Links schenken! Drei letzte Buchtipps zu Weihnachten
Unersättliches Lesen war und ist für viele von uns der beste Treibstoff, die wichtigste Voraussetzung und rein zeitlich betrachtet vielleicht auch der Hauptbestandteil ihres politischen Aktivismus. Deshalb gilt nicht nur: Lesen! Sondern auch: Viel lesen! Weihnachten und die Zeit zwischen den Jahren bieten uns eine schöne Gelegenheit, diesbezüglich das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden und zudem durch kleine Aufmerksamkeiten und Geschenke unsere Beziehungen zu pflegen.
In allen hier empfohlenen Büchern geht es thematisch um die Beseitigung einer großen Anzahl von Menschen, um Massenmorde – ein Thema also, das sich nicht nur in Unterhaltungsfilmen, sondern auch im weltpolitischen Tagesgeschehen seit längerem und nicht ohne gute Gründe einer stetig steigenden Bedeutung und Beliebtheit erfreut.
Diana Kail “Zwangssterilisation in Heidelberg: Das Erbgesundheitsgericht 1934 – 1945”
Das gerade erschienene, von der Karlsruher Historikerin Diana Kail verfasste Buch mit 176 Seiten ist zu haben für 22 Euro. Es geht in dem auch vom Mannheimer Morgen und der Rheinpfalz besprochenen Werk um die Rolle des bislang noch völlig unerforschten Erbgesundheitsgerichts Heidelberg. Dessen Akten lagern im Generallandesarchiv Karlsruhe, die Autorin hat 1.500 von ihnen stichprobenartig untersucht und ausgewertet. Anhand des Materials zeichnet sie fünf Schicksale von betroffenen Frauen und Männern nach. Fünf Schicksale von etwa 300.000 Zwangssterilisationen, die dokumentiert sind, die tatsächliche Anzahl wird auf ca. 400.000 geschätzt. Aber allein von den dokumentierten Eingriffen waren etwa 0,4 Prozent der damaligen Bevölkerung betroffen, in Heidelberg sogar 0,6 Prozent und in Eppelheim fast ein Prozent der Bevölkerung. Etwa 5.000 Menschen starben durch den Eingriff, ohne Dunkelziffer und ohne die Opfer von Menschenversuchen in Konzentrationslagern. Solch hohe Quoten wurden erreicht durch eine enge Zusammenarbeit der Hausärzte mit der Polizei, den Justizbehörden und dem Bürgermeister und ermöglichten es, entsprechende “Leistungsbilanzen” nach Berlin zu schicken. Der Heidelberger Historiker Frank Engehausen, der Forschungen zur NS-Vergangenheit verschiedener baden-württembergischer Ministerien koordiniert hat, nennt einige der Indikationen für eine Zwangssterilisierung, die das 1933 verabschiedete und 1934 in Kraft getretene “Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses” enthielt: Epilepsie, Schizophrenie, erbliche Blindheit, angeborener Schwachsinn. Vor allem die letzte Diagnose wurde wohl völlig willkürlich und beliebig, d.h. nach Bedarf, vergeben. Engehausen laut Rheinpfalz vom 13.12.: “Es traf Studierende mit Prüfungsängsten, Hilfsarbeiter oder Eltern kinderreicher Familien, die der Fürsorge zur Last fielen.” Für diese Verbrechen zur Rechenschaft gezogen wurde nach dem Zweiten Weltkrieg – niemand. Noch bis 2004 wurden in Westdeutschland geistig behinderte Mädchen sterilisiert, das Justizministerium schätzte deren Anzahl bis 1992 auf etwa 1.000 pro Jahr.
