Nicht nur in Mannheim: Tote bei Polizeieinsatz
Um an das Geschehen vom 2. Mai zu erinnern, veranstaltet die „Initiative 2. Mai“ am Mittwoch, dem 2. November um 18 Uhr eine Mahnwache auf dem Marktplatz und enthüllt eine Gedenktafel. Am 2. November 2022 ist ein halbes Jahr vergangen, seit ein Patient des ZI bei einem Polizeieinsatz getötet wurde. Kommunalinfo Mannheim berichtete mehrfach. Auch der Tod des 16-jährigen Flüchtlings in Dortmund gerät in diesen Tagen erneut in die Schlagzeilen. Unter haarsträubenden Umständen sterben in Deutschland Menschen durch Polizeigewalt. Allein im August sind es vier innerhalb nur einer Woche. Drei von ihnen werden erschossen, ein vierter stirbt nach einer sogenannten Fixierung und dem Einsatz von Pfefferspray. Auch im September sterben wieder drei Menschen durch Polizeikugeln, und im Oktober verlieren ebenfalls zwei Menschen ihr Leben durch die Polizei – einer nochmals in Dortmund, der andere in Berlin. Die Opfer haben überraschend viele Gemeinsamkeiten, die Art, wie sie zu Tode kommen, ebenfalls.
Hier zunächst eine Zusammenfassung der Mannheimer Ereignisse:
Das Geschehen vom 2. Mai
Ein 47-jähriger Deutscher mit kroatischem Migrationshintergrund sucht aus eigener Initiative das ZI auf und verlässt es wieder gegen ärztlichen Rat. Der Arzt wendet sich daraufhin an die (unmittelbar benachbarte) Polizei mit der Bitte, sie möge seinen Patienten aufsuchen, da er Hilfe benötige. Zwei Polizisten machen ihn rasch ausfindig, da er sich aber nicht festnehmen lassen will, wird er – wie ein Passant mit dem Handy aufnimmt und ins Netz stellt – mit Pfefferspray besprüht, mehrfach geschlagen und verfolgt. 150 Meter weiter am Mannheimer Marktplatz, dem belebtesten Ort der ganzen Stadt, bekommen sie ihn zu fassen und werfen ihn zu Boden. Der korpulente Mann sträubt sich und ruft – wie im Netz ebenfalls zu sehen ist – immer wieder, er wolle einen Richter. Es ist dann zu sehen, wie der auf den Boden gedrückte Mann von einem auf ihm knieenden Polizisten mit großer Wucht mehrmals auf den Kopf und den Hals geschlagen wird, bis er nicht mehr bei Bewusstsein ist. Er wird auf den Rücken gedreht, nach einiger Zeit nimmt ein Beamter eine offensichtlich erfolglose Herzdruckmassage vor. Ein Krankenwagen bringt ihn in ein Krankenhaus, das wenig später angibt, er sei dort verstorben. Zeugen äußern die Überzeugung, er sei schon vor Ort gestorben.
Das stark migrantisch geprägte Viertel gerät unmittelbar in Aufruhr, aufgrund vieler negativer Erfahrungen mit der Polizei empfinden die Bewohner:innen das Ereignis als Angriff auf sich. Am selben Abend noch findet eine spontane Protestkundgebung statt, ebenso am folgenden Mittwoch und am Samstag mit über tausend Teilnehmenden. Auch in anderen Städten, so in Frankfurt, Magdeburg und Berlin finden Demonstrationen statt.
Erst dreieinhalb Monate später wird von der Staatsanwaltschaft Mannheim das Obduktionsergebnis bekannt gegeben: “Nach vorläufiger Bewertung in dem Gutachten liegt ein nicht natürlicher Tod infolge des Polizeieinsatzes vor. Der 47-Jährige soll letztlich an einer lage- und fixationsbedingten Atembehinderung mit konsekutiver Stoffwechselentgleisung in Kombination mit einem Ersticken durch eine Blutung in die oberen Atemwege verstorben sein.” Mit anderen Worten: Die Schläge des Polizisten lösten innere Blutungen in den oberen Atemwegen aus. Der Mann erstickte an den Blutungen, weil er von dem Polizisten fixiert wurde.
