Ideologiefrei über Migration reden? Gern.
Kaum liegt die Zahl der Asylanträge in der EU mal wieder über den gewohnten Werten und kaum schaffen es doch mal wieder mehr Menschen die lebensgefährliche Überfahrt über das Mittelmeer zu bestehen, brandet in Europa erneut eine Migrations- und Abschottungsdebatte auf, die sich auch in den Wahlkämpfen und Landtagswahlen in Bayern und Hessen wiedergefunden hat. Während dabei überwiegend die Begrenzung der Migration im Fokus stand, belegen Ökonomen und Sozialforscher, dass vor allem Deutschland in Zukunft deutlich mehr Zuwanderung benötigt, um seinen Wohlstand halten und eine alternde Bevölkerung ausreichend versorgen zu können.
Der Chef der Bundesagentur für Arbeit spricht von etwa 400.000 Arbeitskräften zusätzlich pro Jahr, die hierfür in Zukunft notwendig wären. Beim aktuellen Diskursklima, das auch von Arbeitskräften im Ausland wahrgenommen wird, dürfte diese Zahl schwer zu erreichen sein. Die vor allem von Konservativen und Rechten getriebene Debatte, der sich andere Parteien zu leichtfertig – dafür mit Bauchweh – angeschlossen haben, blendet nicht nur die menschlichen Schicksale von Migrant:innen und vor allem Geflüchteten aus, sondern ebnet auch den Weg in einen ökomischen Abstieg Deutschlands mit all seinen Folgen: Unternehmenspleiten und Abwanderung, wachsende Armut und immer weiter eingeschränkte Handlungsfähigkeit des Staates. Bei weiterhin ausbleibenden staatlichen Investitionen auf Grund einer veralteten Schuldenpolitik, erwartet der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze deswegen einen gefährlichen, fremdenfeindlichen Verteilungskampf um Wohnraum oder soziale Leistungen.
Die wirtschaftlichen Aufstiegsgeschichten des Ruhrgebietes oder auch der baden-württembergischen Automobilindustrie, wären ohne Migration undenkbar gewesen. Mit einem Anteil von 46% an der Gesamtbevölkerung in Mannheim, tragen Menschen mit sogenanntem Migrationshintergrund auch wesentlich zum Wohlstand und der Stärke der Metropolregion bei. Diese Ausgangslage soll zum Anlass genommen werden, sich mit ein paar Begriffen und Vorschlägen aus der Migrationsdebatte der vergangenen Wochen zu beschäftigen.
Zunächst ein paar Fakten.
Die Entwicklung der Bevölkerungszahlen eines Landes hängt ausschließlich von zwei Faktoren ab: Geburten- und Sterberate sowie Zu- und Abwanderung. Bis auf die Jahre 2008 und 2009, verzeichnet Deutschland seit 1990 durchgehend eine positive Netto- Zuwanderung, also mehr Zuwanderung als Abwanderung. Dass Deutschland ein Zuwanderungsland ist, ist also erstmal keine linke These, sondern eine Tatsache. Insgesamt hat sich die deutsche Bevölkerung seit 1990 bei etwa 82 Mio gehalten und ist von 2005 bis 2010 sogar leicht geschrumpft, was aus der Kombination zwischen niedrigen Geburtenraten und geringem, bis negativem Wanderungssaldo in diesen Jahren zu erklären ist. Erst ab 2010 gab es wieder ein leichtes und stetiges Wachstum, bis die Bevölkerung in Deutschland im Jahr 2022 auf 84,3 Mio angewachsen ist.
