50 Jahre Berufsverbot: Kapitel immer noch offen
50 Jahre »Radikalenerlass«
Betroffene kämpfen für Rehabilitierung, Entschädigung und gegen neue »Radikalen«-Gesetze
Am 28. Januar 2022 jährte sich der »Radikalenerlass« zum 50. Mal. Ein Jahr zuvor haben Initiativen der von Berufsverbot Betroffenen in Baden-Württemberg, Niedersachsen, Bremen, Hamburg, Hessen, NRW, Berlin und Bayern eine Kampagne eingeleitet. Über 80 bekannte Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Politik, Kultur und die Vorsitzenden von DGB, GEW, ver.di und IG Metall haben Ende Januar 2021 als Erstunterzeichner:innen einen Aufruf unterschrieben: generelle und bundesweite Aufhebung des Erlasses, vollständige Rehabilitierung und Entschädigung der Betroffenen sowie wissenschaftliche Aufarbeitung der Folgen der Berufsverbote.
Hatten Aktivitäten zum 40. und 45. Jahrestag wenig Beachtung gefunden, war dies anlässlich des 50. »Jubiläums« des Ministerpräsidenten-Beschlusses der Länder unter Vorsitz des damaligen Kanzlers Willy Brandt anders. Auf der Internetseite der Initiativen sind von Oktober bis März mehr als 70 (meist Online-) Veranstaltungen, Ausstellungen, Radio- und Fernsehberichte und über 90 Presseartikel verlinkt: von der ARD-Doku »Jagd auf Verfassungsfeinde« über Berichte in der Süddeutschen Zeitung, Frankfurter Rundschau oder im Spiegel bis zu Aufarbeitungen in allen linksgerichteten Publikationen. Auch Dutzende kleinerer Zeitungen wie Cuxhavener Nachrichten, Harz Kurier, Beueler Extradienst oder seemoz (Bodensee-Magazin) haben ausführlich über den Erlass und die Betroffenen berichtet, zum Teil ganz- bis mehrseitig. Kundgebungen gab es auf Grund der Pandemiebedingungen nur in Heidelberg und Erlangen, mit jeweils rund 100 Teilnehmenden.
Im Zuge des Erlasses von 1972 wurden in den 1970er und 1980er Jahren 3,5 Millionen Bewerber:innen für den Öffentlichen Dienst auf ihre Gesinnung überprüft. Der sich »Verfassungsschutz« nennende Inlandsgeheimdienst hatte die Deutungshoheit, wer als »Verfassungsfeind«, »Radikaler« oder »Extremist« galt. Nach den bekannten, offiziellen Zahlen gab es bundesweit rund 11.000 Berufsverbots- und etwa 2.200 Disziplinarverfahren sowie 1.256 Ablehnungen von Verbeamtungen und 265 Entlassungen auf Lebenszeit Verbeamteter. Überwiegend traf es Lehrer:innen (rund 70 Prozent), aber auch Briefträger, Lokomotivführer u.a. Betroffen waren Kommunist:innen, Mitglieder der VVN-BdA und anderer linker bis SPD-naher Organisationen und Gewerkschaften. In Bayern traf es auch Sozialdemokrat:innen und in der Friedensbewegung Engagierte.
1973 protestierten 20.000 Teilnehmer:innen in Dortmund bei einer bundesweiten Demonstration gegen den Radikalenerlass. Auch in den Ländern wurde massenhaft demonstriert, wie in Berlin oder 1976 in Stuttgart mit 6.000 Teilnehmenden. Komitees gegen Berufsverbote gab es in fast allen Universitäts- und größeren Städten. Wenn Betroffene gegen Nichteinstellungen oder Entlassungen vor Gericht gingen, wurden die Klagen in sieben von zehn Fällen abgelehnt. Eine aus dem Ruder laufende Generation, die Studierendenbewegung und außerparlamentarische Opposition (APO), die in der Tendenz im Kapitalismus nicht das Ende der Geschichte sehen wollte, bekam von den Herrschenden gezeigt, in welchem Rahmen sich oppositionelle Politik zu bewegen hat.