Bei den Ermittlungen gegen die beiden beteiligten und mittlerweile beurlaubten Polizeibeamten wurden 70 Zeugen vernommen und 120 Videos gesichtet.
Vier Tote bei Polizeieinsätzen im August
Am 2. August stirbt in einem Hotel in Frankfurt ein 23-jähriger obdachloser, aus Somalia geflüchteter junger Mann nach sechs Schüssen auf die obere Körperhälfte, wovon ihn fünf treffen, einer davon in den Kopf. Er soll zwei Personen bedroht haben, die aber nicht mehr vor Ort sind, als das SEK eintrifft. Das Geschehen eskaliert, nachdem ein Polizeihund auf den jungen Mann gehetzt wird. Ein Sprecher der Grünen hält es für möglich, dass hier ein Exempel statuiert werden sollte.
Am nächsten Tag stirbt in Köln bei der Zwangsräumung seiner Wohnung ein 48-jähriger russischer Straßenmusiker durch zwei Schüsse, abgegeben von zwei Polizeibeamten.
Nur vier Tage danach stirbt bei Recklinghausen ein 39-jähriger Mann, nachdem acht Polizisten ihn mit Pfefferspray besprüht und fixiert hatten. Der Einsatz konnte von etwa 150 Menschen beobachtet werden, von denen einige mit ihren Handys filmten. In mindestens einem Fall soll eine solche Aufnahme noch vor Ort durch Polizisten gelöscht worden sein. Nach Mitteilung der Staatsanwaltschaft Bochum erfüllt dies den Anfangsverdacht einer Nötigung. “Aus Neutralitätsgründen” wird die Polizei Dortmund beauftragt, gegen die beteiligten Polizist:innen zu ermitteln.
Wieder einen Tag später stirbt in Dortmund ein aus dem Senegal geflüchteter 16-jähriger Jugendlicher durch fünf Schüsse aus einer Maschinenpistole der Polizei. Weil die Aufzeichnung des Notrufs sich nicht mit dem schriftlichen Bericht der Polizei deckt, wird auch hier gegen die beteiligten Polizist:innen ermittelt. “Aus Neutralitätsgründen” von – der Polizei Recklinghausen. Dieses System ist bestens bewährt: so bleibt alles in der Familie.
Als erstes fällt die Menge der Gemeinsamkeiten auf, die Opfer tödlicher Polizeigewalt aufweisen: Sie sind alle arm, fast alle männlich und leben entsprechend in sogenannten sozialen Brennpunkten, sie sind fast alle psychisch krank oder in einer psychischen Ausnahmesituation und die meisten von ihnen haben einen Flucht- bzw. Migrationshintergrund und/oder eine dunkle Hautfarbe.
Die Geschichte eines Opfers soll hier stellvertretend näher dargestellt werden: Der besonders erschütternde Tod des senegalesischen Jugendlichen Mouhamed Lamine Dramé am 8. August in Dortmund..
Mouhamed D.
Mouhamed starb vier Monate nachdem er im April diesen Jahres nach Deutschland geflüchtet und zunächst in einer Aufnahmeeinrichtung im Rhein-Pfalz-Kreis (dem ehemaligen Landkreis Ludwigshafen) untergebracht worden war. Sein Bruder war bei der Flucht im Mittelmeer ertrunken. Erst eine Woche vor dem fatalen Polizeieinsatz war er in Dortmund angekommen. Dies war sein Wunsch gewesen, weil er gerne Fußball spielte und Borussia Dortmund-Fan war. Er litt unter einer posttraumatischen Belastungsstörung, hatte am Tag vor dem Ereignis bei sich Suizidwünsche festgestellt und wurde deshalb auf seinen Wunsch in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie vorgestellt, dort aber noch am selben Tag ‘nach Hause’ – einer Jugendhilfeeinrichtung der katholischen Kirche in der Dortmunder Nordstadt – entlassen.
