen erreichen sie? Sie alle haben gewiss ihre Berechtigung, aber dass ein Kunstprojekt etwas an der Situation von Armutsprostituierten ändert oder den benachteiligten Kindern nachhaltige Bildungserfolge ermöglicht, bezweifle ich. Tatsächlich habe ich bei meinen Recherchen festgestellt, dass diese Kunst-Kultur-Gesellschaft wie ein Paralleluniversum funktioniert, mitten im Brennpunkt, ohne große Berührung zu den Betroffenen“, so Balci weiter im Interview. Genauer kann man kaum sagen, wo das Problem der zahlreichen Kultur-Initiativen vom Community Art Center(eigentlich eine feine Idee, aber an den Bedürfnissen der Bewohner*innen vorbeigeplant – siehe als positives Beispiel etwa das Projekt Neue Nachbarschaft// Moabit der Berliner Künstlerin Marina Naprushkina) über den “Kiosk” am Neumarkt bis hin zur kulturkapitalistischen Initiative “Westwind” liegt. Ja, das alles ist Gentrifizierung. Grünen-Stadtrat Markus Sprengler als einer der Hauptprotagonisten scheint unter Gentrifizierung nur die absichtsvolle Verteuerung und Verdrängung zu verstehen, der er aber auch das Wort redet, wenn er via Facebook das Werfen von Farbeiern auf das neu eröffnete Café “Concrete Coffee Roasters“ damit kommentiert, dass sich die Kritiker*innen lieber um „südosteuropäische Wucher Vermieter“ kümmern sollte. Natürlich ist ein Grüner pikiert, wenn ihm dann Rassismus vorgeworfen wird, aber die ethnizistische Zuschreibung ist letztlich rassistisch, auch wenn das noch niemanden zum bekennenden Rassisten macht.

Nahezu gleichzeitig mit der Ausstrahlung der ZDF-Dokumentation wird die Gründung von „Westwind“ bekannt und an der Lutherstraße eröffnet eben jenes hippe Café, das sich als Vertreterin einer „third wave“ (Kaffee ist besonders lecker, vermutlich auch bio, über die Produktionsbedingungen erfahren wir natürlich nichts, eben so wenig wie über die Arbeitsbedingungen der dort Angestellten, normalen Filterkaffee gibt es natürlich auch nicht). Die progressiv-marktliberale Initiative “Westwind” präsentiert sich nur wenige Tage später am “Kiosk” am Neumarkt und noch mal wenige Tage darauf präsentieren Stadt und Initiative ihr Konzept für einen Kiosk an der Dammstraße Richtung Neckar, also kurz, ihren Plan, aus einer nicht vermarktbaren Grill- und Abhängkultur (an der die Subalternen mühelos teilnehmen können) kommerzielle und tendenziell exkludierende, weil kostende Kultur zu machen (Gratis-Klo und Wasserspender hin oder her). Die Stadtteilinitiativen blasen zur Demonstration, natürlich auch, ohne im Westen des Westens vielleicht mal in einer osteuropäischen Sprache zu mobilisieren: Den Fotos nach zu urteilen (ich war in Urlaub) war diese Demonstration eine ziemlich westeuropäische Sache. Laut Sprengler ist das alles keine “Gentrifizierung”, sondern eine Art “dritter Weg” zwischen Ghetto und Gentrifizierung, er spricht auch von Aufwertung.

Vielleicht hätte Markus Sprengler mal in irgendein x-beliebiges Buch zum Thema schauen sollen oder auch einfach nur eine Internet-Suchmaschine anwerfen: Gentrifizierung ist ja nun nichts anderes als Aufwertung. Vor Jahren bereits besuchte mich eine Soziologin und kommentierte, den Rollkoffer hinter sich in meine Neckarstädter Wohnung ziehend, “So wohnen also die Gentrifizierer”. “Pioniere” heißt das in der Stadtsoziologie, und auch wenn deren Ideen – dazu gehört das wildwest, das ewwe longt’s, das Café Rost etc. – noch nicht die Vermarktwirtschaftlichung einer bis dato alternativen Kultur anstreben, so ist dies trotzdem der erste Schritt der Gentrifizierung. Konkret: Wer das JUZ vor konservativen Kritiken schützt, muss noch lange kein Gentrifizierungsgegner sein. Im Gegenteil.

