Atomwaffendoktrin in neuer NATO-Strategie ist gefährlich – Kommentar: Friedenspolitik in die Tonne?
Pressemitteilung der vom Netzwerk Friedenskooperative mitgetragenen Kampagne atomwaffenfrei.jetzt
vom 30. Juni 2022 – Kommentar siehe unten
Die Kampagne „Büchel ist überall! atomwaffenfrei.jetzt“ kritisiert, dass die NATO in ihrem neuen „Strategischen Konzept 2022“ die nukleare Abschreckung und damit die Bereitschaft zur Drohung mit und zum Einsatz von Atomwaffen bekräftigt. Die NATO will ihr globales Lagebild ausbauen und ihre Reichweite vergrößern, um im Einklang mit ihrem 360-Grad-Ansatz in allen Dimensionen und in alle Richtungen abschrecken und verteidigen zu können. Russland gilt generell als Bedrohung, China als „Herausforderung“.
Die NATO hält es daher für notwendig, nukleare Abschreckung und Verteidigungsfähigkeit des Bündnisses deutlich zu stärken, da sie „der oberste Garant für die Sicherheit des Bündnisses“ seien. „Zu diesem Zweck werden wir eine substantielle und dauerhafte Präsenz zu Lande, zu Wasser und in der Luft sicherstellen, unter anderem durch eine verstärkte integrierte Luft- und Raketenabwehr.“ heißt es in dem neuen Strategiedokument. Die Rolle der in Europa, auch in Deutschland, stationierten US-Atomwaffen wird eigens betont. Eine Erklärung, Atomwaffen nie als Erster einzusetzen („no first use“) – wie es von der Friedensbewegung als vertrauensbildende Maßnahme seit langem gefordert wird – fehlt im Strategiepapier.
Gerade der Ukraine-Krieg zeigt jedoch, wie schnell die Welt an die Schwelle des Atomkrieges geraten kann. Russland hat indirekt mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht und will nun in Belarus nuklear bestückbare Iskander-Raketen sowie nukleare Fliegerbomben stationieren und belarusische Kampfflugzeuge entsprechend ausstatten. Dadurch wird die Rüstungsspirale angeheizt, und es besteht die reale Gefahr, dass die NATO nun auch in östlichen Staaten, wie Polen, Atomwaffen stationiert. In diesem Kontext macht es Hoffnung, dass die NATO-Russland-Grundakte vonseiten der NATO bislang nicht aufgekündigt wurde. Die Grundakte verbietet die Stationierung von Atomwaffen in den östlichen NATO-Staaten.
„Einer weiteren Eskalation bei der Stationierung von Nuklearwaffen kann nur mit sofortigen und ernsthaften neuen Verhandlungen über alle Kategorien von Atomwaffen begegnet werden. Ein atomwaffenfreier Korridor in Europa ist als erster Schritt notwendig. Bloße Lippenbekenntnisse zu nuklearer Abrüstung nützen nichts“, so Regina Hagen, Sprecherin der atomwaffenfrei-Kampagne. „Nachdem mit einer Ausnahme sämtliche Abkommen zu Nuklearwaffen aufgekündigt wurden, ist ein Neustart nötig, um zu wirklicher nuklearer Abrüstung zu gelangen, wie sie im Nichtverbreitungsvertrag (NVV) zugesagt wird,“ so Regina Hagen weiter. Am 1. Juli 2022 ist es 54 Jahre her, dass die USA, Großbritannien und die damalige UdSSR den NVV unterzeichneten. Seitdem bleibt das dort enthaltene Versprechen auf vollständige nukleare Abrüstung uneingelöst.
Aktuell gerät vollkommen aus dem Blick, dass Frieden nicht mit immer mehr Waffen gesichert werden kann. Mit dem 100-Milliarden-Aufrüstungspaket will die Bundesregierung auch neue Atombomber F-35 anschaffen. Statt weiterer Aufrüstung ist es dringend erforderlich, darüber nachzudenken, wie nach dem Ukrainekrieg eine gemeinsame Sicherheitsarchitektur in Europa – unter Einbeziehung Russlands – neu konstituiert werden kann.