Knapp zwei Jahrzehnte später, nach dem Anschluss der ehemaligen DDR an die BRD, erhielten ab 1990 ein Viertel aller Lehrer:innen und über die Hälfte der Wissenschaftler:innen und Hochschullehrer:innen die Kündigung, meist ohne Begründung. Von den über zwei Millionen Beschäftigten im öffentlichen Dienst der DDR verlor nahezu die Hälfte den Arbeitsplatz, war nach der »Abwicklung« oft jahrelang paralysiert. Erst in letzter Zeit haben Betroffene mit der Aufarbeitung dieses zahlenmäßig noch viel größeren, »vergessenen« Kapitels begonnen.
In Baden-Württemberg wird für die 1970er Jahre von 300 bis 400 Berufsverboten ausgegangen. Viele sind darin aber nicht erfasst, wenn etwa Einstellungen erst Jahre später oder nach langen gerichtlichen Verfahren erfolgt sind. In der Rhein-Neckar-Region haben Betroffene allein 168 Fälle dokumentiert (davon 105 namentlich), was die hohe Dunkelziffer belegt. Rund zwei Drittel der um Heidelberg und Mannheim von lebenslangem oder zeitweisem Berufsverbot Betroffenen waren Lehrer:innen. 15 Prozent kamen aus dem Justiz-, jeweils sechs Prozent aus dem Klinik- sowie dem Sozial- und Erziehungsbereich. Bei angehenden Rechtsanwält:innen aus dem Umfeld des damaligen Sozialistischen Büros (SB), des KBW oder der DKP wurde auf Grund politischer Aktivitäten vor allem die erforderliche Referendarausbildung verschleppt. Linke Lehrer:innen verzichteten in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre oft auf Bewerbungen, weil sie diese für aussichtslos hielten.
Als Begründung der Ablehnungen wurden überwiegend Kandidaturen für kommunistische und andere linke Organisationen genannt, vor allem bei Hochschulwahlen. Auch Teilnahme an Demonstrationen gegen Kriege oder Fahrpreiserhöhungen dienten als Grund. Im Fall des Autors reichte 1975 die Unterschrift unter eine Erklärung an der Pädagogischen Hochschule (PH) Heidelberg gegen den sogenannten Schiess-Erlass (baden-württembergische Variante des Radikalenerlasses; nach dem damaligen Landesinnenminister Karl Schiess, Anm. d. Red.), in der dieser als »Erpressung« bezeichnet wurde. Von dort wurden allein rund 50 Lehrer:innen nicht in den Schuldienst übernommen. Zwei von ihnen haben danach Medizin studiert und als Ärzte gearbeitet, vier sind Metaller geworden, die in den Betrieben auch in die Betriebsräte gewählt wurden. Dem bundesweiten Zahlenverhältnis vergleichbar stehen den 168 Berufsverboten für Linke im Rhein-Neckar-Raum nur zwei Disziplinarverfahren gegen extrem Rechte bzw. Nazis gegenüber (1,2 Prozent).
Braune Wurzeln im Beamtenrecht
Die Grundlagen der Berufsverbote liegen im deutschen Beamtenrecht. Danach darf im Staatsdienst nur beschäftigt werden, wer die sog. »Gewährbieteklausel« erfüllt, »jederzeit für die freiheitlich demokratische Grundordnung einzutreten« – wobei die Beweislast bei den Beschäftigten liegt. Die Formulierung ist fast wörtlich aus dem »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« vom 7.April 1933 übernommen. Bei den Nazis hieß es, Staatsdiener müssen »die Gewähr bieten, jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat einzutreten«. International ist die Rolle der Beamt:innen im deutschen Staat, ohne Streikrecht und mit eingeschränkter Meinungs- und Organisationsfreiheit, ziemlich einzigartig. Nicht umsonst haben »le berufsverbot« und »the berufsverbot« als Fremdworte Eingang in französische und englische Wörterbücher gefunden.
