Ludwigshafener Grundschulen und Kitas: Schlimmer geht’s immer!
Es stand wohl bundesweit noch nie eine Grundschule so sehr und so lange im öffentlichen Interesse wie die Gräfenauschule im Ludwigshafener Hemshof im vergangenen Jahr. Der Auslöser war eher zufällig gewesen: In einem Gespräch mit der Rheinpfalz hatte Schulleiterin Barbara Mächtle Anfang April 2023 angemerkt, dass 28 Kinder im vergangenen Schuljahr (2021/22) die erste Klasse hätten wiederholen müssen, in diesem Schuljahr (22/23) würden es wohl schon 40 sein. Es waren schließlich nur 39 Kinder, aber bei etwa 130 Kindern in den ersten Klassen war fast jedes dritte Kind betroffen. Schnell wurde klar: In anderen sogenannten Brennpunktschulen Ludwigshafens sieht es nicht viel anders aus, genannt wurden die Goethe-Schule, die Erich-Kästner-Schule, die Schillerschule und die Blies-Schule.
Es erhob sich ein gewaltiges Blätterrauschen, immer wieder wurde die Schulleiterin zu Recht für ihren Mut gelobt. (Wobei es in einem demokratischen Schulsystem von einer Schulleitung eigentlich Mut erfordern sollte, die Öffentlichkeit nicht über solche Missstände zu informieren.) Auch in der Politik begannen die Hosen zu wackeln. Ludwigshafener Politiker*innen wurden in Mainz vorstellig, Mitglieder der Landesregierung begaben sich hinab in Ludwigshafener Gefilde und brachten für die Schulen Verantwortliche der Trierer ADD (früher “Bezirksregierung”) gleich mit. Es gab ungezählte Aussprachen, Pressemitteilungen, runde Tische und mutige Absichtserklärungen, aber auch Beschlüsse.
Besonders hervorgehoben wird eine Initiative des Mainzer Bildungsministeriums, die von diesem mit der bescheidenen Bezeichnung “Projekt First-Class” belegt wurde und darin bestand, dass zum Schulstart Studenten sechs Wochen lang als Unterstützung in den ersten Klassen eingesetzt wurden. Das Ergebnis teilt die Rheinpfalz am 23.4.24 mit: Dieses Jahr sind es laut Schulleiterin Barbara Mächtle 44 Kinder, die das Klassenziel nicht erreichen, also noch fünf mehr als letztes Jahr.
Der Rheinpfalz-Artikel, der vor einem Jahr die Lawine auslöste, trug die Überschrift “Eine Grundschule am Limit”. Wo ist dann die Gräfenauschule jetzt und wo sind die anderen Grundschulen? Vor allem jedoch: Was bedeutet das für die betroffenen Kinder und ihre Familien? Als Hauptgrund für das Nichterreichen der Klassenziele werden immer wieder unzureichende Sprachkenntnisse an erster Stelle genannt. Am selben Tag aber, an dem die Rheinpfalz informierte, dass noch mehr Kinder die erste Klasse in der Gräfenauschule wiederholen müssen, konnten fassungslose Leser und empörte Eltern dort lesen: Statt bisher 2.000 fehlen aktuell mehr als 3.100 Kitaplätze in Ludwigshafen. Nach Mitteilung des Stadtelternausschusses ist damit mehr als einem Drittel aller Kinder mit Betreuungsbedarf trotz gesetzlichem Rechtsanspruch kein Betreuungsplatz zur Verfügung gestellt worden, womit Ludwigshafen das höchste Kitaplatz-Defizit aller Kommunen in Rheinland-Pfalz erreicht hat.
Sprachdefizite, dies ist bekannt, stehen in engem Zusammenhang mit ungleichen Bildungschancen. Damit aber die Debatte nicht, wie dies mehrfach der Fall war, in fremdenfeindliche Schuldzuweisungen ausartet, sollten wir sowohl Ursachen als auch mögliche Lösungen sachlich und differenziert betrachten. Viele Studien haben gezeigt und führende Bildungsforscher*innen wie Jutta Allmendinger und Aladin El Mafaalani weisen schon lange beharrlich auf etwas hin, das in einer Schule wie der Gräfenauschule, wo 98 Prozent der Kinder einen Migrationshintergrund haben, leicht übersehen werden kann:
Migrationshintergründe sind nur scheinbar die Ursache beeinträchtigter Bildungschancen!
Benachteiligt sind Kinder aus unteren sozialen Klassen mit und ohne Migrationshintergrund. Dieser Herkunftseffekt zieht sich über die gesamte Bildungslaufbahn. Kinder aus unteren sozialen Klassen bekommen deutlich seltener einen Kita-Platz, die von ihnen besuchten Grundschulen sind schlechter ausgestattet, auch bei gleichen Grundschul-Abschlussnoten wechseln weniger von ihnen auf ein Gymnasium, ihr Anteil an Abiturienten ist geringer, auch bei gleichen Abiturnoten nehmen weniger von ihnen ein Studium auf, und der Anteil der Studienabbrecher ist höher. Das alles, wie gesagt, mit und ohne Migrationshintergrund.
Am schwersten zu ertragen ist aber, dass nach allem, was bekannt ist, die freiwilligen Wiederholungen den Kindern möglicherweise mehr schaden als nützen. Die Nebenwirkungen scheinen die heilsamen Wirkungen zu übertreffen. Die für Rückstellungen vorgetragenen Argumente klingen plausibel und vor allem menschlich: Das Kind wird nicht mehr überfordert, hat erst mal Zeit, besser Deutsch zu lernen, ist vielleicht bei den Besseren und nicht immer bei den Schlechteren usw. Klaus Klemm, einer der erfahrensten und renommiertesten deutschen Bildungsforscher, untersuchte für die Bertelsmann-Stiftung die Auswirkungen von Klassenwiederholungen in der Grundschule und fasste seine Ergebnisse so zusammen: Klassenwiederholungen sind teuer und unwirksam. Weder die nicht versetzten Schülerinnen und Schüler noch diejenigen, die in der Klassengemeinschaft verbleiben, zeigen eine bessere Lernentwicklung.
Jetzt geht es nicht nur darum, viel mehr Geld für Lehrpersonal und Ausstattung unserer Schulen zu erkämpfen, sondern auch darum, eine völlig neue Art Schule zu entwickeln, die den geänderten Bedürfnissen der Kinder und der Gesellschaft gerecht werden kann. Die erfreulich rührige Initiative “Bildungswende JETZT!” (Bildungswende JETZT! (bildungswende-jetzt.de)) vertritt, dass jetzt umgesteuert werden muss, weil unser Bildungssystem “veraltet, unterfinanziert und sozial ungerecht” ist. Ein sowohl theoretisch und praktisch gut entwickelter und erfolgreich erprobter Ansatz ist das Konzept der solidarischen Pädagogik, das von der Bildungsjournalistin Brigitte Schumann seit vielen Jahren auch in der GEW-Zeitschrift “Bildung und Wissenschaft” bekannt gemacht wird.
Michael Kohler