Am nächsten Morgen setzt er sich mit einem Messer in den Hof der Einrichtung und sagt, er wolle sich umbringen. Eine Betreuerin spricht mit ihm, kann ihn aber nicht dazu bewegen, das Messer wegzulegen. Ein Kollege wählt daraufhin die Notrufnummer und bittet die Polizei um Hilfe dabei, den Jugendlichen wieder in die Kinder- und Jugendpsychiatrie zu bringen. Wenig später sind nach Polizeiangaben elf Polizist:innen auf dem Gelände. Drei Wochen später wird bekannt, dass es sich in Wahrheit um zwölf Personen handelte. Vier von ihnen in Zivil und einer mit einer Maschinenpistole MP 5. Unter ihnen befindet sich weder ein Dolmetscher noch jemand, der in Verhandlungen geschult ist.
Einsatzplanung
Der Plan des Einsatzleiters ist folgender: Falls der Jugendliche die Aufforderung, das Messer wegzulegen, nicht befolgt, bekommt er Pfefferspray ins Gesicht, während er sich dann das Reizgas abwischt, wird er vorsichtshalber nochmal mit einer Elektroschockpistole (Taser) beschossen, damit er dann entwaffnet und abgeführt werden kann. Der Mann mit der Maschinenpistole erhält den Auftrag, die beiden mit dem Jugendlichen interagierenden Kolleg:innen ‘abzusichern’.
Bereits diese Planung ist bestürzend verantwortungslos: Weil zwölf Beamte gegen einen einzigen verzweifelten Jugendlichen aufgefahren werden; weil weder ein Dolmetscher noch eine psychologische Fachkraft mitgenommen wird, obwohl völlig klar sein muss, dass beides vonnöten wäre; weil der Einsatz von sowohl Pfefferspray als auch Elektroschocks geplant wird, ohne zu berücksichtigen, dass beide eine solche Situation eskalieren können. Aus Kriegserfahrungen ist schon lange bekannt, dass Menschen manchmal auch bei schweren Verletzungen vorübergehend keinen Schmerz verspüren. Fehlendes oder stark vermindertes Schmerzempfinden ist eine häufige Begleiterscheinung psychischer Ausnahmesituationen und ist auch bei bestimmten psychischen Beeinträchtigungen bekannt. Und das bedeutet eben, dass eine Elektroschockpistole oder Pfefferspray in psychischen Ausnahmesituationen und bei bestimmten psychischen Beeinträchtigungen eskalierend wirken kann. Die Erregung der angegriffenen Person steigert sich, ohne dass sie durch ein Schmerzempfinden gebremst wird. Insbesondere bei Traumafolgestörungen kann es sein, dass derart ‘behandelte’ Personen völlig ausrasten.
Die Polizeiversion
Nach Darstellung des Einsatzleiters passiert nun folgendes: Der Jugendliche wird von einem Beamten in Deutsch und Spanisch angesprochen, versteht aber nichts. Die Amtssprache im Senegal ist Französisch. Carsten Dombert, der leitende Oberstaatsanwalt in Dortmund, bestätigt später: “Den Beamten war bekannt, dass der junge Mann nicht unsere Sprache spricht.” Er legt das Messer nicht beiseite, wird mit Pfefferspray beschossen, dies zeigt keine Wirkung, der Jugendliche geht angeblich mit dem Messer auf die Polizisten zu und wird deshalb zweimal mit dem Taser beschossen. Beim ersten Schuss trifft ihn nur eine Elektrode, der Stromkreis wird nicht geschlossen, weshalb der Schuss keine Wirkung erzielt. Ein zweiter Schuss wird abgegeben, die Elektroden treffen ihn am Glied und am Bauch. Da die beiden Treffer nahe beieinander liegen, erzeugen sie einen starken Schmerz, aber keine Immobilisierung. Da er sich angeblich weiter auf die Polizist:innen zubewegt, eröffnet der ‘sichernde’ Polizist das Feuer. Mouhamed wird von vier Kugeln getroffen: im Gesicht in der Höhe des Jochbeins, in den Arm, in die Schulter und in den Bauch. Ein Krankenwagen ist schon vor Ort, fährt ihn ins Krankenhaus, dort stirbt er wenig später trotz einer Notoperation.