Überwiegend wurden Ablehnungen mit ausführlichen Zitaten aus einem Grundsatzbeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 22. Mai 1975 begründet, auch beim Autor. Maßgeblich wurde der Beschluss von Dr. Willi Geiger verfasst (NSDAP-Mitglied, SA- »Rottenführer« und als Ankläger verantwortlich für fünf Todesurteile). Er legte fest: »Die politische Treuepflicht erfordert mehr als nur eine formal korrekte, im Übrigen uninteressierte, kühle, innerlich distanzierte Haltung gegenüber Staat und Verfassung.«
Verstoß gegen ILO-Übereinkommen Nr. 111
Bei der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) mit Sitz in Genf gingen nach Inkrafttreten des Radikalenerlasses ab 1975 Hinweise auf Diskriminierungen im Öffentlichen Dienst der BRD ein. Anhand von 70 als Beweismittel übermittelten Einzelfällen richtete die ILO 1985 einen »Untersuchungsausschuss zum Ausschluss politisch ›Radikaler‹ aus dem Öffentlichen Dienst« ein. Geprüft wurde, ob die Praxis mit den Bestimmungen des von der BRD 1961 ratifizierten »Übereinkommens Nr. 111 über die Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf« in Einklang stand.
Der frühere ILO-Koordinator für Menschenrechtsfragen Klaus Samson hat zum Untersuchungsausschuss einen 22-seitigen Bericht verfasst (veröffentlicht 2004). Zusammengefasst heißt es darin: »Obwohl der Begriff ›Verfassungsfeindlichkeit‹ weder im Grundgesetz noch in sonstigen Gesetzen vorkommt, (…) diente er als Grundlage für die Einschränkung von Grundrechten (…) wie Meinungs- und Vereinigungsfreiheit (…) Der Ausschuss kam zu dem Ergebnis, dass die getroffenen Maßnahmen zur Gewährleistung der Treue zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung in mehrfacher Hinsicht nicht im Rahmen (…) des Übereinkommens Nr. 111« erfolgt sind. Infolgedessen habe »eine erhebliche Anzahl beamteter Personen durch Verlust des Arbeitsplatzes (und) verweigerte Einstellung (…) Nachteile erlitten«. Die BRD wurde vom Ausschuss aufgefordert, »die Einhaltung des Übereinkommens Nr. 111 zu gewährleisten«.
Die Bundesregierung schrieb der ILO 1987, sie sei mit dem Ergebnis nicht einverstanden, brachte aber gleichzeitig zum Ausdruck, sie beabsichtige nicht, die Angelegenheit dem Internationalen Gerichtshof vorzulegen. Da keine Beschwerde eingereicht wurde, haben die »Schlussfolgerungen und Empfehlungen des Untersuchungsausschusses« gemäß ILO-Richtlinien und Bundesgesetzblatt II (Völkerrecht) eindeutig »rechtlich bindenden Charakter«.
