“Rehabilitierung und Entschädigung für Berufsverbote!” Protest beim Landtag
Wiedergutmachung der Berufsverbote – „Biologische Lösung“ verhindern!
„Er habe gerade sehr, sehr große Probleme zu lösen, Stichwort Gaskrise. Seine Zeit und die der Ministerien sei begrenzt. Die (Betroffenen) hatten schon lange Geduld, beendet er (Kretschmann) seine unwirsche Replik, und jetzt müssen sie sich halt nochmal gedulden“. So zitieren im Juli die Wochenzeitung „Kontext“ (6.7.) und die „Stuttgarter Zeitung“ (14.7.) den Ministerpräsidenten auf die Frage: ob er sich mit der seit Mai als Buch vorliegenden Studie der Universität Heidelberg zum „Radikalenerlass“ und den Forderungen der Betroffenen nach Rehabilitierung und Entschädigung inzwischen befasst habe. „Nur weil irgendein Bericht zu einem Thema vorliegt, das seit zehn Jahren ausgewälzt wird“, könne er die „drängenden Fragen nicht hintanstellen“, setzt Kretschmann noch drauf.
Die „Rhein-Neckar-Zeitung“ hakt Ende September im Staatsministerium nach. Stereotype Antwort der Sprecherin, obwohl weitere zweieinhalb Monate vergangen waren: „Der Ministerpräsident bittet um Verständnis, dass es in der aktuellen Situation Fragen von akuter Dringlichkeit gibt, die diesem Thema vorgelagert sind“ (RNZ, 30.9.)
Am 25. Oktober nutzt der Deutschlandfunk die Landespressekonferenz, um den Regierungschef mit der Studie zu konfrontieren: Mittlerweile liege die Forschungsarbeit fast ein halbes Jahr vor, die Betroffenen würden deshalb am Folgetag in Sichtweite des Landtags erneut demonstrieren – warum er seine angekündigte Stellungnahme und Entscheidung ständig hinauszögere, obwohl er vor zehn Jahren als Ministerpräsident selbst die wissenschaftliche Aufarbeitung gefordert habe?
Kretschmann darauf: „Ich war selbst betroffen. Man kann doch dem Staat nicht verübeln, dass er bei jemand, der für die Diktatur des Proletariats eintritt, erst mal Bedenken hat, ob er den in den Staatsdienst einstellen soll. Dazu einfach jetzt kollektive Äußerungen oder gar Entschädigungszahlungen zu machen, das ist ja so gut wie unmöglich.“ Zur Studie selbst gebetsmühlenartig die Leier: Er habe sich damit „wirklich nicht befasst, weil er auch andere wichtige Dinge zu tun“ habe: „Mich plagen gerade andere Sachen. In so Krisen muss man sehr Vieles gleichzeitig machen. Bei vielen Dingen muss man einen Knödel nach dem andern essen.“
Aussitzer des Jahrzehnts
Die „Initiativgruppe Baden-Württemberg gegen Radikalenerlass und Berufsverbote“ hat Ende Mai in einer öffentlichen Erklärung festgestellt, durch die Ergebnisse der Forschungsarbeit werde die Berechtigung ihrer Forderungen eindrucksvoll bestätigt. Kretschmann hatte im Januar im Dokumentationsfilm von Hermann Abmayr („Jagd auf Verfassungsfeinde – Der Radikalenerlass und seine Opfer“) „allenfalls individuelle Entschuldigungen“ ins Spiel gebracht; in einem Rechtsstaat beurteile man „das Verhalten von Einzelpersonen“. (Der Film der ARD wurde inzwischen dreimal gezeigt, zuletzt auf 3sat; im SWR haben 55.000 zugesehen.)