Zwischen 1990 und 2020 betrug der Durchschnitt des jährlichen Wanderungssaldos etwa +300.000. Für das Jahr 2022 hat das Statistische Bundesamt tatsächlich einen Netto- Zuwanderungsrekord nach Deutschland von etwa 1.462.000 ausgewiesen. Unter den zugewanderten wurden jedoch etwa 1.100.000 Ukrainer:innen erfasst, die damit maßgeblich für den hohen Gesamtwert gesorgt haben. Trotz dieses einmaligen Sprunges, kann man den Zuwachs der Bevölkerung Deutschlands von 82 Mio auf 84,3 Mio (2,8%) innerhalb von 30 Jahren als eher überschaubar ansehen.
Neben der mengenmäßigen Bevölkerungsentwicklung, spielt für das Wirtschaftswachstum das verfügbare Arbeitskraftpotenzial eine große Rolle, da Wirtschaftswachstum erarbeitet werden muss. Mit der seit 2020 begonnenen Eintrittswelle in das Rentenalter der geburtenstarken Jahrgänge, der sogenannten Babyboomer von Mitte der 1950er bis Mitte der 1960er, gehen von nun an jährlich über 1 Mio Menschen in Rente. Der Bedarf an Arbeitskräften steigt auf Grund längerer Lebenserwartung zudem nicht nur in den Sektoren, die von den Älteren verlassen werden, sondern auch in Medizin, Pflege und Betreuung, aber auch anderen DIenstleistungen.
Für einen Zuwachs an Arbeitskraftpotenzial gibt es auch nur zwei Möglichkeiten, an denen kein Weg vorbei führt: Geburten oder Zuwanderung. Zwar ist die Summe der Geburten in Deutschland seit 2010 leicht gestiegen, hat aber einen Wert von 800.000 nie überschritten und ist zuletzt sogar wieder gesunken. In den Jahrgängen, die derzeit in das Arbeitsleben einsteigen, sind die Geburten von 766.999 (2000) auf 685.795 (2005) gesunken. Das heist, in den kommenden Jahren gehen jährlich allein etwa 300.000 mehr Menschen in Rente, als es in Deutschland geborene Menschen gibt, die auf den Arbeitsmarkt kommen können. Und diese Lücke wird auf Grund gesunkener Geburtenraten von 2005 bis 2010 noch deutlich größer. An mehr Zuwanderung führt allein rechnerisch kein Weg vorbei.
Schaffen wir das?
Nun zeigte sich in der Vergangenheit, dass nicht jede Form der Migration (von lat. migratio = Wanderung) geeignet zu sein scheint, parteiübergreifend rechtspopulistische Abwehrreaktionen hervorzurufen, wie wir sie aktuell erneut erleben. Über eine Million Ukrainer:innen konnten bis auf wenige Kommentare von vermeintlichem “Sozialtourismus”, relativ geräuschlos aufgenommen werden. Auch ein Überschuss von über 80.000 im Jahr 2022 nach Deutschland gezogenen EU-Bürger:innen erwirkte keinen Aufschrei.
Stattdessen handelt es sich um eine bestimmte Gruppe von Migrant:innen, die die überwiegende mediale und politische Aufmerksamkeit auf sich zieht: Geflüchete/Schutzsuchende, auch bekannt unter dem Stichwort Asyl (von gr. asylon = Freistätte; Ort an dem einem Verfolgten Schutz gewährt wird). Das individuelle Recht auf Asyl ist nicht nur im Grundgesetz verankert, sondern ergibt sich auch verbindlich aus völkerrechtlichen Verträgen, wie der Genfer Konvention oder der Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Alle Menschen, die um Asyl ersuchen, haben dadurch das Recht auf eine individuelle Prüfung ihres Schutzstatus, also mindestens einer Anhörung ihres Anliegens in einem Asylverfahren.
Von den 2,7 Mio Gesamtzuzügen nach Deutschland im Jahr 2022 entfielen etwa 244.000 und damit rund 9% auf Asylsuchende. 2021 waren es mit 190.000 etwa 14% und 2020 mit 120.000 etwa 10%. In der Regel entfällt weniger als ein Fünftel der Zuwanderung auf Fluchtmigration. Dafür erfährt sie ca. 99% der Aufmerksamkeit. Dass die Zahlen verhältnismäßig niedrig sind ist allerdings auch kein Ruhmesblatt, angesichts der katastrophalen humanitären Lage an den europäischen Außengrenzen und im Mittelmeer.