Seit 2012 Beschlüsse von vier Landesparlamenten
Der Bremer Senat hat 2012 einstimmig beschlossen, den »Radikalenerlass« vollständig aufzuheben und die Betroffenen zu rehabilitieren. 2016 sprach der Landtag von Niedersachsen eine »Entschuldigung und ausdrückliches Bedauern« aus. Zur »Aufarbeitung der Schicksale im Zusammenhang mit dem Radikalenerlass« wurde eine Kommission eingerichtet, die ein Jahr später einen Bericht vorgelegt hat. Auch die Hamburger Bürgerschaft brachte 2018 ihr »ausdrückliches Bedauern« zum Ausdruck und sprach »den aus heutiger Sicht zu Unrecht Betroffenen ihren Respekt und ihre Anerkennung« aus. »Bedauern« ausgesprochen hat im September 2021 auch das Abgeordnetenhauses Berlin und erklärt: »Die auf der Grundlage des Radikalenerlasses erteilten Berufsverbote und deren Folgen sollen für die Betroffenen wissenschaftlich aufgearbeitet werden.«
In den Landtag von NRW ist seit November 2021 ein Antrag von Grünen und SPD eingebracht: Der Landtag solle bedauern, »dass diese Praxis bei den zu Unrecht Betroffenen zu Leid und persönlichen Nachteilen geführt hat. Er beauftragt die Landesregierung, innerhalb eines Jahres Vorschläge für eine eventuelle rechtliche Rehabilitierung und eine eventuelle finanzielle Entschädigung der Betroffenen zu unterbreiten.«
In Baden-Württemberg hat 2015 ein »Runder Tisch« von Landtagsabgeordneten und Betroffenen getagt. Ein fertig formulierter Antrag wurde aber auf Betreiben von Ministerpräsident Kretschmann (als ehemaliger KBW´ler zeitweise selbst von Berufsverbot betroffen) im Landtag nicht eingebracht. Seit 2018 läuft an der Uni Heidelberg mit Unterstützung des Wissenschaftsministeriums ein Forschungsprojekt zur Aufarbeitung des »Radikalenerlasses«. Ergebnisse sollen Ende Mai in Buchform auf 640 Seiten veröffentlicht werden. In Hessen sind 2017 und im Februar 2022 entsprechende Entschließungsanträge der Linken und der SPD von der CDU/Grünen-Mehrheit abgelehnt worden.
Neue »Radikalen«-Gesetze in Arbeit
Während die Berufsverbots-Betroffenen der 1970er und 1980er Jahre bis heute um Rehabilitierung und Entschädigung kämpfen, hat die »Ampel«-Regierung im Koalitionsvertrag von Dezember in bester »Extremismustheorie«-Manier angekündigt: »Um die Integrität des Öffentlichen Dienstes sicherzustellen, werden wir dafür sorgen, dass Verfassungsfeinde schneller als bisher aus dem Dienst entfernt werden können. (…) Wir treten allen verfassungsfeindlichen, gewaltbereiten Bestrebungen entschieden entgegen – ob Rechtsextremismus, Islamismus, Verschwörungsideologen, Linksextremismus oder jeder anderen Form des Extremismus.« Die Landesregierungen in Berlin (SPD/Grüne/Linke) und Mecklenburg-Vorpommern (SPD/Linke) haben in ihren Koalitionsverträgen nachgezogen (siehe express
2-3/2022, S. 16f.).
In Brandenburg (SPD/CDU/Grüne-Regierung) liegt bereits ein Entwurf eines Gesetzes für den gesamten Öffentlichen Dienst vor (statt »nur« ein Erlass), inklusive Regelanfrage beim »Verfassungsschutz«. Noch im ersten Halbjahr soll er verabschiedet werden. Alle Vorhaben sollen selbstverständlich unter dem Vorwand »gegen rechts« erfolgen – wobei völlig klar ist, dass für den für die Überprüfung zuständigen Inlandsgeheimdienst der Feind links steht. Die bundesweiten Initiativen fordern daher neben Aufhebung des Erlasses, Rehabilitierung, Entschädigung und Aufarbeitung, dass auch die Pläne für neue »Radikalen«-Gesetze wieder vom Tisch müssen. Wenn man ernsthaft gegen rechte Netzwerke im Öffentlichen Dienst vorgehen wolle, sei dies mit konsequenter Anwendung von Disziplinarrecht, Strafgesetzen und Grundgesetz möglich. Was den sog. »Verfassungsschutz« angehe, sei die Forderung demokratischer Jurist:innen nach dessen Auflösung das einzig Richtige.
