Reichsbürger-nahe Demos in Mannheim
Wenn in der Neckarstadt immer mal wieder, wie am 8. Juni oder 9. Juli eine Marschtrommelgruppe zu hören ist, handelt es sich nicht um einen unzeitigen Auftritt einer Guggemusik-Truppe, sondern um den Umzug einer unscheinbaren, gut 30-köpfigen Gruppe von Protestierenden. „Freiheit! Freiheit!“ rufen sie und tragen ein Fronttransparent: „Freiheit für politisch Gefangene!“ bzw. gedruckte weiße Pappen mit der Forderung: „Freilassung aller politischen Gefangenen!“.
Ihr Ziel ist die Herzogenriedstraße 111, die Landesvollzugesanstalt. Nach ihrer Rückkehr von dort halten sie am Rande des leeren Neuen Messplatzes eine Abschlusskundgebung für sich selbst. Es geht schwerpunktmäßig um die Freilassung von offensichtlich auch in Mannheimer Untersuchungshaft sitzenden Gesinnungsgefährten. Man fordert deren Freilassung – sofort, nicht wie bei dem Unternehmer und Gründer der „Querdenker“-Bewegung Michael Ballweg erst nach neun Monaten am 4.4.23 aus der U-Haft in Stammheim.
Eine Teilnehmerin erklärt auf Nachfrage, es handle sich bei den in Mannheim Einsitzenden um Männer, die bei der bundesweiten Großrazzia am 7. Dezember 2022 sowie bei der Folge-Razzia am 22. März 23 in Pforzheim festgenommen worden seien und seither „ohne Anklage“ sitzen. Beide Razzien – die erste mit 3.000 Einsatzkräften – hatten die Festsetzung von als gewaltbereit eingeschätzten und teilweise bewaffneten „Reichsbürgern“ zum Ziel. Unter den Gesuchten waren damals nach Presseberichten auch der Unternehmer Heinrich XIII. Prinz Reuß, ehemalige Soldaten der Bundeswehr einschließlich KSK, und eine Berliner Richterin und ehemalige AfD-MdB.
Auf die Frage, warum man die Leute, die nun in Mannheim im Gefängnis sitzen, verhaftet habe, antwortet eine Demonstrantin, die hätten eben die Wahrheiten gesagt, die man nicht mehr sagen dürfe. Die Wahrheit z.B. über die „Erfinder“ der Covid-Pandemie oder, im Falle ihres Ehemannes, die Wahrheit über die massive Zunahme der „Kinderschändungen“, was man nicht hören wolle.
Ob die Verhaftung eventuell etwas mit der Verfolgung der „Reichsbürger“ zu tun haben könnte? „Nein! – Wer ist das überhaupt, die ‘Reichsbürger’?“ (Eine Antwort, die auch andere Angesprochene sofort geben.)
Die Frau verweist auf den Fall ihres Mannes. Der sollte außerdem 3.500 EUR Einkommensteuer zahlen, obwohl er das gar nicht könne. Die Steuer sei von den Nazis eingeführt worden. Deswegen, so die Frau, sei sie strikt gegen die Nazis. Außerdem sei die Steuer 2007 außer Kraft gesetzt worden, werde aber immer noch erhoben, weil das niemand wisse. Man fragt sich, woher sie und ihre Gruppe diese interessanten Neuigkeiten weiß.
Und überhaupt sei das Finanzamt nur eine Firma, wie die ganze Bundesrepublik…
Wer das nicht glaubt, so die Frau weiter, solle mal im Internet unter „UPIK“ nachschauen. Das sei ein internationales Firmennummernsystem. Die “Eliten” hätten inzwischen z.B. auch den Finanzämtern eine Firmennummer gegeben. Damit sei erwiesen, dass der deutsche Staat aufgehört habe zu existieren, man lebe in einem staatsfreien Rahmen. Das sei letztlich Geheimwissen, welches unterdrückt werde.
Tatsächlich existieren diese Nummern. „Die D&B D-U-N-S® Nummer (Data Universal Numbering System) ist ein “nicht-sprechender” 9-stelliger Zahlenschlüssel zur weltweiten und eindeutigen Identifizierung von Geschäftspartnern. Er wurde von D&B 1962 eingeführt und ist heute der Schlüssel zu Daten von weltweit mehreren hundert Millionen privatwirtschaftlichen Unternehmen und öffentlichen Einrichtungen.“ (https://www.dnb.com/de-de/upik/was-ist-die-duns-nummer/). „Aufgebaut wurde UPIK® vom Verband der Automobilindustrie (VDA) und dem Verband der Chemischen Industrie (VCI) gemeinsam mit Dun & Bradstreet Deutschland.“
Solches abstruses „Offenbarungswissen“ beseelt die versammelten Menschen, die sich ihrer Rolle als eigentlich Wissende und deswegen Verfolgte sicher sind. Das gilt natürlich auch für das Thema Covid-19, das auf einigen Pappen und Aufklebern noch in der bekannten Weise mitgeschleppt wird. Zum Thema Ukraine wird das Wissen aus den angeblich nur noch heimlich erreichbaren Kanälen der Russischen Föderation gesaugt. Und über alles Volk herrschen, jedes Thema manipulieren die „Eliten“, zurzeit angeführt vom Gründer und Geschäftsführer des World Economic Forum (WEF) in Davos, Klaus Schwab.
