Veranstaltung mit Nahostexpertin Baumgarten auf dem Marktplatz Mannheim
Veranstaltung zu Israel/Palästina trotz Raumabsage durchgeführt
„In diesem Land zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan-Fluss müssen alle Menschen in Freiheit, in Gleichheit und denselben Rechten leben können. Nur so ist eine Lösung möglich“.
Am 30. September wollte die Nahost-Gruppe Mannheim eine Veranstaltung in den Räumen in der St. Sebastian Kirche am Markplatz Mannheim durchführen. Vortragsrednerin war Frau Prof. Helga Baumgarten mit dem Thema „Vertreibung der Palästinenser ohne Ende- gibt es Hoffnung für die Zukunft?“
Dem Veranstalter, der Nahost-Gruppe Mannheim, wurden wohl nach Intervention seitens einer oder mehrerer Personen aus dem Umfeld der Jüdischen Gemeinde Mannheim die Veranstaltungsräume gekündigt.
Damit die Veranstaltung trotzdem stattfinden konnte, mietete der Veranstalter kurzfristig ein Zelt und stellte es auf dem Marktplatz auf. Das Zelt war mit etwa 100 Leuten prall gefüllt. Außerhalb des Zeltes verfolgten weitere 30 Leute die Veranstaltung. Sie besorgten sich Stühle von den umliegenden Cafés. Die Seitenwand des Zeltes wurde geöffnet, so dass auch sie die Veranstaltung verfolgen konnten.
Dem Vortrag der Nahost-Expertin, der mit vielen Informationen gespickt war, schloss sich eine interessante Diskussion an.
Gerade zurzeit ist es sehr schwierig, einen kontroversen Diskurs mit der Thematik Israel/Palästina zu führen. Trotzdem wäre genau dieses sehr bedeutsam. Statt Weghören ist Zuhören oft besser, auch wenn es die andere Seite ist. Ein gegenseitiges Verhindern oder Canceln von Veranstaltungen oder ähnliches ist in diesem Sinne absolut kontraproduktiv.
Im Folgenden veröffentlichen wir ein Interview, das das Kommunalinfo vor Beginn der Veranstaltung mit Helga Baumgarten geführt hat. Man kann und muss nicht mit allen einverstanden sein, was Frau Baumgarten äußert. Der Vorwurf des Antisemitismus, der Kritikern der Politik des Staates Israel immer wieder gemacht wird, wird allerdings durch das Interview in keiner Weise belegt.
Roland Schuster
Interview mit Frau Prof. Helga Baumgarten
Kommunalinfo: Was sagen Sie zur ursprünglichen Absage der Veranstaltung?
Baumgarten: Ich betrachte es einfach als unsäglich, dass man in Deutschland nicht Solidarität üben darf mit Menschen, die seit Oktober einem regelrechten Völkermord ausgesetzt sind. UN-Mitarbeiter nennen inzwischen den GAZA-Streifen den größten Kinderfriedhof, den es weltweit gibt. Was im Gaza-Streifen passiert, immer noch passiert, wird von vielen UN-Spezialisten als ein grausiges Morden und Abschlachten bezeichnet. Von dem sie sagen, dass sie in ihrer ganzen Karriere so etwas nicht erlebt haben. Es muss erlaubt sein, diese Umstände zu schildern. Mit Antisemitismus hat das absolut nichts zu tun.
Kommunalinfo: Gibt es ähnliche oder andere Erfahrungen in anderen Städten?
Baumgarten: Speziell in Deutschland und Österreich, also generell im deutsch-sprachigen Raum, hat man offensichtlich Probleme damit, wenn Leute sich zu Palästina äußern. Ich habe bei meiner Vortagsreise immer wieder erlebt, dass man Schwierigkeiten hatte, Räume zu finden, man hat sie aber immer wieder gefunden. Der einzige Ort in meiner langen Vortragskarriere, in dem man in ein Zelt ausweichen musste, ist tatsächlich Mannheim. Sonst hat doch immer noch einen Ersatzraum gefunden.