Anfrage im Bundestag – Antwort der Regierung
Die Fraktion Die Linke hat im Bundestag im Januar eine Anfrage zum »Radikalenerlass« gestellt. Die Antwort der Bundesregierung vom 22. Januar 2022 ist an Hohn und Zynismus kaum zu überbieten: Sie habe bereits 2017 darauf verwiesen, dass der Ministerpräsidentenbeschluss durch den grundlegenden Beschluss des Bundesverfassungsgerichts von 1975 »überholt« sei. (Deutscher Bundestag, Drucksache 20/453) Statistische Betroffenen-Zahlen lägen der Regierung nicht vor. Ermittlungen seien »aufgrund der Vielzahl der Akten und der Notwendigkeit, diese einzeln zu sichten, nicht zumutbar«. »Schon aufgrund datenschutz-, personalakten- und archivrechtlicher Vernichtungs- und Löschungssfristen« sei dies nicht möglich. Die »Verfahrenspraxis im Bereich der Länder und Kommunen« liege »außerhalb des Verantwortungsbereichs des Bundes«. Und: »Eine eigene wissenschaftliche und historische Untersuchung des Beschlusses von 1972 ist nicht Bestandteil des Koalitionsvertrags.« Weitere politische Schritte zur politischen und gesellschaftlichen Rehabilitierung der Betroffenen plane die Regierung nicht. Sie habe schon 2017 auf die »Möglichkeit der Betroffenen zur Geltendmachung von Amtshaftungsansprüchen gegenüber der zuständigen Körperschaft« verwiesen. Zu ihrer Ankündigung, »Verfassungsfeinde schneller aus dem Öffentlichen Dienst zu entfernen«, behauptet die »Ampel« abschließend: »Die Frage konstruiert einen weder bestehenden noch beabsichtigten Zusammenhang aktueller politischer Vorhaben mit dem gegenstandlosen Beschluss von 1972.« (Bundestag, Drucksache 20/453)
Unterstützung durch Gewerkschaften
Die Gewerkschaften hatten in den 1970er Jahren Berufsverbote durch Unvereinbarkeitsbeschlüsse noch befeuert (vgl. die Rubrik revisited in dieser Ausgabe). Jahrzehnte später haben sie sich dafür wenigstens entschuldigt und wieder aufgenommene Mitglieder rückwirkend und zukünftig beitragsfrei gestellt. Seit 2012 unterstützen DGB, GEW, ver.di und IG Metall die Berufsverbot-Betroffenen solidarisch und durch Gewerkschaftstagsbeschlüsse.
Während Entschuldigung, Aufarbeitung und teilweise »Rehabilitierungs«-Ankündigung in den oben genannten vier Parlaments-Beschlüssen enthalten sind, gilt dies für Entschädigungen nicht. Nur in Bremen gab es Einzelfälle, bei denen geminderte Renten durch Anhebung von Rentenpunkten erhöht wurden. Darüber hinaus bekamen nur zwei Betroffene Schadensersatz, Dorothea Vogt aus Hannover (1995 nach einem Grundsatzurteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Strasbourg) und Michael Csaszkóczy (Heidelberg). Letzterer war in einer Art »Nachzügler«-Fall« auf Grund seines antifaschistischen Engagements ab 2004 vier Jahre mit Berufsverbot belegt. Der Verwaltungsgerichtshof Mannheim hob die Nichteinstellung des Lehrers rechtskräftig als grundrechtswidrig und Verstoß gegen die Meinungs- und Vereinigungsfreiheit auf.
Der DGB hat in Niedersachsen 2014 im Rahmen der dortigen Anhörungen im Landtag zur Frage der Entschädigung folgende Forderungen erhoben: Prüfung von Renten-Nachversicherungsmöglichkeiten, finanzieller Ausgleich für Rentner:innen mit unwiderruflichem Bescheid durch einen vom Land finanzierten Fonds und Einrichtung eines Beirats aus Betroffenen, Land und Gewerkschaften. In Baden-Württemberg hat die Initiativgruppe im Rahmen des erwähnten »Runden Tisches« den Landtagsabgeordneten 27 Fälle von Altersarmut infolge des Berufsverbots übergeben. Zum Teil liegen Renten unter 600 Euro, was gegenüber der sogenannten Standardrente einen Rentenverlust von insgesamt rund 150.000 Euro bedeutet.
