Wohnungslose Frau N.: „Ich wohne mit meinem Deutschlandticket überwiegend in der Regionalbahn“

Rückschau auf die Vesperkirche 2025: Erfahrungen und klare Botschaften

 

Die Kirchenbänke wurden im Rahmen einer Sanierung endgültig entfernt und durch bequeme, , leicht reinigbare und auch elegante Stühle ersetzt, die nun bei der Vesperkirche, den Gottesdiensten und Konzerten zur Verfügung stehen.

Frau N. erwähnte im Gespräch mit einer Helferin der Vesperkirche, sie komme gerade aus Frankfurt. „Sie kommen aus Frankfurt extra nach Mannheim zur Vesperkirche?“ fragt die erstaunte Helferin. „Na ja, ich halte mich überwiegend in Zügen des Nah- und Regionalverkehrs auf, da bin ich unter Menschen, und sehe was. Das Personal ist hilfsbereit, und ich habe gottseidank auch einige Helfer. Man muss ja auch mal duschen und so.“ Damit weist Frau N. vermutlich auf kurze Couch-Surfing-Zwischenstationen hin.

Zuhören und Würde zurückgeben

Dass man ihnen zuhört ist für viele Gäste ganz wichtig und ein eher seltenes Erlebnis – Gespräche auf Augenhöhe. Manchmal geht das Gehörtwerden über in ein Beratungsgespräch – sei es zu sozialen Themen oder auch zu medizinischer Versorgung durch ein Ärzteteam in der mobilen Arztpraxis der Johanniter. „Viele schämen sich, zum Arzt zu gehen – sei es wegen ihres Körpergeruchs, mangelnder Sprachkenntnisse oder schlechter Erfahrungen“, wissen die Johanniter. Prof. Dr. Peter Hohenberger, Leitender Chirurg am Uniklinikum Mannheim, der in diesem Jahr erneut an der Vesperkirche mitgewirkt hat, hält ein niederschwelliges Angebot für dringend notwendig: „Es sind oft Menschen, die keinen Hausarzt haben oder sich keinen Arztbesuch leisten können.“

Viele Menschen, die in Armut leben, leiden auch unter psychischen Problemen. Manchen kann der Kontakt zur Psychosozialen Beratungsstelle vermittelt werden.

Vor allem Frauen berichten über zunehmende Gewalterfahrungen. Obdachlose Menschen erleiden mehr tätliche Angriffe denn je.

Am Sonntag, dem 19. Januar, gab es eine besondere Aktion. Die internationale Initiative „Barber Angels“ richtete im nahegelegenen DiakoniePunkt ein Friseurstudio ein. 51 Gäste bekamen innerhalb 3 Stunden einen neuen Schnitt. Sechs ausgebildete Friseur*innen und mehrere Helfer*innen machten dies möglich. Die Organisatorin Melanie Hetmanek-Lannert sagte dazu: „Ein Haarschnitt ist mehr als nur eine Dienstleistung – er gibt Menschen ein Gefühl von Würde und Selbstbewusstsein zurück.

Der Photograph Alexander Kästel fertigte Portraits von Gästen an – für viele das erste Bild seit langem.

In der Vesperkirche wird nicht nach Sozialpässen, Aufenthaltsgenehmigungen, Taufscheinen und sonstigen Papieren gefragt. Das diesjährige Motto „Menschenskind!“ gilt hier grundsätzlich: Mensch sein reicht.

Wohnen ein Hauptproblem

Als ganz zentrales Thema aller Gespräche nennen die Mitarbeiter*innen der Vesperkirche das Wohnungs- und Mietproblem.

10-20% der Vesperkirchen-Gäste sind Wohnungslos. Der Weg über den Verlust des Arbeitsplatzes, daraus resultierende Mietschulden und Zwangsräumung in die Wohnungs- oder gar Obdachlosigkeit ist oft ein kurzer. Pfarrerin Sobottke weist neue Helfer*innen immer darauf hin: „Denken Sie bloß nicht, Sie erkennen Wohnungslose immer am äußeren Ansehen. Viele, insbesondere Frauen, achten peinlichst darauf, trotz allem ein gepflegtes Erscheinungsbild zu behalten, um möglichst wenig Diskriminierungserfahrungen machen zu müssen.“

Wohnungsprobleme seien schon die ganze Zeit ganz oben auf der Themenliste der Gespräche gestanden. Aber inzwischen geht es hierum nicht nur bei einem Drittel der Gespräche, sondern schon bei jedem zweiten.