Kommunalinfo: Kritik an der Politik der israelischen Regierung wird in Deutschland allzu schnell als antisemitisch gewertet. Kann man es so auf den Punkt bringen?
Baumgarten: Das ist absolut Unsinn. Jede Regierung in der Welt muss, nicht nur darf, nein muss kritisiert werden, und das israelische Regime, die israelische Regierung unter Netanjahu ist eine so menschenverachtende Regierung, die inzwischen Minister hat, die selbst in der israelischen Presse nicht nur als Rassisten sondern als Faschisten bezeichnet werden. Wie soll ich als Wissenschaftler dieses Regime bezeichnen? Ich setze mich mit einem Regime auseinander. Ich setze mich nicht mit Juden auseinander. Und wir sollten nicht vergessen, und das vergisst man in Deutschland oft, wir haben ganz viele jüdische Stimmen, wir haben in den USA Jewish Voice for Peace als jüdische Stimme für Frieden, wir haben in Deutschland die Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost, die alle voll und ganz auf der Seite der Palästinenser stehen. Und natürlich Netanjahu und sein Regime kritisieren.
Kommunalinfo: Über die Palästinenser wird in Deutschland vom politischen Mainstream ziemlich pauschal gesagt, dass sie sich nicht von politischer Gewalt lossagen, dass sie speziell den Hamas-Überfall vor einem Jahr auf israelische Zivilisten nicht oder nicht ausreichend verurteilen. Was sagen Sie hierzu?
Baumgarten: Es gibt hier verschiedene Dinge. Die Palästinenser, speziell die Palästinenser im Gaza-Streifen, leben mindestens seit 1967 unter einem brutalen Besatzungsregime, sind dort permanent der massivsten Gewalt ausgesetzt. In jedem Krieg, ganz speziell jetzt seit 2006 gibt es immer wieder Tausende von Toten. Die in der Geschichte normale Reaktion auf Besatzungen, auf Unterdrückung, auf Gewalt ist Gegengewalt. Und die Palästinenser unterstützen die Hamas, weil sie sagen, die Hamas leistet Widerstand gegen dieses wahnsinnige Regime in Israel. Und was Israel seitdem im Gazastreifen macht, hat wenig mit der Hams zu tun. Das ist ein Krieg gegen die gesamte Gesellschaft. Inzwischen haben wir reihenweise israelische Minister und Politiker, die sinngemäß sagen, „jeder Palästinenser ist potenziell ein Terrorist, am Besten bringen wir alle um, und fangen an mit den Babys, denn auch aus den Babys werden Terroristen“. Das ist der Kontext, den man in Deutschland geflissentlich übersieht.
Kommunalinfo: Von der israelischen Seite wird solches (Verurteilung der politischen Gewalt, Vermeidung ziviler Opfer) gleichermaßen wohl nicht verlangt, ja sogar von der Selbstverteidigung Israels gesprochen. Haben wir es hier mit einer Politik unterschiedlicher Standards zu tun?
Baumgarten: Ja, ganz eindeutig. Kein Mensch kommt auf die Idee, dass eine Gesellschaft, die seit 1967 unter einer brutalen Besatzung leidet, kein Recht auf Selbstverteidigung hat. Aber der stärkste Staat in der Region, eine Atommacht, dem steht man immer nur das Recht auf Selbstverteidigung zu. Laut internationalem Recht ist Israel eigentlich, da es nach wie vor den GAZA-Streifen und die Westbank besetzt hält, dazu verpflichtet, die Menschen dort zu schützen und zu versorgen. Nicht gegen sie zu verteidigen. Das ist absurd.
Kommunalinfo: Was ist das strategische Ziel Israels mit der Regierung Netanjahu an der Spitze in seinem Vorgehen in Gaza, im Westjordanland und im Libanon?
Baumgarten: Krieg, Krieg, Krieg und nochmal Krieg. Netanjahu will Israel in eine absolut hegemoniale Position versetzen, in der es niemanden mehr gibt, der es auch nur wagt, den Mund aufzumachen gegen Israel. Wenn er den GAZA-Streifen zerstört hat, den Libanon zerstört hat, die Hamas zerschlagen hat, die Hisbollah zerschlagen hat, will er die USA in einen Krieg gegen den Iran hineinziehen. Das ist sein Hauptziel.