Wer glaubt, er könne einen Stadtteil aufwerten, und dann noch explizit, um damit auf eine vermeintlich “nachhaltige” und „alternative“ Weise Profit zu machen, wer vermutlich wirklich glaubt, das ließe sich für alle schön und gut im Konsens gestalten, ist ein ziemlich bewusster Gentrifizierer, der – wohl oder übel – Bewohner*innen des Stadtteils verdrängen muss. Konkret Markus Sprengler wird das nicht gerne hören, als Grüner plädiert er für Freiheit, Konsens, Diversität und Bioläden und hält das für eine bessere Lebensweise – dass diese klassen- und milieuspezifisch ist, dass es einen Unterschied gibt zwischen dem ideologischen Antirassismus des intellektuell-kulturellen Milieus und dem realen Antirassismus, den man in der multiethnisch zusammengesetzten Arbeiterklasse eher findet, kommt im grünen Paralleluniversum nicht vor. Im proletarischen Antirassismus der Straße sind der Sarotti-Mohr des Capitols und das Mohrenköpfle vermutlich völlig irrelevant, aber beide sind schöne Projekte für den progressiven Neoliberalismus (Nancy Fraser) der Café- und Bioladen-Linken.

Stadtteilzusammensetzung

Man verzeihe mir die Polemik der letzten Zeilen. Es ist nicht so, dass ich den Bobos (der bohemischen Bourgeoisie) ihren Antirassismus nicht abnehme – aber sie sind sich ihrer Klasse doch zu bewusst, um diesen konsequent anzuwenden. Ich erfahre das im Alltag immer wieder und möchte mich auch selber nicht davon freisprechen.

Es gibt einige Konsequenzen aus der Mélange dessen, was hier gerade passiert. Und das ist in erster Linie: Es gibt keine Grundlage für eine produktive Diskussion. Im Gegenteil: Die – grundsätzlich von den Gentrifizierern, man könnte auch sagen: von oben – kommenden Gesprächsangebote sind samt und sonders Vereinnahmungsversuche. Dass dann auf der Demonstration am 21. August auf einem Banner „Transparenz und Beteiligung“ gefordert wird, finde ich auch eher irritierend. Deutlich ist hier vor einer „Mitmachfalle“ (so der Soziologe Thomas Wagner)zu warnen. Solcherart Prozesse laufen immer gleich ab: Initiativen aus Politik und Wirtschaft (wie eben „Westwind“) setzen den Rahmen, in dem mitentschieden werden darf. Einfaches Beispiel: Die Umwidmung des Neumarkts vom Parkplatz zum Kulturplatz ist ausgemachte Sache, die Anwohner*innen dürfen dann mitentscheiden, in welcher von drei Varianten er angemalt wird – das ist die Vorgaukelei eines demokratischen Prozesses! Vor der Mitentscheidung steht der vermeintliche Sachzwang, unter dessen Vorgabe die Mitbestimmung begrenzt wird. Solcherart „neoliberaler Mitmachangebote“ (so der Organizing-Experte Robert Maruschke) sind darauf aus, bestimmte Klientels auszugrenzen – im vorliegenden Falle die vermeintlich „gewaltbereiten“ Gentrifizierungsgegner, denen auch schon mal ein Farbei aus der Hand rutscht und vor allem: das vermeintlich „kriminelle“ osteuropäische Milieu – oder aber in das neoliberale Gesamtprojekt zu vereinnahmen. LOS, Westwind und auch Quartiermanagements (ganz im allgemeinen) sind letztlich unter dem Deckmantel von Diversität und Multikulturalität agierende „trojanische Pferde“ des Neoliberalismus, die Mitmach- und Teilnahmeangebote dienen der Legitimierung einer festgeschriebenen Politik der Intensivierung von Gentrifizierung.

