“Super Recogniser” – Super Polizist*innen, die alles und jede*n erkennen?
In einer Presseerklärung verkündete das Polizeirevier Mannheim/Heidelberg am 21.04.2022, dass das Pilotprojekt „Super Recogniser“ erfolgreich abgeschlossen wurde, und attestierte 52 Cops „überdurchschnittliche Fähigkeiten im Bereich der Gesichtserkennung“. Die Beamt*innen hätten sich die Bezeichnung verdient, da sie in mehreren Tests eine höhere Begabung beim Einprägen und Wiedererkennen von Gesichtern bewiesen hätten. Fast alle Landespolizeien in Deutschland setzen diese ein und arbeiten an der medialen Darstellung der angeblichen Spezialkräfte. Nach Stand der Forschung ist die höhere Begabung zum (Wieder-)Erkennen eine angeborene und nicht erlernbare Fähigkeit, über die lediglich ein bis zwei Prozent der Gesamtbevölkerung verfügen sollen. Doch was verspricht sich die Polizei von diesem Projekt?
Der war’s, ganz sicher! … Oder der!
Das Revier Mannheim/Heidelberg berichtet, dass bei den Ermittlungen zu den angeblichen Krawallen auf der Neckarwiese in Heidelberg im Sommer 2021 bereits „Super Recogniser“ eingesetzt wurden; ähnliches wird aus Stuttgart berichtet. Aus Bayern werden schon seit 2018 Meldungen zu ihnen verbreitet, hier ist vor allem das Oktoberfest ein Anwendungs- und Testfeld. Viele Verdächtige und Gesuchte sollen deutschlandweit bereits mithilfe der angeblich talentierten Beamt*innen überführt oder verhaftet worden sein. Auf der Ausstellungsmesse „Maimarkt“ Anfang Mai 2022 war das Revier Mannheim/Heidelberg mit mehreren Ständen vertreten, von denen einer allein für die Bewerbung des Super-Recogniser-Programms reserviert war. Kürzlich legte das Revier nach und verkündete einen weiteren Fahndungserfolg durch einen Super-Cop [1], bei dem ein „geschulter“ Beamter eine gesuchte Person erkannte und deren Verhaftung herbeiführte. Die Polizei betonte bisher, dass Aussagen der Super-Cops nicht direkt zu Festnahmen führen könnten, sondern nur Ermittlungshinweise liefern [2]. Dass letztlich Hinweise zu Festnahmen führen, zeigt, wie schwammig diese Formulierung ist. Aussagen von Cops werden schon jetzt in politischen Prozessen, egal wie oft sie sich selbst und den Fakten widersprechen, dankend angenommen, um Aktivist*innen mit Repression zu überziehen. Erinnert sei hier an Ella, die, nachdem Videoaufnahmen sämtliche Lügen der Cops widerlegt hatten, trotzdem hinter Gittern landete [3], und auch an Jan, der für das angebliche „Anschreien“ von Polizist*innen in den Knast geschickt wurde, obwohl er an besagtem Tag laut Zeug*innen – die keine Cops waren – gar nicht vor Ort war [4]. Ein Ziel des Projektes ist daher langfristig die weitere Legitimation von Bullen-Aussagen vor Gericht. Damit einher geht eine weitere Möglichkeit, das vorübergehende Festsetzen von Menschen zu legitimieren. Wenn Cops mit Super-Recognising-Diagnose Leute erkannt haben wollen, ist das für eine*n Richter*in ein weiterer Grund, ihnen zu glauben. Basierend auf bisherigen und laufenden Prozessen ist auch zu erwarten, dass nicht zwangsläufig nachgefragt wird, von wo Uniformierte ihre messerscharfen Beobachtungen gemacht haben, geschweige denn, ob sie überhaupt vor Ort waren.
