Protestcamp und Demo der Seebrücke: „Man kann sich die Situation dort gar nicht vorstellen“ [mit Bildergalerie und Video]
„Menschenlichkeit wählen. Baden-Württemberg muss sicherer Hafen werden!“ Vor der Landtagswahl setzten die baden-württembergischen Ortsgruppen der Initiative Seebrücke noch einmal die Themen Flucht und Aufnahme geflüchteter Menschen auf die Tagesordnung. Mit landesweiten Aktionstagen um den 6. März beteiligten sich mehrere Städte, darunter Mannheim, mit Protestcamps, hier im Ehrenhof vor dem Schloss.
„Evacuate now!“ – Die menschenunwürdigen Zustände beenden
„Stoppt das Sterben im Mittelmeer“ und „Evacuate now“ war schon von weitem an den Zäunen um den Schlosshof zu lesen. Die Seebrücke hatte mit Bannern auf ihr Protestcamp hingewiesen. „Wir wollen mit dieser Symbolik auf die Situation an den europäischen Außengrenzen aufmerksam machen“, begründete Vanessa, eine der Sprecher*innen der Mannheimer Gruppe, die Organisation des Protestcamps. Nach wie vor müssten tausende Menschen unter katastrophalen Bedingungen in den provisorischen Camps ausharren, ohne jegliche Perspektive, wie es weiter geht.
In Zelten sind die Menschen eisigen Temperaturen und starken Regenfällen ausgesetzt. Die Versorgung mit Strom, Essen und Hygieneprodukten ist miserabel. Es kommt in den Camps du Krankheiten und Todesfällen, auch Suizide sind bekannt.
Mapping, Lichtermeer, Workshops, Demo und mehr
Am Wochenende waren auch in Mannheim die Temperaturen in der Nacht nur knapp über Null Grad. „Man bekommt es ein bisschen vor Augen geführt, wie es ist, wenn man jahrelang im Zelt leben muss“ berichtet Vanessa von ihrer Nacht im Protestcamp. Doch gleich darauf relativiert sie ihre Aussage wieder:
„Man kann sich eigentlich gar nicht in die Lage der Menschen versetzten, die in den Lagern leben müssen.“
(Vanessa, Seebrücke Mannheim)
Etwa 15 Menschen waren es, die im Schatten des Mannheimer Schlosses über Nacht die Stellung hielten. Tagsüber kamen zu den verschiedenen Programmpunkten deutlich mehr. „Am Donnerstag wurden unseren Forderungen an die Schlosswand gemappt“ berichtet Vanessa von einer Videoaktion am ersten Tag. Freitags hatte die Interventionistische Linke (iL) einen Awareness-Workshop organisiert und Transparente wurden für die Demo gemalt. Abends entstand im Schlosshof ein Lichtermeer. Die ganze Zeit gab es Ausstellungen, Infos, Broschüren und natürlich viele Gespräche mit Passant*innen, die sich über die Zelte in barockem Ambiente wunderten.
Das Programm für Samstag sah vor, mit einer Demo zum Paradeplatz die Kritik auch in die Stadt hinein zu tragen. Rund 300 Menschen versammelten rund um das Camp und hörten ersten Redebeiträgen zu. Gegen halb drei machte sich die Demo mit lauten Parolen und zahlreichen Schildern und Transparenten auf den Weg in die Quadrate. Auf dem sehr belebten Paradeplatz fand eine weitere Kundgebung statt.
Den „Verbrechern in der EU Kommission“ das Handwerk legen
In den Redebeiträgen wurde über die Situation der Betroffenen berichtet. Es gab Berichte aus den Lagern. Über Kinder, die schlafwandeln und nachts ins Meer laufen und deren Eltern, die ihr Kind deshalb in der Nacht an sich fest binden. Über vergiftete Böden und Fäkalien in den Camps und wie ein Kind beim Spielen eine alte Handgranate findet. Über Rattenbisse und Krätze, die sich unter den Menschen verbreitet.
„Wir werden nicht aufhören, bis endlich die Evakuierung der Lager stattgefunden hat“ sagte eine Rednerin am Paradeplatz. „Wir fordern einen Stopp der gewaltsamen, illegalen Pushbacks.“ Damit sind Aktionen der europäischen Grenzschutzagentur Frontex gemeint, die beispielsweise kleine Flüchtlingsboote mit großen Schiffen bedrängen, anstatt den Menschen zu helfen.