Diese „Ehre“ wird ihm durch die WEF-Initiative „Covid-19: Der große Umbruch“ zuteil, englischsprachig verbreitet unter dem Titel „The Great Reset“. Kern dieses Buches ist die auch in kapitalistisch festgelegten Kreisen dämmernde Erkenntnis, dass mit reiner Profiterwirtschaftung die gravierenden Zukunftsprobleme nicht so gelöst werden können, dass der Kapitalismus überlebt. Es komme auf Nachhaltigkeit und Ressourceneinsparung an, z.B. durch die Stärkung der Sharing-Wirtschaft (wie car-sharing). Die „Globalisten“ und Eliten setzen also nach dem von der Neuen Rechten und den Identitären so genannten Projekt „Großer Austausch“ nun zum „Great Reset“ an, der nach neurechter Auffassung die „Enteignung des Volkes“ bezwecke. Zum Beispiel dürfe bald niemand mehr ein eigenes Auto besitzen. Die Car-sharing-Propaganda sei der Beweis. Man könnte noch ergänzen: In Deutschland müssen jetzt auch noch die Heizungen ausgetauscht werden…
Und da sind wir – gerade noch das kleine Häuflein Verschwörungsgläubiger belächelnd – mitten in den sehr aktuellen Themen angekommen, die garantiert auch die Mannheimer Oberbürgermeisterwahl etwas aufgemischt haben.
Eine Demonstrantin verteilt noch schnell ein Werbeblättchen für den online-Fernsehsender AUF1 (“Alternatives Unabhängiges Fernsehen Kanal 1”), der – in Österreich gegründet – inzwischen einige rechtsradikale und neurechte Medien geschluckt hat wie den österreichischen FPÖ-nahen „Wochenblick“, „eingeschenkt.tv“ (Kooperationsabkommen) und den esoterischen Schweizer Gesundheits-Kanal “QS24”. Die AfD inseriert bisweilen bei AUF1 und hat dort viele Auftrittsgelegenheiten. AUF1betreibt lt. Wikipedia in Berlin inzwischen ein eigenes Büro.
Das Flugblatt beschreibt kurz und bündig die Mission von AUF1:
„Die Medien-Revolution ist nicht aufzuhalten! – Tägliche Nachrichten von Montag bis Freitag – Spannende Interviews mit Fachleuten, die ihnen der Mainstream vorenthält – Sondersendungen zur Klima-Lüge, Migrations-Lüge, Corona-Lüge und zum ‚Great Reset‘.“ Die genannten Fachleute sind z.B. der AfD-Flügel-Mann Björn Höcke und der rechtsextreme identitäre Aktivist Götz Kubitschek (Antaios-Verlag). Letzterer erregt sich z.B. in einem „spannenden Interview“ darüber, dass Sahra Wagenknecht die historische Chance versäumt habe, bei der großen Ukraine-Friedensdemonstration in Berlin im Kampf gegen den Atomkrieg den Schulterschluss mit der Rechten eingegangen zu sein, die schließlich auch gegen die Atomktriegsgefahr kämpfe. Er muss also weiter warten…
Das Demonstranten-Grüppchen führt natürlich auch etwas für die Seele mit: Rote Herzen an langen Stielen. Und „Frieden schaffen durch Liebe!“.
Nach der Schlusskundgebung am Neuen Messplatz besteigen die Teilnehmer:innen ihre Autos und fahren zurück, wo sie herkommen: Aus der Gegend zwischen Bruchsal, Pforzheim und Reutlingen. Zulauf aus Mannheim hat das periodisch auftauchende Grüppchen bisher nicht erhalten.
Wenn man sich erfolgreich mit der AfD und ihrem 25%-Potenzial auseinandersetzen möchte, wird man sich durchaus mit AUF-1 auseinandersetzen müssen. Dessen Themen funktionieren auch ohne „übertriebenes“ Verschwörungsgefasel.
Thomas Trüper | Fotos: KIM