Besonders die Nebenkosten machen Probleme. Ein Herr berichtet, dass er mittlerweile mit Gasflaschen heizt, weil das Sozialamt die Auffüllung des Öltanks zu zahlen sich weigert.

„Noch nie haben wir so viele Profile (auf der elektronischen Plattform der GBG „immomio“) angemeldet. Das ist für Wohnungssuchende ohne digitale Möglichkeiten und Erfahrungen ein echtes Problem. Auch wenn wir das für sie erledigen, kommt dann aber die nächste Stufe: Sie müssen sich auf bestimmte Angebote bewerben, ebenfalls digital. Es gibt zwar bei der GBG immer noch die Möglichkeit, sich zu einem Gespräch anzumelden. Aber digital!“

Das nächste Problem für arme Wohnungssuchende ist die erheblich gestiegene Konkurrenz der Wohnungssuchenden untereinander, seit die Einkommensgrenzen für den Bezug eines „B-Scheins“ deutlich angehoben wurden: „Studenten sind schneller beim Angucken ihrer e-mails.“ Und eine alleinerziehende Erzieherin hat einfach bessere Karten als ein bisher Obdachloser. Beide brauchen aber eine leistbare Wohnung.

Die Diakonie arbeitet mit der Stadt bei der Wohnungsversorgung in besonders schwierigen Fällen zusammen, z.B. bei psychisch erkrankten Alleinstehenden. Es gibt Vorhaltewohnungen für besonders dringliche Unterbringungsprobleme, aber es sind zu wenig. Die Stadt hat allerdings auch die Möglichkeit, leerstehende Wohnungen zu requirieren.

Insgesamt wurden in diesem Jahr in der Vesperkirche ca. 200 Beratungsgespräche durchgeführt, teilweise auch muttersprachlich für Menschen aus Südosteuropa.

Klare Worte an die Politik

Reicht es, einmal jährlich vier Wochen lang Werke der Barmherzigkeit für die Armen in der Region zu vollbringen? Die Armut hat doch Ursachen. Muss man nicht eher  (oder wenigstens gleichzeitig) an die Ursachenbehebung gehen?

Die gemeinsam mit Pfarrerin Anne Ressel für die Vesperkirche zuständige Pfarrerin der Citykirche Konkordien, Ilka Sobottke, macht Beides, mit Vehemenz. Das Motto „Menschenskind!“ enthält, so erklärt sie, zwei Komponenten: den Menschen im Mittelpunkt und den Zorn. „Es macht mich rasend, dass zwei Menschen in der Bundesrepublik so reich sind wie 50% der Gesellschaft zusammengenommen“. Das sei nicht vom Himmel gefallen, sondern Ergebnis der herrschenden Politik, insbesondere der Steuerpolitik, führt sie weiter aus. Sie sehe eine Entwicklung hin zur „Plutokratie wie in den USA“, es gebe hierzulande „toxischen Reichtum“, mit dem die Armut unmittelbar zusammenhänge. Dekan Hartmann weist auf den Sozialatlas Mannheim hin, der 35.134 Bezieher*innen von Sozialleistungen ausweist. Der stv. Mannheimer Diakoniedirektor Martin Metzger weist auf die von Stadtteil zu Stadtteil sehr unterschiedliche Altersarmut hin, die oft eine verdeckte Armut ist, weil viele Betroffene aus Scham keine Unterstützung anfordern. Viele jüngere Familien zögen aus Armutsstadtteilen weg, weil sie ihren Kindern bessere Bedingungen bieten wollen.  „Von arm geborenen Kindern blieben 18% arm.“