„Wir fordern dezentrale, menschenwürdige Unterbringung und eine Bleibeperspektive für die Menschen.“
Helen, Rednerin bei der Demo
Doch die Kritik kam auch näher. In weiteren Beiträgen wurde über gewaltsame Abschiebungen berichtet, auch aus Baden-Württemberg. Der Beitrag der Interventionistischen Linke bei der Abschlusskundgebung schlug die Brücke zur Landtagswahl. Es seien Grüne und CDU, die für das rassistische Handeln der Behörden, hier bei uns, für die gewaltsame Behandlung der Geflüchteten verantwortlich seien.
„Auch wenn die Zahl der Abschiebungen im letzten Jahr wegen Corona sank, sind 1362 Abschiebungen immer noch 1362 Abschiebungen zu viel. Ganz egal, ob Minderjährige aus Jugendhilfeeinrichtungen heraus abgeschoben werden, oder ein Renter*innen-Ehepaar mit nicht unerheblichen Vorerkrankungen und einer großen Familie hier in Baden Württemberg nach 29 Jahren Aufenthalt das Land verlassen muss – jede Abschiebung ist Zeichen einer rassistischen Politik und Gesellschaft.“
(iL Rhein-Neckar)
Noch nicht einmal Gerichtsurteile könnten die Abschiebepolitik der baden-württembergischen Landesregierung stoppen. Trotz eines Urteils des VGH vom 3. Februar, das Abschiebungen nach Afghanistan nur unter besonderen Voraussetzungen erlaubt, fand nur sechs Tage später eine Sammelabschiebung statt. Immer wieder gebe es Berichte von brutaler Polizeigewalt und rechtswidrigen Praktiken in den Sammelunterkünften.
Abends stand im Camp auf dem Programm: Audiobeiträge. Den Betroffenen zuhören. Wegen der Corona-Pandemie gab es für das Camp zahlreiche Hygieneauflagen. Dixie-Klos mussten organisiert und finanziert werden. Eine gemeinsame Küche gab es nicht. Stattdessen: Selbstversorgung. „Es kamen viele Menschen vorbei und haben uns Essen gebracht“ freute sich Vanessa über die Unterstützung von außen.
Videobeitrag bei Youtube: https://youtu.be/matITI3Bxr8
Wahlprüfsteine zur Landtagswahl am 14. März
Von Seiten der EU ist zur Zeit wenig zu erwarten. Europäische Verhandlungen sind festgefahren, die Camps an den Außengrenzen haben sich „etabliert“ und werden von einem großen Teil der politisch Verantwortlichen offenbar genau so gewollt – als abschreckendes Beispiel und Signal in die Welt „Kommt bloß nicht nach Europa, sonst ergeht es euch wie denen da“.
Daher hat sich die Seebrücke nun auf die Landtagswahl fokussiert und setzt die immerhin ansprechbaren, politischen Akteure in Baden-Württemberg unter Druck. Ein weiterer Baustein der Strategie sind die Wahlprüfsteine, die parallel veröffentlicht werden und die Positionen der Kandidat*innen und Parteien zum Thema Flucht und Aufnahme Geflüchteter Menschen beschreiben.
Die Ergebnisse der Wahlprüfsteine haben wir hier veröffentlicht: Wahlprüfsteine der Seebrücke – Was sagen die Parteien zum Thema Flucht und Aufnahme Geflüchteter?
Im Fall der Grünen können Anspruch und Realität direkt verglichen werden. Von der CDU kam erst gar keine Antwort. (Die CDU hat vermutlich gerade andere Probleme.) Der Ausgang der Landtagswahlen wird zumindest für die Lebens- und Unterbringungssituation sowie die Integration der in BaWü lebenden Geflüchteten und auch für die drohende Gefahr von Abschiebungen, konkrete Auswirkungen haben. Nach aktuellen Umfragen sieht es allerdings nach einem „weiter so“ aus – und das ist nicht gut. (cki)
Bildergalerie: Demo zum Aktionstag „Menschlichkeit wählen. Baden-Württemberg muss sicherer Hafen werden!“