Immer wieder wurde dabei in den vergangenen Wochen auf die Jahre 2015/2016 verwiesen und die Frage gestellt, ob Deutschland eine solche Zuwanderung noch einmal verkraften könne. Tatsächlich stellten 2015 knapp 500.000 und 2016 über 740.000 Asylanträge bisherige Rekordwerte dar und die Bundesrepublik vor Herausforderungen. Schon im Jahr 2017 sank die Zahl der Asylanträge jedoch wieder auf etwas über 200.000 und in den Folgejahren sogar deutlich darunter. 2022, dem Jahr des russischen Angriffes auf die Ukraine wurde der Wert von 200.000 noch einmal überschritten. Von den 244.132 Asylanträgen aus 2022 wurden 49.330 und damit 21,6% abgelehnt. Im Verhältnis zum Gesamtzuzug von 2,7 Mio in einem Jahr, stellen die abgelehnten Asylbewerber:innen damit 1,82% der 2022 nach Deutschland zugewanderten Menschen dar.
Ende Juni 2023 lebten in Deutschland insgesamt etwa 3 Mio Geflüchtete, von denen allein 1 Mio Menschen aus der Ukraine stammen. Etwa ein Drittel der Gesamtzahl sind Minderjährige. Damit machen Schutzsuchende 3,56% der Bevölkerung in Deutschland aus.
Auch wenn die Zahlen der Asylanträge bis Ende September 2023 bereits bei etwa 250.000 liegen, wird mit etwa 300.000 Asylbewerber:innen bis Jahresende gerechnet, einer Zahl, die fernab dessen liegt, was mit dem Verweis auf 2015 und 2016 gern als Bedrohungsszenario aufgebaut und mit dramatischen Bildern und Schlagzeilen untermalt wird. Sowohl die jährlichen Asylanträge im Verhältnis zur jährlichen Gesamtzuwanderung mit 9%, als auch die Zahl der aktuell in Deutschland lebenden Menschen mit Schutzstatus im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung mit 3,5%, erscheinen nüchtern berachtet eher gering. Angesichts von Herausforderungen wie steigender Armut, marodem Bildungs- und Betreuungssystem oder vernachlässigter Sicherheit gegen die Folgen des Klimawandels, um nur einige zu nennen, werden Migration und Asyl zu einem Problem erhoben, das ausschließlich rechten Kräften zuträgt, wie die Landtagswahlen in Bayern und Hessen gezeigt haben, und zudem den Blick auf die wirklich notwendigen Transformationen ablenkt.
Antworten …
Wenn eine Problemanalyse, wie im Falle der Migration, schon an der Realität vorbei zu gehen scheint, sollte man sich die Lösungsvorschläge besonders gut anschauen. Im Folgenden also eine unvollständige Zusammenfassung einiger beliebter Stichworte und Lösungsvorschläge zum Thema.
- Abschiebung (Rückführung)
Die Abschiebung – von sich progressiv gebenden gern auch Rückführung genannt – ist die mit Zwang durchgesetzte Verbringung von Menschen in ein anderes Land. 2022 wurden 12.945 Menschen aus Deutschland abgeschoben. Abgeschoben werden können Menschen, die kein Aufenthaltsrecht oder keine Duldung haben und die das Land nicht freiwillig verlassen. Von den 3 Mio Schutzsuchenden in Deutschland haben zwar etwa 170.000 Menschen (5,6%) einen abgelehnten Asylantrag, können jedoch aus unterschiedlichen Gründen weiterhin Aufenthaltsrechte, sogenannte Duldungen, geltend machen. Die Zahl der Menschen die “unmittelbar ausreisepflichtig” sind, also theoretisch zeitnah abgeschoben werden könnten, liegt im Juni 2023 bei insgesamt 54.330 und damit bei 1,8% aller hier lebenden Geflüchteten und 0,06% aller in Deutschland lebenden Menschen. Selbst wenn bundesweit alle diese 54.330 Menschen von heute auf morgen abgeschoben werden würden, würde das weder dazu beitragen Kommunen merklich zu entlasten, noch würde es im Alltag der Bürger überhaupt auffallen. Stattdessen würde 54.330 Menschen Leid zugefügt, für das auch noch fünf bis sechsstellige Beträge pro Person anfallen können.