„Individuelle Entschuldigungen“ lehnen die Betroffenen ab. In der Studie (2018 -2021) sind beispielhaft 90 Fälle aufgeführt oder erwähnt (davon ein Drittel aus der Rhein-Neckar-Region). Im Innenministerium liegen jedoch laut Forschungsbuch „vier laufende Aktenmeter“ mit „55 Bündeln“ und „rund 3.000 Einzelfällen“. Wenn die Aufarbeitung von 90 Fallbeispielen drei Jahre gedauert hat, wären dies für 3.000 Fälle 100 Jahre. Auch in den bisherigen Beschlüssen der Länderparlamente von Bremen, Niedersachsen, Hamburg und Berlin geht es nicht um „individuelle“, sondern immer um kollektive Rehabilitierung aller Betroffenen.
Der 50. Jahrestag des „Radikalenerlasses“ am 28. Januar hat bundesweit in der Öffentlichkeit zu großer Aufmerksamkeit geführt. Seine Grundlage hat er im deutschen Beamtenrecht, das seinerseits auf dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ der Nazis vom 7. April 1933 beruht. Im nächsten Frühjahr wird es 90 Jahre alt. Auch die baden-württembergische Variante des „Radikalenerlasses“, der Schiess-Erlass hat 2023 „Jubiläum“ (50 Jahre am 2.10.)
Von 1973 bis 1990 erfolgten laut Innenministerium im „Ländle“ 695.674 sogenannte „Regelanfragen“ beim Inlandsgeheimdienst alias „Verfassungsschutz“ . Diese gewaltige Zahl, ein Fünftel aller bundesweiten Überprüfungen, bedeutet plastisch gemacht: Im Schnitt gab es 110 Spitzeleien und Beschnüffelungen durch Schlapphüte und Schreibtischtäter – pro Tag, 17 Jahre lang.
„Lebensentwürfe zerstört“, „Existenzen gefährdet“
Berufsverbote seien es laut den in der Studie zitierten offiziellen Statistiken in ganz Baden-Württemberg 288 gewesen, 222 Einstellungsablehnungen und 66 Entlassungen. Wie untertrieben dies ist, zeigen eigene Recherchen Betroffener im hiesigen Raum. In der Rhein-Neckar-Region gab es allein 180 Betroffene: 107 sind mit vollem Namen bekannt, 21 mit abgekürztem Nachnamen und 52 ohne Namen in Fall-Darstellungen dokumentiert. Auf Heidelberg entfielen 121, Mannheim 33 und das Umland 26 lebenslange bzw. zeitweilige Berufsverbote. Neun der Betroffenen sind bereits gestorben.
Theresia Bauer, OB-Kandidatin in Heidelberg, bis September Wissenschaftsministerin, schreibt in ihrem Geleitwort zur wissenschaftlichen Studie: „Der Radikalenerlass wurde in Baden-Württemberg besonders intensiv und länger angewandt. Das Land machte sich einen Namen als schwarze ‘Berufsverboteprovinz’. Die Lebensentwürfe von jungen Menschen wurden zerstört und Existenzen gefährdet.“
Die „Süddeutsche Zeitung“ kommentiert im Juni: „Herr Kretschmann (windet) sich wie ein Aal.“ Inzwischen werden es zig’ Aale. Dass der beste CDU-“Landesvater“, den es je gab, mit Blick auf das Alter der Berufsverbote-Betroffenen von über 70 bis 80 Jahren offensichtlich auf eine „biologische Lösung“ setzt, schreiben inzwischen auch die „Stuttgarter“ und „Süddeutsche Zeitung“.
Im Ständigen Ausschuss des Landtags stand der Punkt von Mai bis September dreimal auf der Tagesordnung. Zuletzt beantragten die SPD-Ausschussmitglieder am 29.9.: „Der Landtag wolle beschließen, sich bei den Betroffenen, denen in Verbindung mit dem sogenannten Radikalenerlass Unrecht widerfahren ist, in geeigneter Form zu entschuldigen und das erlittene Unrecht jeweils finanziell angemessen zu kompensieren.“ Der Antrag wurde abgelehnt.