Die DGB-Landesbezirkskonferenz hat am 29. Januar 2022 in Stuttgart die Forderungen nach Rehabilitierung und Entschädigung bekräftigt. In dem Beschluss sprechen sich die Delegierten auch für ein »demokratie-orientiertes Berufsbeamtentum« aus: »Der DGB setzt sich (…) für eine demokratische Grundhaltung der Beamtinnen und Beamten ein. Rechtsextremistisches und faschistisches Gedankengut sind nicht mit den Grundwerten des öffentlichen Dienstes und des Berufsbeamtentums vereinbar. Um jegliche Unterwanderung (…) aus diesen Kreisen zu verhindern, braucht es transparente Verfahren.« Falsche Gleichsetzungen von Rechtsextremismus und fortschrittlichen, linken Menschen und Bewegungen werden im Gegensatz zum Parteien-Mainstream nicht vorgenommen.
Aktivitäten gehen weiter
Geplante zentrale Veranstaltungen in Berlin mussten Ende Januar auf Grund der Pandemie verlegt werden. Eine Aktionskonferenz mit Podiumsdiskussion, Termine mit Abgeordneten, Übergabe von Unterschriften und Ausstellungen sind nun in der Woche ab dem 17. Mai 2022 geplant. Die GEW Berlin hat nach dem Beschluss des Abgeordnetenhauses erklärt, sie werde weiter darauf dringen, dass es zur vollständigen Rehabilitierung und einer Entschädigung im Einzelfall gegenüber den Betroffenen komme. Das unrühmliche Jubiläumsjahr 2022 solle verstärkt genutzt werden, um »im Bündnis mit anderen demokratischen Kräften gegen Demokratieabbau, Überwachung und Bespitzelung zu agieren«.
Das Studierendenparlament der PH Heidelberg hat bereits 2017 in einer Entschließung an den Landtag die Forderungen der Betroffenen unterstützt. Im November 2021 stand dies erneut auf der Tagesordnung, im kommenden Semester ist unter anderem eine Veranstaltung geplant. Auch der Rektor hat am 50. Jahrestag in der Rhein-Neckar-Zeitung erklärt: »Als besonders empörend wurde der Widerspruch empfunden, dass es einerseits die Praxis der Berufsverbote gab, aber noch wenige Jahre zuvor mit ehemaligen Nationalsozialisten anders umgegangen wurde.« Im Frühsommer könnte auch Kretschmann um eine konkrete Stellungnahme schwer herumkommen. Im ARD-Film »Jagd auf Verfassungsfeinde« im Januar 2022 hat er sich immerhin gegen neue »Radikalenerlasse« ausgesprochen. Ansonsten werde er, wie er kürzlich auch in der Antwort auf eine Anfrage der SPD-Landtagsfraktion mitteilen ließ, den Forschungsbericht der Uni Heidelberg abwarten. Grundsätzlich habe er vor, es »im Fall von Unrecht« bei »individuellen Entschuldigungen« zu belassen. Die baden-württembergische Initiativgruppe hat ihm daraufhin Ende Februar ein dreiseitiges Schreiben geschickt, mit dem Bericht von Klaus Samson von 2004 und weiteren 170 Seiten ILO-Belegen als Anlagen: Unrecht ist allen Betroffenen geschehen, Rehabilitierung muss es für alle geben!
Martin Hornung
* Martin Hornung lebt in Eppelheim, war bis zur Rente in Heidelberg Betriebsrat und Metaller.
Als 1975 Betroffener ist er in der baden-württembergischen Initiativgruppe gegen Radikalenerlass und Berufsverbote aktiv.(Weitere Hinweise und Dokumente auf www.berufsverbote.de)
zuerst veröffentlicht in: Express – Monatszeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit 4/2022
(mit freundlicher Genehmigung von express veröffentlicht – KIM)