Zu ergänzen ist an dieser Stelle: Zwangssterilisierungen und entsprechende Gesetze gab es nicht nur in Nazi-Deutschland, nicht erst ab 1934, und sie fanden auch 1945 kein Ende, sondern dauern an bis in die Gegenwart. Ihre Geschichte beginnt 1907 mit dem weltweit ersten Sterilisationsgesetz in Indiana, bis 1981 waren sie in den USA erlaubt und wurden durchgeführt. Insbesondere in den 1960/70er Jahren wurden sie an amerikanischen Indigenen bzw. an indigenen Frauen vorgenommen, an Gefängnisinsassen sogar bis 2013. In Schweden wurden zwischen 1935 und 1976 ca. 62.000 Menschen zwangsweise sterilisiert. In Großbritannien wurde Zwangssterilisierung bis in die 1950er Jahre als gesetzliche Strafe bei Homosexualität verhängt und ausgeführt. Bis in die 1970er Jahre zurück reicht ein besonders dunkles Kapitel der Zwangssterilisierungen in Indien. 1975 führte Sanjay Gandhi, der Sohn der damaligen Premierministerin Indira Gandhi, eine aggressive Kampagne zur häufig gewaltsamen Sterilisation von Männern durch. Inzwischen aber hat sich der Schwerpunkt auf Frauen verlagert. Allein im Jahr 2012 wurden – vor allem bei den ärmsten Bevölkerungsgruppen – 4,6 Millionen Sterilisationen durchgeführt – mehrheitlich an Frauen und unter Bedingungen, die zu ungezählten Todesfällen führten. Die britische Regierungsinitiative UK Aid unterstützt Indiens Sterilisationskampagnen finanziell bis heute, zynischerweise aus vorgeblichen Gründen des Klimaschutzes.
Zwangssterilisationen gab es ferner in der Schweiz seit 1870, in Kanada seit 1928, in Dänemark seit 1929, bis 1938 folgten Schweden, Norwegen, Finnland, Island und Lettland.In Grönland ließ die dänische Regierung zwischen 1966 und 1975 jeder zweiten gebärfähigen Frau unter Zwang eine Spirale einsetzen, in Tschechien wurde 2007 die letzte Romni zwangssterilisiert. In Mexiko wurden in den 1970er Jahren indigene Frauen zwangssterilisiert, in Peru gab es im 20. Jahrhundert mehrere große und mehr oder weniger gewaltsame Kampagnen, die sich zur Kontrolle der Bevölkerung und zur Aufstandsbekämpfung vor allem gegen die ländliche und indigene Bevölkerung richteten. Die letzte dieser Kampagnen mit einer sechsstelligen Zahl betroffener Frauen fand mit Beteiligung der USA unter Präsident Fujimori in den 1990er Jahren statt.
Link: Diana Kail “Zwangssterilisation in Heidelberg: Das Erbgesundheitsgericht 1934 – 1945”
Naomi Klein: Doppelgänger – Eine Analyse unserer gestörten Gegenwart
Vertreibungen und Genozide sind Themen, die auch Naomi Klein in ihrem neuesten Buch mehrmals analysiert. Im September ist es in deutscher Übersetzung erschienen, die 495 gebundenen Seiten sind zu erwerben für 29 Euro. Die Times und drei weitere große britische Zeitungen haben es zum Buch des Jahres gewählt. Auch US-amerikanische Zeitungen sind voll des Lobes, die New York Times schreibt: “Kein anderer Text fängt die gestörte Zeit, in der wir leben, besser ein als dieser.” Die titelgebende Doppelgängerin ist die Autorin Naomi Wolf, die mit Klein nicht nur den gleichen Vornamen gemeinsam hat, sondern auch deshalb häufig mit ihr verwechselt wird, weil sie ihre schriftstellerische Laufbahn als entschiedene Feministin und Antifaschistin begonnen hat. Dann entwickelten sich jedoch ihre Standpunkte in kürzester Frist zum äußersten rechten Rand hin, heute ist sie eine bei dem rechtsextremen Chefideologen Steve Bannon immer wieder sehr gern gesehene Interviewpartnerin. Dort schließt sie sich denen an, die die Covid-19-Impfungen als genozidal bezeichnen, sich aber für