Boris Weirauch (SPD): „Nicht mehr zu überbietende Arroganz“
Die Initiativgruppe hat darauf am 26. Oktober in Sichtweite des Landtags erneut eine Kundgebung durchgeführt, die vierte in acht Jahren. Mit 60 waren es mehr als doppelt so viele Teilnehmende wie zuvor, ein Drittel von ihnen aus Heidelberg, Mannheim und der Rhein-Neckar-Region. Redebeiträge hielten der baden-württembergische DGB-Vorsitzende Kai Burmeister, der Kretschmanns ständiges Verschleppen einer Entscheidung einen „Skandal“ nannte, sowie die Betroffenen Sigrid Altherr-König (Esslingen) und Martin Hornung (Eppelheim). Mittlerweile hat die Initiativgruppe auch eine Zitate-Zusammenfassung für Text-Lesungen aus dem 684-seitigen Forschungsprojekt-Buch erstellt. Am 12. November fand im Waldheim „Clara Zetkin“ in Stuttgart-Sillenbuch eine erste Veranstaltung dazu statt (Reden und Bilder der Kundgebung sowie der Text der Lesung auf www.berufsverbote.de).
Der Abgeordnete Boris Weirauch (Mannheim), in der SPD-Landtagsfraktion für das Thema zuständig, hat am 16. November zuletzt zu einer zweistündigen Internet-Veranstaltung mit Betroffenen eingeladen. Die Zeit läuft uns davon – der Radikalenerlass und seine Aufarbeitung“. 46 Interessierte, überwiegend Betroffene waren zugeschaltet. Neben dem SPD-Abgeordneten berichteten Alexandra Jäger, die Bücher zum Radikalenerlass und den Auswirkungen in Hamburg und Niedersachsen veröffentlicht hat, sowie Sigrid Altherr-König, Lothar Letsche (Tübingen) und Werner Siebler (Freiburg) für die Betroffenen. Im Ständigen Ausschuss am 29.9. sei man laut Weirauch zwar mit „blumigen Worten bedacht“ worden (vermutlich seitens einiger Grüner, der Verf.) Der Antrag sei jedoch abgelehnt worden. Da seien einem „die Hände gebunden“, man werde „da im Ergebnis nichts tun“, so die Abgeordneten der Grünen-/CDU-Koalition.
Weirauch warf Kretschmann in der Veranstaltung „nicht mehr zu überbietende Arroganz gegenüber den Betroffenen“ vor. Sinngemäß teilte er außerdem mit, die SPD-Landtagsfraktion habe nun beschlossen, in die bis 21. Dezember laufenden Haushaltsberatungen einen Antrag einzubringen, sich mit dem Thema in den kommenden zwei Jahren weiter zu befassen und einen Fonds in Höhe von 600.000 Euro zur Entschädigung der von Berufsverbot Betroffenen in den Haushalt einzustellen. In mehreren Diskussionsbeiträgen wurde dieser Betrag als zu niedrig angesehen, die Initiative im Grundsatz aber begrüßt. Die Initiativgruppe hält einen mittleren siebenstelligen Betrag für notwendig.
In Heidelberg haben die Gemeinderats-Fraktionen der Linken und Grünen sowie Stadträtinnen und Stadträte von Bunte Linke, Grün-Alternativer Liste (GAL) und „Heidelberg in Bewegung“ (HIB) bereits im Juli einen Antragstext in das Gremium eingebracht: Verabschiedung einer Entschließung mit der Aufforderung an Landesregierung und Landtag, den Forderungen der von Berufsverbot Betroffenen nach Rehabilitierung und Entschädigung nachzukommen. Für 8. November war der Tagesordnungspunkt im „Ausschuss für Soziales und Chancengleichheit“ zur Behandlung angesetzt (im Gemeinderat am 10.11.), in der ersten Novemberwoche wurde dies jedoch auf 14. Februar 2023 verlegt. Laut Verwaltung hätten auf Grund von Personalproblemen und der hohen Antragszahl viele Anträge verschoben werden müssen.
In Stuttgart findet am 2.12. ein Gesprächstermin von drei Betroffenen mit der neuen Wissenschaftsministerin Petra Olschowski (Grüne) statt. Kretschmann wird auch im Neuen Jahr kaum Ruhe bekommen.
Martin Hornung