Die Bodycams
Zunächst kann der Polizeibericht nicht überprüft werden, da alle Polizei-Bodycams ausgeschaltet waren. Allgemein wenig bekannt ist, dass Bodycams eingeführt wurden, um Polizisten vor Übergriffen zu schützen und nicht, um vor Übergriffen durch Polizisten zu schützen. Deshalb kann jeder Polizist selbst entscheiden, ob er die Kamera einschaltet oder nicht, und nur deshalb wurde die Einführung der Bodycams überhaupt von der Polizei akzeptiert. Nur in Berlin und Bremen sind Polizist:innen “angehalten”, die Kameras beim Einsatz von Zwangsmitteln einzuschalten. Der Berliner Polizeiausbilder und Professor für Polizeirecht hierzu in der ARD-Sendung Monitor(1): “Ich glaube, Polizistinnen und Polizisten haben bei uns in weiten Teilen, nicht alle, aber in weiten Teilen eine Vorstellung, dass sie ein Recht auf Anonymität im Dienst haben und die Bodycam und die alleinige Verfügung über die Bodycam unterstützt ein Stück weit dieses Herrschaft-, diese Herrschaftsposition.”
Der Koalitionsvertrag der schwarz-grünen NRW-Landesregierung legt jedoch fest, dass sie bereits beim Einsatz von Elektroschockpistolen eingeschaltet werden müssen. Jetzt (!) will Innenminister Reul eine Trage- und Einschaltpflicht prüfen. Seitens der Polizei begründet wird das versäumte Einschalten zunächst damit, dies sei “aufgrund der Stresssituation” vergessen worden. Vermutlich weil dies so unglaubwürdig ist, wird am nächsten Tag eine ganz andere Erklärung geliefert: Der Getötete habe ja angekündigt, sich das Leben nehmen zu wollen. Ein Suizid sei aber ein “höchstpersönlicher Lebenssachverhalt”, den zu filmen nicht gestattet sei, deshalb hätten die Beamten sich dazu entschieden (!), ihre Kameras aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes nicht einzuschalten. In einem junge-Welt-Interview vom 2.9. bezeichnet die Dortmunder VVN-BdA-Sprecherin Silvia Rölle es als Vorwand, dass bei Suizidgefährdung keine Bodycam eingeschaltet werde, die Aufnahmen würden ja schließlich nicht veröffentlicht.
Das NRW-Innenministerium unter Herbert Reul (CDU) schließt sich dem Bericht an und lässt verlauten, die Polizisten hätten in Dortmund nach Vorschrift gehandelt. Noch zehn Tage nach der Tat sagt er: “Ich auf jeden Fall beneide die Polizisten nicht, die diese Entscheidung treffen müssen. Aber sie müssen sie treffen, um den jungen Mann zu schützen.” Ob ihm wohl der in diesen Worten liegende und schwer zu überbietende Zynismus überhaupt bewusst ist?
Der Polizeiwissenschaftler Prof. Rafael Behr von der Akademie der Polizei Hamburg kommentiert kenntnisreich: “Üblicherweise eignen sich die politisch Verantwortlichen, also hier Minister, die Version der Polizei an, werfen sich entschuldigend vor die Beamten und lassen wenig Fragen offen, dass die Polizeibeamt:innen in Notwehr gehandelt haben. Das tun sie so lange, bis sie nicht mehr anders können, weil es objektive Beweismittel gibt, die sie zwingen, von ihrer Position abzurücken.”
