Heidelberg – Sichere Hafenstadt / Protestcamp gestartet (mit Video und Fotogalerie)
Am 16.01.2021 startete das einwöchige Protestcamp auf dem Heidelberger Marktplatz. Das organisations-übergreifende Bündnis “Protestcamp Heidelberg” fordert u.a. die sofortige Evakuierung und Auflösung der Flüchtlingslager und -camps an den Außengrenzen der EU.
“Wir sind hier, weil nicht weiter weggeschaut werden darf. Das Leiden darf nicht totgeschwiegen werden! Wir wollen Aufmerksamkeit auf diese humanitäre Krise und das kolossale Versagen der EU-Politik lenken.”, so eine Aktivistin. “Die Politik auf allen Ebenen soll sich angesprochen fühlen, nun endlich zu handeln und die katastrophale Lage in den Camps beenden! Deshalb protestieren wir vor dem Rathaus, dem zentralen Ort, an dem Politik gemacht wird.”, war in einer vorab versandten Pressemitteilung zu lesen.
Beispiel Protestcamp in Landau
Als Blaupause diente den AktivistInnen in Heidelberg das mehrwöchige Protestcamp vor dem Rathaus im Sommer 2020 in Landau (Südpfalz). Dort hatten seinerzeit Aktive ebenfalls mit einem Protestcamp auf die menschenunwürdigen Umstände in Flüchtlingslagern an den EU-Außengrenzen aufmerksam gemacht. Landau gehört genauso wie Heidelberg zu den sogenannten Sicheren Hafenstädten. Hierbei handelt es sich bundesweit um 221 Städte, die sich freiwillig bereiterklärt haben, zusätzlich Geflüchtete aufzunehmen.
Am vergangenen Samstag nahmen an der Auftaktkundgebung in Heidelberg knapp 40 Personen unter strengen Corona-Regeln, die von Ordnungsamt und Polizei kontrolliert wurden, teil.
Situationsbeschreibung und Forderungen, die das Bündnis „Protestcamp Heidelberg“ stellt
„Die Lage an den EU-Außengrenzen ist eine schwere Katastrophe.
Illegale, brutale und gefährliche Push-backs zu Wasser und Lande werden von
Handlangern der EU verwendet, um flüchtende Menschen daran zu hindern, die Grenze zu erreichen, sodass sie keinen Antrag auf Asyl stellen können. Diese perverse Taktik dient dazu, das grundlegende Recht auf Asyl auszuhebeln, und es ist zig-fach dokumentiert, wie Menschen bei Push-backs ermordet werden.
Menschen, die es dennoch schaffen, EU-Boden zu erreichen, erwartet das nächste
grauenhafte Erlebnis /Grauen: Sie werden monate-, jahrelang in Camps gefangen
gehalten, ohne die realistische Möglichkeit von Kontakt zur Außenwelt, ohne etwas tun zu können, um ihre Lage zu ändern. Hinzu kommen die schlichtweg menschenverachtenden Verhältnisse in diesen Camps.
Moria ist vielleicht das bekannteste in einer ganzen Reihe von schockierenden Beispielen für die absolut widerwärtige Behandlung von Menschen, die vollkommen rechtmäßig versuchen einen Antrag auf Asyl zu stellen. Nachdem das Lager Moria abgebrannt war, wurden nicht etwa die obdachlosen Menschen auf das Festland transportiert und von anderen europäischen Ländern aufgenommen, sondern es wurde in aller Eile ein neues Lager aufgestellt – Kara Tepe, in denen die Lebensbedingungen noch widriger schlimmer sind als zuvor in Moria. Auf jeden Fall sollte der Standort an der EU-Außengrenze auf einer Insel, abgeschnitten vom europäischen Festland beibehalten werden.
Wie viele andere Camps ist es so überfüllt, dass es fast an allem mangelt. Das Essen ist grundsätzlich nicht ausreichend, und häufig verdorben. Auch gibt es zu wenige Klos und Duschen, und auch jetzt im Winter ausschließlich kaltes Wasser.
Wenn es regnet, überfließen diese Klos, und ganze Teile des Camps werden mit Fäkalien überflutet. Ärzte behandeln mit Regelmäßigkeit Kinder, die nachts in feuchten und kalten Zelten von Ratten gebissen werden.
Viele Menschen schlafen auf feuchten und schimmeligen Pappkartons.
Die häufig dokumentierten Fälle von Selbstverletzung oder Suizidversuchen zeugen davon, dass diese Camps absolut inakzeptabel sind, um menschliche Leben zu beherbergen.
Die Verbrecher in Brüssel in der EU-Kommission, und in den Regierungen, sowie dem Griechischen Militär, schieben sich gegenseitig die Schuld für diese unhaltbaren Missstände zu, oder lassen vage, leere Versprechungen verlauten, dass Dinge getan würden, die Lage zu verbessern. Dass es sich dabei um nicht viel mehr als einen zynischen Witz handelt, müsste nach jahrelang unveränderter Situation für beinahe alle offensichtlich sein.