Das Dilemma der nuklearen Abschreckung wurde seitens der Friedensforschung immer wieder benannt: Die Bedrohung mit Atomwaffen ist nur glaubwürdig, wenn auch der Wille zum Einsatz dieser Waffen ernsthaft vorhanden ist. Das beinhaltet die Bereitschaft zu massenmörderischen Kriegseinsätzen bis hin zur vollständigen gegenseitigen Vernichtung. Das Konzept ist aus diesem Grund laut Internationalem Gerichtshof völkerrechtswidrig. „Nur eine Welt ohne Atomwaffen kann dieses Dilemma bewältigen“, so Kampagnensprecher Martin Singe. „Die erste Staatenkonferenz zum Atomwaffenverbotsvertrag vergangene Woche in Wien hat aufgezeigt, dass dieser Weg notwendig und gangbar ist.“
Die Kampagne fordert die Bundesregierung auf, bei der anstehenden Überprüfungskonferenz zum NVV im August in New York darauf zu drängen, dass die Atommächte ernsthafte Schritte hinsichtlich ihrer Verpflichtung aus Art. 6 des Vertrages zu vollständiger nuklearer Abrüstung einleiten. Die Bundesregierung kann auf diesem Weg vorangehen, indem sie in der NATO die nukleare Teilhabe aufkündigt, die US-Atomwaffen aus Büchel abziehen lässt und dem Atomwaffenverbotsvertrag beitritt“, fordert Singe für die atomwaffenfrei-Kampagne.
Kommentar: Friedenspolitik in die Tonne?
Eine exzellente friedenspolitische Leistung hat die International Campaign to Abolish Nuclear Weapons, ICAN, geschafft, indem sie mit anderen Friedensorganisationen ganz wesentlich dazu beigetragen hat, dass eine Mehrheit von 122 UN-Staaten den AVV am 7. Juli 2017 beschlossen hat. ICAN hat für dieses Engagement zurecht den Friedensnobelpreis erhalten.
Der Mannheimer Gemeinderat hat mehrheitlich den ICAN-Städteappell beschlossen, durch den die Bundesregierung aufgefordert wird, dem Atomwaffenverbotsvertrag beizutreten.
Allein in Deutschland haben 108 Städte und Gemeinden den ICAN-Städteappell beschlossen (der Mannheimer Gemeinderat am 21.7.20) und damit die Bundesregierung aufgefordert, dem AVV beizutreten. Dasselbe Ziel verfolgt die ICAN-Abgeordnetenerklärung, die von 547 Abgeordneten unterzeichnet wurde (aus Mannheim von MdB Gökay Akbulut und den MdL Elke Zimmer, Stefan Fulst-Blei und Boris Weihrauch). ICAN stand trotz seiner Erfolge von Anfang an im Widerspruch zu den NATO-Staaten, die auf Atomwaffen und das Recht auf einen Ersteinsatz nicht aufgeben wollen. Aber die Ablehnung von ICAN war nicht einheitlich, der SPD-Fraktionsvorsitzende Mützenich hielt vor nicht langer Zeit eine Abkehr von der nuklearen Teilhabe für möglich.
Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat sicherlich auch aus friedenspolitischer Sicht einiges verändert. Das friedenspolitische Ziel darf aber nicht grundsätzlich aus den Augen verloren werden. Und das heißt sofortiger Waffenstillstand und Aufnahme von Verhandlungen. Die Souveränität der Ukraine muss ebenso garantiert werden, wie Minsk 2 als politische Lösung umgesetzt werden muss. Auch die Kritik an der nuklearen Erstschlag-Doktrin der NATO bleibt richtig.
Leider muss man den Eindruck haben, dass nicht nur Russland, sondern auch die NATO-Staaten von diesem Ziel weit abgekommen sind, ja eine politische Lösung in weite Ferne rückt. Eine verschärfende Konfrontation mit Russland und im Zuge dessen auch mit China wird z.T. als unabwendbar gesehen oder zumindest billigend in Kauf genommen.
Das Kriegsbündnis NATO erscheint in diesen Augen als größtes Friedensbündnis. Der Tweet der Bundesaußenministerin Baerbock an den finnischen Außenminister anlässlich der Fußball-Europameisterschaft mit „Team NATO“ ist ein eher flapsiger aber doch bezeichnender Umgang mit diesem Thema. Einer Außenministerin eigentlich unwürdig. Auf einen großen Aufschrei der deutschen Zivilgesellschaft wird man vermutlich aber leider vergeblich warten.
Roland Schuster