Proteste
Bundesweit kommt es in mehreren Städten zu Kundgebungen und Demonstrationen gegen Polizeigewalt und Rassismus. 60 Forscher fordern den Düsseldorfer Landtag auf, eine unabhängige Untersuchungskommission einzuberufen (2). (ca. 38.000 Unterschriften am 26.10.) Auch in Mouhameds Heimatstadt Ndiaffate in der Nähe der Hauptstadt Dakar kommt es zu einer Demonstration, gefordert wird (auf Französisch) “Gerechtigkeit für Mouhamed”. Am 13.8. findet in der Dortmunder Abu-Bakr-Moschee eine Gedenkfeier statt, zu der etwa 500 Menschen erscheinen. Viele tragen handgeschriebene Protest-Plakate, fordern beispielsweise “Justice for Mouhamed”. Auch SPD-Oberbürgermeister Thomas Westphal ist anwesend und spricht sichtlich erschüttert im Innenhof der Moschee. In sogenannten sozialen Netzen wird ihm daraufhin vorgeworfen, er habe sich durch diesen Auftritt nicht ausreichend hinter seine Beamten gestellt.
Die Aufzeichnung des Notrufs
In den folgenden Wochen wird klar: Die Tatversion der Polizei, die bisher stets kritiklos vom Innenministerium übernommen worden war, stimmt vorne und hinten nicht. Eine Tonaufnahme des Telefonats, das der Betreuer mit dem polizeilichen Notdienst geführt hatte, taucht Ende August auf, und es wird bekannt, dass dieses Telefonat über 20 Minuten fortgeführt wurde – bis die Schüsse fielen. Im Hintergrund des Telefonats können Aussagen der Beamten sowie Knallgeräusche gehört werden. So ergibt sich ein ganz anderer Ablauf des Geschehens: Mouhamed sitzt lethargisch im Hof und zeigt gegenüber den ihn ansprechenden Polizisten keinerlei Aggressionen. Oberstaatsanwalt Dombert findet klare Worte: “Der Jugendliche war alleine im Innenhof. Er saß teilnahmslos mit dem Rücken an der Kirchenmauer und hatte den Kopf gesenkt. Drei Seiten des Hofs sind von Mauern begrenzt, an der vierten Seite standen Polizisten. Der 16-Jährige stellte also keine Gefahr für die Allgemeinheit dar … Der Jugendliche saß da und tat nichts … Wir gehen davon aus, dass der Einsatz, so wie er abgelaufen ist, und zwar von Beginn an – nicht verhältnismäßig gewesen ist.” In dem oben erwähnten Interview gibt Silvia Rölle zudem an, zwischen dem Jugendlichen und der Polizei habe sich ein Zaun befunden, sodass auch für die Polizei keine Gefährdung bestanden habe. Auch nach dem Pfefferspray zeigt Mouhamed keine Aggressionen und geht auch nicht auf die Beamten zu, sondern steht auf, wendet sich nach rechts ab und versucht, sich das Reizgas vom Kopf zu wischen. Das nützt ihm aber nichts. Es wird bereits als Gefahr interpretiert, dass er aufsteht. Deshalb wird er in diesem Moment mit zwei Elektroschockpistolen beschossen, zeitgleich eröffnet der MP-Schütze das Feuer. Kein Polizist hat übrigens den Jungen bis dahin aufgefordert, das Messer aus der Hand zu legen.
Ein in Grundzügen vergleichbarer Ablauf des Geschehens kennzeichnet nicht nur in Deutschland die Mehrzahl der Fälle, in denen Polizeibeamte Menschen töten. Die Bedrohung, die angeblich von der getöteten Person ausging und die zur Rechtfertigung des Schusswaffeneinsatzes herangezogen wird, entsteht erst als Folge eines eskalierenden Polizeiverhaltens – oder aber sie wird nachträglich konstruiert.
Die unfassbare Spitze: Gegen den Verstorbenen fertigt aufgrund des Geschehens noch am Abend des Tages eine Beamte des Polizeipräsidium Dortmund eine Strafanzeige wegen Bedrohung an.