Wenn die Kamera nicht reicht
Die „Super Recogniser“ müssen als weiteres Ermittlungswerkzeug der Repressionsbehörden betrachtet werden. So wie das Pfefferspray nicht die Schusswaffe ersetzt, werden auch die „Super Recogniser“ keine Kameras ersetzen, sondern als zusätzliches Mittel dienen. Diesbezüglich sind Szenarios vorstellbar, bei denen die Staatsanwaltschaft mit großem Ermittlungsdrang nach einer kämpferischen Demonstration zwar keine „sachdienlichen“ Videoaufnahmen einer Person hat, dafür aber auf Aussagen von eingesetzten Super-Beamt*innen zurückgreifen kann. Diese Praxis wird zwar schon jetzt angewandt, sie würde Aussagen aber weitere Glaubwürdigkeit zusprechen: denn dann hat nicht nur irgendeine*r Beamte*r angeblich jemanden (etwas tun) gesehen, sondern ein „Super Recogniser“. Letztlich ist auch davon auszugehen, dass die von deutschen Behörden genutzten Gesichtserkennungssoftwares teuer und unzureichend sind und relativ einfach (beispielsweise durch Masken o. ä.) umgangen werden können. International gab es immer wieder Kritik an Gesichtserkennungssoftware, da sie fehleranfällig ist, in die Privatsphäre eingreift und Rassismus reproduziert [5]. Viele der Kritikpunkte treffen eigentlich auch bei „Super Recognisern“ zu. Im Erkennen von Gesichtern scheint die Technik menschlichen Fähigkeiten noch hinterherzuhinken; möglicherweise ist dies jedoch nicht immer zwangsläufig ein Nachteil, da ein Mensch eher dazu gebracht werden kann, ein bestimmtes Ergebnis zu produzieren, wenn dies z. B. vom Vorgesetzten erwünscht ist. Einen zunehmend wichtigen Teil spielen dabei die immer stärker vernetzten Datenbanken der Polizeien sowie die extrem ausgebaute Überwachung des öffentlichen Raumes durch Videokameras, auf die sich die Behörden Zugriff verschaffen können. Das Recht, nicht gefilmt zu werden, existiert im städtischen Raum praktisch nicht. Wichtig ist auch, die tatsächlichen und begrenzten wissenschaftlichen Kenntnisse hinter dem Projekt zu beachten und sie öffentlich zu diskutieren:
Empirie, Zahlen und was sie eigentlich aussagen
Während zu Gesichts(wieder)erkennung und Augenzeug*innengedächtnis schon länger geforscht wird, sind „Super Recogniser“ als Forschungsfeld noch relativ jung. Erste Erkenntnisse dazu kamen 2009 von der University of Greenwich in London, dessen psychologische Forschungsgruppe seither eng mit der Londoner Polizei zusammenarbeitet. Treibende Kraft ist dabei der Forscher Josh Davis, der mittlerweile fast ausschließlich zu „Super Recognisern“ forscht und publiziert. In England werden Super-Recogniser auch schon seit längerem eingesetzt: bei den Londoner Cops gibt es seit 2011 eine eigene Super-Recogniser-Einheit. Bisher nimmt man an, dass die Fähigkeit, Gesichter wiederzuerkennen, nicht trainierbar ist. Gerade hinsichtlich des Namens muss aber Folgendes beachtet werden: Super-Recogniser befinden sich mit ihren Fähigkeiten am oberen Ende eines Kontinuums – sie haben also keine übermenschlichen Kräfte, sondern genetisch bedingt ein stärker ausgeprägtes Gedächtnis für Gesichter als ein Großteil der Bevölkerung. Um Super-Recogniser zu finden, wurde an der Londoner Universität eine Testbatterie (eine Reihe an gekoppelten Tests) entwickelt, die verschiedene Aspekte der Gesichtswiedererkennung überprüft. Nur wer in allen Tests überdurchschnittlich gut abschneidet (besser als 98 % der Gesamtbevölkerung), gilt laut der universitären Definition als Super-Recogniser. Völlig intransparent bleibt dabei jedoch, wie die Repressionsbehörden vorgehen, um Super-Recogniser in den eigenen Reihen zu entdecken. Zwar gibt das Revier Mannheim/Heidelberg an, mit der University of Greenwich kooperiert zu haben, ob aber tatsächlich die gesamte Testbatterie durchgeführt wurde, bleibt offen. In der Praxis werden wohl tatsächlich teilweise lediglich Tests eingesetzt, bei denen zwischen „Sehen“ und „Wiedererkennen“ nur sehr kurze Zeitintervalle (ein paar Minuten) liegen. Das ist besonders problematisch, da sich empirisch zeigt, dass auch bei Super-Recognisern die Wiedererkennungsleistung mit längeren Zeitintervallen stark abnimmt. Doch auch bei diesen kurzen Zeitintervallen haben Super-Recogniser nicht das Über-Gedächtnis, das die Bullen gerne bewerben möchten. In einer Studie aus dem Jahr 2020 haben Super-Recogniser selbst beim kürzesten Zeitintervall lediglich 67 % der Personen korrekt wiedererkannt und von 44 % richtigerweise angegeben, dass sie sie nicht wiedererkennen [6]. Das ist zwar eine bessere Leistung als bei einem Großteil der Gesamtbevölkerung, aber wirklich verlässlich sind Aussagen von Super-Recognisern offensichtlich nicht.