- Einwanderung in die Sozialsysteme
Gerne wird so getan, als würden Geflüchtete in Deutschland ein Lotterleben führen, das zwischen der Übernachtung im Hotel und dem Besuch beim Zahnarzt hauptsächlich darin besteht ihr horrendes Bargeld zu einem Transferdienst zu schleppen, um es in die Heimat zu überweisen. Deshalb wird aktuell die Übereinkunft zwischen Bund und Ländern hervorgehoben, ein Kartensystem einzuführen, welches die Barauszahlung zum Teil ersetzen und den Missbrauch von Geld endlich beenden soll. Missbrauch von Geld ist dabei genau das richtige Stichwort, denn diese Lösung dürfte nicht nur sehr hohe Kosten verursachen, weil es weder die Infrastruktur, noch die Technik oder Bürokratie und das Personal dafür gibt, sondern auch noch kaum wirksam sein, das Problem (welches Problem eigentlich?) zu bekämpfen.
Die Realität der meisten Asylbewerber:innen in Deutschland, die nicht schon vor ihrer Ankunft finanziell einigermaßen gut ausgestatte waren, sieht natürlich völlig anders aus. Sie leben zum Großteil in Massenunterkünften, die weder genügend Platz, noch genügend Perspektiven bieten und erhalten weniger, als das schon nicht armutsfördernde Bürgergeld. Bestimmte Politiker in entscheidenden Positionen gönnen ihnen nicht einmal die monatlichen 20€ Kinderzuschlag, wegen der Gefahr von “Fehlanreizen” (->Pull-Faktoren).
Vor allem eine “Einwanderung in die Sozialsysteme” wird immer wieder als Risiko genannt, das die Steuerzahler überlasten würde. Tatsächlich aber gehören zu eben jenen Steuerzahlern auch etwa die Hälfte der seit 2013 zugewanderten Asylbewerber:innen. (5) Der Begriff “Einwanderung in die Sozialsysteme”, der immer nur unter dem Aspekt des “Ausnutzens” verwendet wird, blendet aus, dass wir in Zeiten, in denen sich immer mehr Deutsche in die Rente verabschieden, eine Einwanderung von Zahlenden in die Sozialsysteme brauchen.
- Kontrollen an Binnengrenzen
Grenzkontrollen erwecken den Eindruck von Kontrolle und signalisieren, dass etwas gegen Einwanderung getan wird. Aber was bringen sie eigentlich? Angenommen an der deutsch-österreichischen Grenze würde ein Bus mit 9 Menschen aus Afghanistan kontrolliert. In dem Moment, in dem sie den Grenzbeamten um Asyl bitten, haben sie einen individuellen Anspruch auf ein Asyl-Verfahren und das Recht sich so lang in Deutschland aufzuhalten, bis über dieses entschieden wurde. Die Befugnis, diese Menschen zurück zu schicken, da sie doch über ein sicheres EU-Land einreisen und sie ihren Antrag dort stellen müssten, obliegt aus guten Gründen nicht den Grenzbeamten. Eine Zurückweisung an der Grenze wäre ein illegaler Pushback, wie vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bereits entschieden. Dabei ist es unerheblich ob dieser auf hoher See oder an der grünen Grenze geschieht. Bewaffnete Grenzer wirken demnach lediglich als Beruhigung der eigenen Bevölkerung, was keine Frage ein berechtigtes Anliegen, aber in diesem Zusammenhang unehrlich und populistisch ist.