Das ist der tiefere Sinn des Geredes von „Kiez und Quartier“ und der Konstruktion eines klassenblinden „Wir“ in der Neckarstadt-West. Der liberale Ansatz tut so, „als könnten die Akteur*innen im Stadtteil jederzeit eine gemeinsame Basis finden, um die vorhandenen Probleme zu lösen“ (Maruschke). Robert Maruschkes Beschreibung der „falschen Freundschaften in einer neoliberalen Stadt“ lässt unverkennbar an Stadtrat Sprengler und die Initiative „Westwind“ denken: „Daher begeben sie sich in nachbarschaftliche Partnerschaften mit allen möglichen Gruppen, Initiativen und Vereinen und organisieren mit diesen gemeinsame Projekte. Doch wird in diesen Partnerschaften selten bis nie über die übergeordneten Entwicklungsziele […] geredet. […] [W]ährend Unternehmen in der Stadtpolitik […] jederzeit mitbestimmen sollen, haben die Bewohner*innen von Stadtteilen kein Mitbestimmungsrecht bei Entscheidungen der Unternehmen, die sie betreffen“. Also: Beteiligung und Mitmachen erst dann, wenn auch Thor/ Hildebrandt & Hees bereit sind, dass wir bei ihren Projekten intervenieren!

Abschließend zwei Gentrifizierungsbeispiele zum Vergleich: Ich arbeite im Frankfurter Bahnhofsviertel. Hier reiht sich neues Hotel an neues hippes Café an neues Wohnprojekt, die Gentrifizierung ist bereits gelaufen. Nichtsdestotrotz kann man hier keinen Schritt tun, ohne entweder Drogen oder bezahlten Sex angeboten zu bekommen. Die Neckarstadt-West ist im Vergleich dazu ein harmloses Pflaster. Soll heißen: Wenn die Gentrifizierung in der Neckarstadt-West Erfolg haben sollte, führt das nicht dazu, dass die informelle („kriminelle“) Ökonomie einfach nach Sandhofen oder Ludwigshafen umzieht. Im Gegenteil: Mangels Rückzugsorten und Wohnmöglichkeiten wird es einen Wildwuchs geben, der eher auf der Straße stattfindet. Wenn man das nicht möchte, hilft nur massive Überwachung und Polizeipräsenz, logische Begleiterscheinung von Gentrifizierungsprojekten.

Zweites, ganz anders gelagertes Beispiel: In St. Pauli, Hamburg, funktioniert der Widerstand gegen Gentrifizierung deutlich anders, weil hier tatsächlich von einem „Kiez“ gesprochen werden kann: Die verschiedenen Milieus – Prostitution, Queer-Szene, Fußball, Punk, Hafenkneipen – sind organisch zusammengewachsen, sie haben eine gemeinsame Tradition und ein gemeinsames Interesse. Die Neckarstadt-West ist im Vergleich dazu nicht organisch zusammengewachsen, sondern, wie Güner Balci ganz richtig festgestellt hat, ein Stadtteil mit Paralleluniversen. Was in St. Pauli offenbar einfacher funktioniert, ist in der Neckarstadt-West harte Arbeit. Wie man diese angehen könnte, darum soll es im zweiten Teil dieses Beitrags gehen.

Torsten Bewernitz
(kleine Zwischentitel sowie Bildauswahl und Bild-Unterschriften von der Redaktion)

*“Can the Subaltern speak?“ – „Kann die Subalterne sprechen?“ ist ein Schlüsseltext der Postkolonialismus-Studien von Gayatri Chakravorty Spivak aus dem Jahr 1988. Die „Subalternen“ – ursprünglich ein Begriff des italienischen marxistischen Philosophen Antonio Gramsci, der damit lediglich die Arbeiterklasse meinte – sind die gesellschaftlichen Gruppen, denen der Zugang zur Gesamtgesellschaft versperrt ist. Spivak argumentiert, dass diese im gesellschaftlichen Sinne nicht sprechen können, sondern ungehört bleiben. Sie kritisiert damit vor allem Texte, die vorgeben, für die Subalternen zu sprechen und doch nur die Stimme der jeweiligen Autor*innen sind – das schließt diesen Text mit ein.