Theorie und (rassistische) Praxis
Ein weiteres Problem: Das Bild-Material, das zur Diagnose von Super-Recognisern verwendet wird, zeigt zu einem Großteil Gesichter von weißen Männern; in der rassistisch geprägten polizeilichen Praxis werden aber verstärkt migrantisierte Menschen kontrolliert und von den Cops „überführt“. Bei der Gesichtserkennung spielt hierbei das psychologische Phänomen des „Own-Race-Bias“ [7] eine wichtige Rolle: es besagt, dass Gesichter mit einer ähnlichen Hautfarbe wie der eigenen besser wiedererkannt werden als solche mit deutlich unterschiedlicher Hautfarbe. Hinzu kommt, dass in der polizeilichen Praxis – also bei Einsätzen, Kontrollen etc. – davon auszugehen ist, dass es extrem viele Störvariablen gibt, die die Wiedererkennungsleistung verschlechtern, die in den Tests aber nicht kontrolliert werden können. Die verwendeten Super-Recogniser-Tests sind also für die praktische Arbeit der Bullen eigentlich ungeeignet.
Fazit
Wie bei den meisten „Projekten“ der Repressionsbehörden ist auch bei den „Super Recognisern“ davon auszugehen, dass das Programm, wenn es sich als tauglich (für den Staat) erwiesen hat, schrittweise flächendeckend ausgeweitet wird. In seiner Anwendung steht es in einer relativ frühen Phase, was auch an der medialen Strategie der Cops erkennbar ist. Zahlreiche Erfolgsmeldungen und Informationsangebote (wie der spielerisch gestaltete Stand auf dem Maimarkt-Gelände) sollen der Bevölkerung das Ermittlungswerkzeug näherbringen und gleichzeitig Akzeptanz schaffen. Bei unseren Recherchen sind wir auch auf Radio- und Fernsehbeiträge gestoßen, die inhaltlich übereinstimmen. Wir halten es für wichtig, den Bullen bei der Erprobung und Bewerbung neuer und noch nicht im Einsatz befindlicher Ermittlungs- und Repressionswerkzeuge auf die Finger zu schauen. Wir haben dargelegt, wie „Super Recogniser“ den Cops weitere Legitimation verschaffen sollen – ob bei Aussagen vor Gericht oder im täglichen Streifeneinsatz. Auch wenn wir in nächster Zeit nicht damit rechnen, ist es durchaus vorstellbar, dass bei einer Ausweitung des Programms irgendwann die ersten Super-Recogniser gezielt im politischen Kontext eingesetzt werden. Der Praxis, sich tolle Namen für schlechte Dinge einfallen zu lassen, bleiben die Bullen jedenfalls treu: wer vorher einfach nur dumm geglotzt hat, ist jetzt Super-Recogniser.
Antifaschistische Initiative Heidelberg/Interventionistische Linke (AIHD/IL) – dieser Beitrag erschien zuerst in der Ausgabe 4/2022 der Rote Hilfe Zeitung
[1] https://www.rnz.de/region/regionalticker/polizeiberichte_artikel,-heidelberg-erste-erfolge-der-super-recogniser-_arid,890704.html
[2] https://www.pressreader.com/germany/graenzbote/20210722/281487869371156
[3] https://wald-statt-asphalt.net/ella-up1-wird-zu-2-jahren-und-3-monaten-haft-verurteilt/
[4] https://fda-ifa.org/freiheit-fuer-jan-demo-16-10-2021-nuernberg/
[5] https://www.rnd.de/digital/rassismus-per-software-darum-ist-gesichtserkennung-in-der-praxis-problematisch-T7V2JXGEAZCNTDIGCLYO4IXX7E.html
[6] Davis, J. P., Bretfelean, L. D., Belanova, E., Thompson, T. (2020). Super-recognisers: Face Recognition Performance After Variable Delay Intervals. Applied Cognitive Psychology, 34, 1350-1368
[7] Wir lehnen das Konstrukt „Rasse“ strikt ab und sind uns bewusst, dass in psychologischer wie auch jeder anderen Forschung Rassismus reproduziert wird.