- Illegale Migration
Gerade die Bekämpfung illegaler/irregulärer MIgration wird übergreifend als Hauptziel der Migrationsabwehr ausgegeben. “Illegale MIgration” klingt zunächst einmal nach einem bekannten Tatbestand, den es im deutschen Recht jedoch gar nicht gibt. Im Aufenthaltsgesetz ist hingegen von unerlaubtem Aufenthalt die Rede, wenn keine Aufenthaltserlaubnis oder Duldung vorliegt. Ein unerlaubter Aufenthalt mit der Folge der Möglichkeit zur Abschiebung ist naturgemäß, aber erst dann verwirklicht, wenn sich die Personen bereits im Land befinden, dient also nicht der Verhinderung der Einreise. Das ist anscheinend auch denjenigen klar geworden, die stattdessen weitgreifender von einer irregulären Migration sprechen, wobei überwiegend das gleiche gemeint ist und der Eindruck erweckt werden soll, dass schon der Grenzübertritt einfach verboten oder verhindert werden könne. Die einzige und auch in der EU viel diskutierte Möglichkeit ist die rechtliche Verlagerung des Asylantrages an die Außengrenzen. Also Einrichtungen der EU oder der Länder aufzubauen, in denen Asylbewerber ihren Antrag stellen und ein Verfahren erhalten können. Dass dieser Vorschlag ohne die Errichtung von Lagerstrukturen mit all ihren unmenschlichen Folgen auskommt, ist ausgeschlossen. Das bringt nicht nur inhumane Folgen mit sich, sondern werden die meisten Menschen versuchen diesen Lagern zu entgehen und direkt in die EU zu kommen, was Schleusertätigkeiten nicht bekämpft sondern weiterhin fördern wird.
- Obergrenze
Unter der seit Jahren propagierten Obergrenze (neu- konservativ: Integrationsgrenze) ist vermutlich eine Limitierung möglicher Migration nach Deutschland zu verstehen. Auf Grund der häufig genannten Zahl von 200.000 ist davon auszugehen, dass sich diese Obergrenze ausschließlich auf Asylanträge und nicht auf jegliche Zuwanderung bezieht, da diese Zahl recht nahe an den Asylbewerber:innen- Zahlen der vergangenen Jahre liegt. Dabei ist diese Zahl rein willkürlich, da es überhaupt keine Belege dafür gibt, dass eine Integration darüber hinaus massiv erschwert würde. Rechtlich steht einer solchen Obergrenze das individuelle Recht auf Schutz (siehe oben) dermaßen entgegen, dass eine solche Begrenzung ohne Änderungen des Grundgesetzes und der Aufkündigung völkerrechtlicher Verträge überhaupt nicht möglich ist. Ähnlich wie Grenzkontrollen, dient der Begriff “Obergrenze” also lediglich als populistisches Element der Stimmungsmache. Dementsprechend konnte bisher auch niemand die Frage antworten, was mit dem 200.001 Asylbewerber passiert.
Da nützt es auch nichts ihn durch Integrationsgrenze auszutauschen. Das neue Label führt eher zu noch mehr Unklarheit, da auch Schwed:innen, Französ:innen oder Pol:innen integriert werden müssten, wenn sie hier leben und sich deshalb die Frage stellt, ob diese Grenze dann auch für EU-Bürger:innen gelten würde. Mal angenommen, dem würden nicht ebenso mehrere Gesetze widersprechen, wäre das unter humanitären Aspekten sogar geboten, um mehr Kapazitäten für Asylbewerber:innen zu haben, da diese vermutlich unter größerer Not leiden, als Menschen aus Frankreich, Schweden oder den Niederlanden. Aber dass der Urheber des Begriffes “Integrationsgrenze” dies im Sinn hatte, darf bezweifelt werden.