Wir sind hier, weil die EU-Politik Menschenrechte nicht nur verletzt, sondern mit Füßen tritt. Man kann nicht von einem politischen Versagen sprechen, sondern: Moria, Kara Tepe und alle anderen Geflüchtetenlager sind politisch gewollt. Sie dienen der Abschreckung, niemand soll glauben, Europa halte für die Geflüchteten Menschen ein Minimum an Humanität und Rechtsstaatlichkeit bereit.
Als Zivilbevölkerung eines Landes im globalen Norden, das die Fluchtursachen maßgeblich mit hervorruft, tragen wir die Verantwortung, nicht wegzusehen und Aufmerksamkeit auf die grausame Realität an den EU-Grenzen zu lenken.
Im Blick auf die globale Lage lässt sich sagen, es waren noch nie so viele Menschen auf der Flucht wie heute. Menschen fliehen aufgrund von Krieg, Gewalt, Verfolgung, Hunger und Naturkatastrophen. Fast 80 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht. Das entspricht einem Prozent der gesamten Weltbevölkerung. 30 bis 34 Millionen davon sind Kinder. Zwei Drittel dieser 80 Millionen Menschen flüchten aus nur 5 Ländern: Syrien, Venezuela, Afghanistan, Südsudan, Myanmar.
Aber 85 % dieser Menschen finden Aufnahme in Ländern im globalen Süden, meist in den Nachbarländern, in Ländern mit niedrigem oder mittlerem Lebensstandard, sprich mit großer und größter Armut. Nur ein geringer Anteil der Geflüchteten kommt nach Europa. Für die Fluchtursachen ist die Wirtschafts- und Außenpolitik der Länder im globalen Norden, darunter auch die der EU und besonders Deutschlands mitverantwortlich. Dies geschieht zum Beispiel durch Waffenexporte, durch zerstörerische Ausbeutung der afrikanischen Ressourcen (Beispiel Heidelberg Zement) und andere Formen von Neokolonialismus, die Destabilisierung der Lage im Nahen Osten, und die schnell wachsenden Auswirkungen der Klimakatastrophe. Nur dadurch können schließlich die Konsummöglichkeiten, der hiesige Lebensstandard und das deutsche Wirtschaften überhaupt aufrechterhalten werden.
Von 2010 bis 2019 hat sich die Anzahl der fliehenden Menschen dadurch fast verdoppelt. Um die Menschen abzuhalten, über die östliche und zentrale Mittelmeerroute die EU zu erreichen, wurden Abkommen mit Libyen, der libyschen Küstenwache, mit zahlreichen afrikanischen Staaten und der Türkei getroffen. 2004 wurde Frontex: “Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache” gegründet. Seitdem häufen sich Berichte über militärische, gewaltvolle Einsätze, ausgehend von Frontex. Vielfach wird versprochen, den Vorwürfen nachzugehen, doch nichts passiert. Nach wie vor ist Frontex im Einsatz und bedroht Leben.
Grenz- und Küstenwache bedeutet also in der Praxis, Menschen durch Push-backs gewaltvoll zu hindern, die EU zu erreichen, damit den Tod und das Leid der Menschen in Kauf zu nehmen, und das Asylrecht auszuhebeln.
EU-Außenpolitik bedeutet in der Praxis, Menschen unter widrigsten Bedingungen leiden zu lassen und grundlegendste Menschenrechte konsequent zu ignorieren.
Darüber darf nicht mehr geschwiegen werden, darüber müssen wir sprechen, damit müssen wir uns auseinandersetzen. Die Gesellschaft, die Politik muss endlich angemessen reagieren!
Wir fordern die sofortige Evakuierung und Auflösung der Lager und Camps an den Außengrenzen der EU. Wir fordern, dass statt leeren Worten nun auch endlich Taten zum Beispiel in Form von umfangreichen Aufnahmeprogrammen folgen. Die EU-Politik muss Menschenrechte achten und Fluchtursachen, für die auch das derzeitige Wirtschaften verantwortlich ist, systematisch bekämpfen und verhindern.“
KIM-Video mit Interview
Jurastudentin berichtete über ihre Erfahrungen in Moria
Eine Aktivistin, die in Heidelberg Rechtswissenschaften studiert, berichtete in Interviewform, über Erfahrungen, die sie im Jahr 2020 als ehrenamtliche Flüchtlingshelferin im griechischen Camp Moria sammeln konnte. Dort half sie unter anderem Geflüchteten beim Stellen von Asylanträgen. Dies hatte sie schon vorher in Heidelberg getan.
Nach den Plänen der AktivistInnen soll das Protestcamp in einigen Monaten wiederholt werden.
Das Protestcamp auf dem Marktplatz ist noch bis Freitag 22.01., täglich von 7-19 Uhr, besetzt. Die AktivistInnen stehen den BürgerInnen und weiteren Interessierten für Gespräche zur Verfügung.
(Video: cki / Bericht mit Material des Protestcamp Heidelberg und Fotos: cr)