tatsächlich genozidale Ereignisse und Entwicklungen nicht die Bohne interessieren. Naomi Klein lebt in Kanada, wo ab 2021 bei katholischen Internatsschulen tausende Kindergräber mit Kindern aus indigenen Familien gefunden wurden. Zwischen 1883 und 1996 wurden über 150.000 indigene Kinder gewaltsam aus ihren Familien gerissen und gezwungen, diese Schulen zu besuchen. Mindestens 4.000, nach aktuellem Forschungsstand aber etwa 25.000 Kinder starben dort an Krankheiten, Hunger und Misshandlungen oder auf der Flucht. Es leben heute noch etwa 80.000 Menschen, die diese Schulen besuchen mussten und die man in Kanada “Survivors” nennt. Naomi Klein weist darauf hin, dass diese genozidalen Morde nicht nur Folge der grausamen und menschenverachtenden schwarzen Pädagogik der katholischen Einrichtungen waren. Es ging all die Jahre auch um handfeste materielle Interessen, vor allem darum, durch die Entnahme und systematische Dezimierung der Kinder an das Land der indigenen Familien zu kommen. Greta Thunberg wies bei ihrem Besuch in Mannheim sehr zu Recht darauf hin, dass die Klimakrise auch eine soziale Krise ist, in deren Zentrum auch neokoloniale Wirtschaftsstrukturen, Praktiken und Machtverhältnisse stehen. Auch das Buch von Naomi Klein ist durchzogen von der Vision einer Solidarität, die allen Menschen gilt und die sich die Aufgabe stellt, alles Leben auf dieser Erde zu schützen und zu fördern. Diese Vision kann ein heilendes und motivierendes Potential freisetzen, da sie die Analyse beinhaltet, dass all die Krisen, die gerade über uns hereinbrechen, kollektive Krisen sind und dass wir die unerträgliche Realität letztlich nur dann ertragen können, wenn wir in gemeinsamem Handeln versuchen, diese Realität zu ändern.
Link: Naomi Klein: Doppelgänger – Eine Analyse unserer gestörten Gegenwart
Frank Engehausen: Tatort Heidelberg: Alltagsgeschichten von Repression und Verfolgung 1933 – 1945
Der oben bereits erwähnte Frank Engehausen führt uns zurück in die Region. Das gebundene Buch mit 379 Seiten kommt auf 34 Euro. Wie Diana Kail sucht und findet Engehausen Antworten auf historische und politische Fragestellungen in der detaillierten Darstellung von Einzelschicksalen. Die Frage, die ihn antrieb, lautet: Wie konnte die nationalsozialistische Diktatur mehr als zwölf Jahre aufrechterhalten werden? Mit Mitteln eines repressiven Polizeistaats oder durch breite Zustimmung der Bevölkerung? Dazu wertet er 52 Strafprozesse aus, die zwischen 1933 und 1945 in Heidelberg eingeleitet und vor dem Sondergericht Mannheim verhandelt wurden. Sie zeigen, wie Menschen wegen abweichender politischer Meinungen oder nicht konformen Verhaltens in die Fänge der Geheimpolizei und des Justizapparats gerieten. In aller Regel geschah dies durch Denunziation. Engehausen stieß auf überraschend viele Denunzianten – die nach 1945 nur in äußerst seltenen Fällen zur Rechenschaft gezogen wurden. In dem Buch wird bedrückend deutlich: Die nationalsozialistische “Volksgemeinschaft” wurde selbst aktiv, um politischen Dissens zu verfolgen und abweichendes Verhalten zu bestrafen. Dies wirft auch für den aktuellen Kampf gegen rechts dringende Fragen auf. Denn viele fortschrittliche Menschen, vor allem, wenn sie in neuen Bundesländern und/oder auf dem Land leben, zogen sich im ablaufenden Jahr aus Angst von politischem Engagement zurück oder denken darüber nach, umzuziehen oder gar zu emigrieren.
Link: Frank Engehausen: Tatort Heidelberg: Alltagsgeschichten von Repression und Verfolgung 1933 – 1945
Text: mk