- Pull-Faktoren
Das Push-Pull Modell der Migration ist ein ökonomisches Modell auf Basis der rational choice , also der Annahme, dass sich Menschen in bestimmten Situationen nach Abwägung verschiedener Faktoren, für die für sie gewinnbringendste Wahl entscheiden. Dieses Modell und das zugrunde liegende Menschenbild sind bereits in der Ökonomie umstritten und die Ausweitung einer simplen Theorie auf komplexe MIgrationsfragen kaum haltbar. Allein schon die Tatsache, dass viele Migrant:innen nicht aus ökonomischen Gründen ihre Heimat verlassen, sondern auf Grund von Kriegen, Verfolgung oder bedrohten Lebensgrundlagen. Gesucht werden Pull-Faktoren in Ökonomie, Gesellschaft, Demografie oder Politik. Oder zusammengefasst: Alles von dem Menschen in ihrem Alltag umgeben sind.
Wissenschaftliche Belege für die Wirkung einzelner Pull-Faktoren gibt es hingegen nicht. Selbst der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages sieht es als „zumindest fraglich, inwiefern sich der konkrete Einfluss einzelner, isoliert betrachteter Faktoren auf das Migrationsgeschehen exakt bestimmen lässt. Dieses Modell der Migration gilt in Fachkreisen eher als veraltet und nur als sehr vage Idee. Gefährlich ist diese Idee/Ideologie trotzdem, da sie die unwürdige Behandlung von Menschen pseudowissenschaftlich als das Verhindern von Pull-Faktoren verschleiert.
Manch einer sieht jeden in Aussicht gestellten Euro als gefährlichen Pullfaktor (siehe Kinderzuschlag), so als würden die Menschen überall auf der Welt täglich mit dem Taschenrechner in der Hand Zeitungen und Nachrichten nach deutscher Sozialpolitik durchkämmen. Oder also ob die Menschen in den Lagern an den europäischen Außengrenzen die Flucht aus den dortigen, unmenschlichen Zuständen davon abhängig machen, ob das Rettungsschiff einer NGO mehr oder weniger auf dem Mittelmeer unterwegs ist, nachdem sie bereits tausende Dollar, Kilometer und Angehörige hinter sich lassen mussten.
- Sichere Herkunftsstaaten
Ein weiterer Lösungsansatz liegt darin, mehr Länder als sichere Herkunftsstaaten einzustufen. Das bedeutet, dass Asylanträge von Menschen aus diesen Ländern, in der Regel abgelehnt werden, wenn sie nicht ausdrücklich Verfolgung nachweisen können. Neben den MItgliedstaaten der EU gelten derzeit Albanien, Bosnien und Herzegowina, Ghana, Kosovo, Mazedonien, Montenegro, Senegal und Serbien als sichere Herkunftsstaaten. Unter den zehn zugangsstärksten Staatsangehörigkeiten 2022 findet sich darunter lediglich Nordmazedonien mit 5.602 Asylanträgen. Im Gespräch zur Ausweitung der Liste der sicheren Herkunftsstaaten stehen Georgien (8.865 in 2022) und Moldau (5.218 in 2022). Davon betroffen wären also knapp 20.000 Menschen oder 0,74% der 2022 zugereisten. Da auch allen Menschen aus sicheren Herkunftsstaaten das individuelle Recht auf eine Anhörung im Asyl-Verfahren zusteht, wird eine Ausweitung sicherer Herkunftsstaaten ebenfalls nichts daran ändern, dass diese Menschen nach Deutschland einreisen dürfen, wenn sie hier Schutz suchen. Eine Entlastung von Kommunen wäre bei den geringen Zahlen ebenfalls nicht zu vermuten.
… aber wie lautet eigentlich die Frage?