Kommunalinfo: Vor der Gefahr eines Flächenbrandes, eines ganz großen Kriegs wird immer wieder gewarnt. Wohl zu Recht?
Baumgarten: Absolut zu Recht. Wir stehen momentan an einem Wendepunkt, wenn die Regierung Biden nicht endlich mal Tacheles redet mit den Israelis und Netanjahu, dann sieht es in der Tat ganz schlimm aus. Und dann ist dieser Flächenbrand im Bereich des Möglichen. Wir haben alle Angst. Alle warnen davor. Netanjahu ist jedoch nicht mehr zu zügeln.
Kommunalinfo: Sie sind Kennerin und Expertin der Nahostproblematik. Was müssten die ersten Schritte sein, um die Gewalt im Nahen Osten zu beenden?
Baumgarten: Nun das erste und wichtigste wäre sicherlich, dass der Westen allen voran die USA aber auch Europa und hier auch Deutschland klare Signale an Israel senden, so geht das nicht weiter. Man kann nie Frieden schaffen, indem man andere Völker unterdrückt und sie ständig mit Kriegen überzieht. Und ich denke, da sind durchaus auch Sanktionen gegen Israel notwendig, und auf der Basis kann man dann Israel zwingen, dass auch Israel bereit ist, in Verhandlungen einzutreten. Die Hamas war für Verhandlungen zur Freilassung der Geiseln und für eine schnelle Kriegsbeendigung bereit, und man hat es abgelehnt. Hizbullah war auch bereit, und man hat es abgelehnt.
Kommunalinfo: Um die furchtbare Gewalt im Nahen Osten zu beenden, muss irgendwann ein politischer Dialogprozess in Gang kommen. Sehen Sie im jeweiligen Lager der Israelis und der Palästinenser Ansätze einer Bereitschaft hierfür? Ist sowas überhaupt denkbar angesichts der gegenwärtigen Gewaltspirale?
Baumgarten: Momentan sieht es natürlich sehr schlecht aus. Aber im Prinzip ist es so, dass die Palästinenser seit vielen Jahren bereit sind zum Dialog. Der wird aber von Israel systematisch abgeblockt. Netanjahu ist nicht bereit mit irgendeiner palästinensischen Richtung, sei es mit der Regierung in Rammallah unter Mahmut Abbas, noch mit der Hamas im Gaza-Streifen zu verhandeln. Und er war auch die ganze Zeit nicht bereit, über die Freilassung der Geiseln zu verhandeln. Obwohl man ihm, auch in der israelischen Presse gesagt hat: Ja es gibt die Möglichkeit. Seit der letzten Woche gab es ein unterschriebenes Dokument der Hamas: Wir sind bereit zum Geisel-Austausch im Gegenzug mit einem Abzug der israelischen Armee. Netanjahu fegt es vom Tisch. Alle Versuche, auch aus den USA, zum Verhandlungsprozess zu kommen, hat Netanjahu immer wieder abgelehnt.
Kommunalinfo: Auf der Grundlage einer politischen Position, die eigentlich selbstverständlich sein sollte und auch vom Völkerrecht gedeckt ist, „Gleiche Menschenrechte für alle Menschen“, in diesem Fall für Israelis und Palästinenser, sollte m.E. von Außen auf die Konfliktparteien eingewirkt werden. Was ist ihre Position hierzu?
Baumgarten: Ich hoffe natürlich, wir hoffen auf Veranstaltungen und auf die ständigen Demonstrationen weltweit, in denen Druck ausgeübt wird, dass endlich in Israel eine Situation geschaffen wird, in der die Palästinenser nicht mehr Menschen zweiter Klasse sind oder überhaupt als Menschen wahrgenommen werden. In diesem Land zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan-Fluss müssen alle Menschen in Freiheit, in Gleichheit und denselben Rechten leben können. Nur so ist eine Lösung möglich.
Kommunalinfo: Vielen Dank für das Interview.
Das Interview führte Roland Schuster.