Ermittlungen gegen Polizeibeamte
Am 22. September wird bekannt: Der Einsatzleiter soll mit seiner Pistole ebenfalls auf Mouhamed geschossen haben. Seine Waffe wird beschlagnahmt. Außerdem wird mitgeteilt, dass es bei den fünf Beschuldigten zu einer Hausdurchsuchung gekommen sei, bei der ihre Mobilfunkgeräte beschlagnahmt wurden. Es bestehe die begründete Annahme, “dass die Beschuldigten sich per SMS oder WhatsApp ausgetauscht haben.” Die Beteiligten sollen zudem am 10. August zu einer einstündigen “Dienstbesprechung unter Beteiligung des Polizeipräsidenten” zusammengekommen sein.
Nachdem der wahre Ablauf der Ereignisse Stück für Stück bekannt geworden ist, müssen die Ermittlungen ausgeweitet werden. Gegen den MP-Schützen war bereits wegen Körperverletzung mit Todesfolge ermittelt worden, nun wird auch wegen Totschlags ermittelt. Gegen vier weitere Beamte, die den Jugendlichen mit Pfefferspray oder Elektroschockpistole angegriffen hatten, wird ermittelt wegen des Verdachts auf gefährliche Körperverletzung im Amt. Gegen den Einsatzleiter, der die Angriffe angeordnet hatte, wird ermittelt wegen Anstiftung zur gefährlichen Körperverletzung im Amt. Soweit bekannt, haben sich alle beschuldigten Polizisten bisher in den Vernehmungen nicht geäußert.
Auch über Mouhamed werden neue, bisher vertrauliche Informationen bekannt: Er soll keineswegs akut suizidgefährdet gewesen sein. In der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, die er aufgesucht hatte, konnte mit Hilfe eines Dolmetschers eine vertiefte Untersuchung durchgeführt werden. Dabei habe er sich von Suizidgedanken “klar distanziert”. Ein zwangsweiser Aufenthalt sei nicht angebracht gewesen, weil es keine Anzeichen für eine Selbst- oder Fremdgefährdung gegeben habe. Er sei vielmehr verzweifelt gewesen, weil er in seine Heimat zurückwollte. Der Dolmetscher wollte ihm hierbei helfen.
Nehmen Todesfälle bei Polizeieinsatz zu?
Auf die Frage eines Journalisten, was denn die Ursachen für die Häufung von Todesfällen bei Polizeieinsätzen sein könnte, antwortete Innenminister Reul, er sehe eine solche Häufung nicht. An dieser Antwort sind zwei Dinge beunruhigend. Erstens: Der Mann hat wahrscheinlich recht! Und noch beunruhigender: Genau lässt sich das gar nicht feststellen, weil Todesfälle durch Polizeieinsätze gar nicht vollständig erfasst werden. Das CILIP-Institut für Bürgerrechte und öffentliche Sicherheit (3) veröffentlicht polizeiliche Todesschüsse seit 1976. Es stützt sich dabei auf eine jedes Jahr von der Konferenz der Innenminister:innen der Bundesländer veröffentlichten Statistik zum polizeilichen Schusswaffengebrauch des Vorjahres. Hier werden Warnschüsse und Schüsse auf Tiere und Sachen gezählt sowie Polizeikugeln auf Personen und daraus resultierende Todesfälle. Dieses Jahr starben in Deutschland bis Ende Oktober bereits zehn Menschen durch Polizeikugeln. Zwar sind das schon zwei mehr als im ganzen vorigen Jahr, in den zehn Jahren von 2012 bis 2021 wurden aber insgesamt 110 Menschen von der Polizei erschossen, also in einem Jahr durchschnittlich 11. Allein 2017 wurden 16 Menschen von der Polizei erschossen, 2016 und 2019 jeweils 13. Es gab kein Jahr mit weniger als 8 Todesopfern. Es handelt sich hier aber nur um Todesfälle durch Schusswaffengebrauch, Menschen, die durch Elektroschockpistolen sterben oder einfach totgeschlagen oder sonstwie zu Tode gebracht werden, tauchen in keiner Statistik auf.
Beispielsweise der 47-jährige Deutsche mit kroatischem Migrationshintergrund, der am Montag, dem 2. Mai in Mannheim getötet wurde.
Michael Kohler