Auch wenn sich ein sogenannter (Fach-) Kräftemangel in Deutschland erst allmählich andeutet – viele Stellen bleiben aktuell eher wegen schlechter Arbeitsbedingungen, zu niedriger Löhne oder aus strukturellen Gründen unbesetzt – weisen ökonomische und demografische Daten darauf hin, dass Deutschland in Zukunft deutlich mehr Migration brauchen wird, um seinen Bedarf an Arbeitskräften zu decken. Zuwanderungsgegnern muss also der Vorwurf gemacht werden, dass sie die wirtschaftliche Zukunft Deutschlands und damit den Lebensunterhalt und die Zukunft von Millionen Menschen vorsätzlich aufs Spiel setzen, nur um für einen vermeintlichen Vorteil keine Gelegenheit des billigen Populismus auszulassen. Dass die SPD damit krachend gescheitert ist, zeigen die Ergebnisse aus Bayern und Hessen. Es verwundert aber auch, dass sich gerade diejenigen mit Abschiebungs- und Abschottungsfantasien hervortun, denen in Umfragen häufig eine gewisse Wirtschaftskompetenz zugesprochen wird. Nicht Ausländer nehmen den deutschen die Arbeitsplätze weg, sondern Ausländerfeindlichkeit sorgt dafür, dass Unternehmen samt Arbeitsplätzen perspektivisch abwandern werden, sollten sie hier keine Arbeitskräfte und ein gutes Beschäftigungsklima für ihre ausländischen Mitarbeiter:innen mehr finden.
Die zur Abwehr von Geflüchteten vorgebrachten “Lösungen” sind kaum geeignet das zu erreichen, was ihre Befürworter:innen versprechen. Überhaupt scheint nicht einmal klar zu sein, was genau das “Migrationsproblem” sei und wie die “Migrationsfrage” überhaupt lautet? Politiker:innen und Medien tun häufig so, als wäre dies doch selbstverständlich, aber eine exakte Problembeschreibung findet sich kaum.
Ja es gibt viele Kommunen, die überfordert sind. Aber liegt das tatsächlich an zu wenig Abschiebungen oder an jahrelanger Vernachlässigung der Infrastruktur und einer fehlgeleiteten Finanzpolitik? Ja das Bildungssystem schafft es kaum die Integrationsleistung zu erbringen, die liberale gerne hochhalten. Aber liegt das tatsächlich an den Migrant:innen oder an einem an Leistung und Arbeitsmarktkonformität zugerichteten Schulsystem, an dem auch sehr viele nichtmigrantische Kinder leiden? Ja es gibt einen Mangel an bezahlbahrem Wohnraum. Aber können wirklich Asylbewerber:innen dafür verantwortlich gemacht werden, dass in vielen Städten teilweise selbst Familien mit zwei Einkommen kaum noch Wohnraum finden?
Es geht überhaupt nicht darum Herausforderungen zu verschweigen, die eine starke Migration mit sich bringen. Nur scheinen gerade Schutzsuchende für vieles verantwortlich gemacht zu werden, für das sie am wenigsten können und eine bessere Migrationspolitik wird als Lösung für vieles inszeniert, die sie weder sein kann, noch sein soll.
Zum Schluss doch noch ein wenig Ideologie …
Dass nur ein bestimmter Bruchteil der Gesamtzuwanderung (10-15%) ausreicht eine Debatte dermaßen zu befeuern, deutet darauf hin, dass gar nicht so sehr danach gemessen wird, wie viele Menschen nach Deutschland/Europa kommen, sondern welche. Hierin liegt das Einfallstor für Armutsverachtung, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit sowie andere Formen der Menschenverachtung. Diese bieten die Grundlage für einen Klassenkampf von oben, in dem Lohnabhängige Menschen gegeneinander ausgespielt werden, obwohl genügend materieller Wohlstand vorhanden wäre, eine ausreichende Versorgung für alle zu gewährleisten.
Der Anschauung folgend, dass universalistische Rechte eine zivilisatorische Errungenschaft sind, hat sich Deutschland aus guten Gründen und auf Grund historischer Verantwortung zum internationalen Völkerrecht über Geflüchtete/Schutzsuchende bekannt und dessen Achtung in das Grundgesetz überführt. Dass es sich um einen individuellen Anspruch handelt, ist ein wesentlicher Bestandteil dieses Rechts, den es konsequent zu verteidigen gilt, ob gegen konservative Rechtsausleger oder verwirrte Pensionäre. Der Fehler, den diejenigen Parteien gemacht haben, die bei den vergangenen Wahlen so sehr abgestraft wurden, ist sicher nicht, dass sie falsche Prioritäten im Hinblick auf Migration gesetzt haben oder zu nachsichtig bei der Migrationsabwehr gewesen seien, sondern dass sie das Thema selbst dermaßen mit in den Vordergrund gedrängt haben. Auch viele Medien haben dieses Spiel angenommen und dem Thema damit zu dem Einfluss verholfen, den es dann hatte.
Tatsächlich haben viele Wähler:innen angegeben, dass Migration eines der entscheidenden Themen für ihre Wahl war, bzw. dass sie darin eine der wesentlichen Herausforderungen für die Zukunft sehen, was vermutlich auch richtig ist. Nur wurde die Debatte viel zu schnell auf bestimmte Lesarten zugeschnitten, statt sie kritisch und distanziert zu begleiten. Verantwortungslose Politiker:innen können sich natürlich einfach darauf berufen, dass sie doch vermeintlich nur die Stimmung aus der Bevölkerung aufgreifen. Verantwortungsvolle Politiker:innen, und die braucht es in Zeiten großer Transformationen besonders, dürfen aber nicht so tun, als hätte die Politik keinerlei Einfluss darauf, wie über bestimmte Themen gesprochen wird, beziehungsweise welcher Stellenwert ihnen eingeräumt wird. Wenn den vergangenen Wahlen etwas Positives abgerungen werden kann, dann die Hoffnung, dass Linke, progressive Liberale und vielleicht auch ein paar Sozialdemokrat:innen einsehen, dass man kein Thema den Rechten überlassen muss, aber dass wer rechte Töne spielt, vor allem Rechte Stimmen stärkt.
Text: DeBe
Hinweise:
Bundeszentrale für politische Bildung: Asylanträge in Deutschland; https://www.bpb.de/themen/migration-integration/zahlen-zu-asyl/265708/asylantraege-in-deutschland/
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge:
– Aktuelle Zahlen September 2023. Unter: https://www.bamf.de/DE/Themen/Statistik/Asylzahlen/asylzahlen-node.html
– sichere Herkunftsländer: https://www.bamf.de/DE/Themen/AsylFluechtlingsschutz/Sonderverfahren/SichereHerkunftsstaaten/sichereherkunftsstaaten-node.html
DW: https://www.dw.com/de/deutschland-braucht-400000-migranten-pro-jahr/a-58962209
Financial Times: Adam Tooze: Germany must invest to neutralise the far-right threat: https://www.ft.com/content/ff6f9bbe-d50f-413d-8287-51f3fe070142
Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung:
– https://www.iab-forum.de/was-wissen-wir-ueber-die-erwerbstaetigkeit-von-gefluechteten-in-deutschland-einige-antworten-auf-haeufig-gestellte-fragen/
Mediendienst Integration:
– https://mediendienst-integration.de/migration/flucht-asyl/zahl-der-fluechtlinge.html
– https://mediendienst-integration.de/migration/flucht-asyl/abschiebungen.html#c1544
Sozialatlas Mannheim 2021
Tagesschau: “Pull-Faktoren werden deutlich überschätzt.” unter: https://www.tagesschau.de/faktenfinder/migration-push-pull-faktoren-101.html