Agenda für die Kommunalpolitik

Die Erfahrungen, welche von den Verantwortlichen der Vesperkirche gesammelt werden, machen von Jahr zu Jahr deutlicher, dass politischer Handlungsbedarf besteht. Zum einen natürlich in der generellen Armutsbekämpfung, die etwas mit gesellschaftlicher Umverteilung zu tun hat. Besonders auf kommunaler Ebene lassen sich jedoch auch einige Aufgaben ableiten:

  • Das Thema der Bereitstellung von genug leistbarem Wohnraum ist seitens der nicht konservativen Kräfte ein ständiges Thema im Gemeinderat, allerdings mit keineswegs ausreichendem Erfolg. Es ist von den Gästen der Vesperkirche das am meisten direkt angesprochene oder bei der Sozialberatung schnell in den Vordergrund tretende Thema.
  • Es braucht eine Einrichtung wie ein „Bürgerbüro Wohnen“, welches v.a. wirtschaftlich schlecht gestellte Menschen bei Wohnungsproblemen umfassend berät. Die GBG hat sich zu sehr digital „eingemauert“. Immoscout erst recht. Die GBG verfügt über knapp 12% des Wohnungsmarktes, allerdings über einen deutlich größeren Anteil bezahlbarer Wohnungen. Dennoch gibt es auch weitere Anbieter preisgünstiger Mietwohnungen. Dass die Stadt die Funktion ihres einstigen „Wohnungsamtes“ vor Jahren auf die GBG übertragen hat, greift deshalb zu kurz. Auch Nebenkostenabrechnungen können Menschen in die Verzweiflung treiben und viele kapitulieren vor einer Überprüfung und ggf. Rückforderung zu viel gezahlter Nebenkosten. Die Linke fordert deshalb schon lange ein für alle zugängliches „Bürgerbüro Wohnen“.
  • Eine allgemein bekannte und gebührenfrei nutzbare „digitale Lotsenstelle“ vor allem für ältere Personen. Sie bietet Hilfestellung bei Verwaltungsvorgängen, die nur noch digital zugänglich sind. Da und dort angebotene „PC-Kurse für Senioren“ können diesen Bedarf nicht ersetzen. Zumal auch jüngere Personen mit digitalen Anforderungen dieser Art oft überfordert sind, wie auch Nicht-Muttersprachler*innen.
  • Bei der Zuteilung öffentlich geförderter Wohnungen bräuchte es eine Quotierung zwischen der unteren und der oberen Hälfte der Einkommen, sonst ziehen Menschen mit geringem Einkommen stets den Kürzeren.
  • Medizinische Versorgung für Menschen ohne Krankenversicherung oder mit erschwertem Zugang zu den Angeboten der medizinischen Regelversorgung aufgrund von Sprachbarrieren: Hier gibt es in Mannheim neben der temporären Vesperkirche nur das ehrenamtliche Angebot der Malteser Medizin für Menschen ohne Krankenversicherung (MMM in der Neckarstadt West), allerdings nur an einem Tag pro Woche.

Die Vesperkirche in Zahlen:

Die Vesperkirche fand in diesem Jahr vom 12.1. bis 9.2.zum 28. Mal statt. Trägerinnen sind die  die Evangelische Kirche in Mannheim und ihr Diakonisches Werk. Geöffnet war sie täglich von11 bis 15 Uhr.

2025 wurde die Vesperkirche von insgesamt 800 Ehrenamtlichen gestemmt, durchschnittlich 68 am Tag mit unterschiedlichsten Aufgaben. Es hatten sich in diesem Jahr 16 Konfirmand*innen-Gruppen, 5 Schulklassen, 7 Firmen gemeldet und außerdem „Studierende und Personen des öffentlichen Lebens“, darunter auch OB Specht zum Eröffnungstag.

Sowohl die Gäste als auch die Ehrenamtlichen kommen aus Mannheim und der ganzen Region.

Täglich wurden durchschnittlich 630 Essen ausgegeben mit einem Hauptgericht (Fleisch oder Fisch) und Gemüse, sowie einem Dessert mit Kuchen oder Gebäck und einer Tasse heißem Kaffee. Ca. 90 Kuchen wurden dafür täglich bereitgestellt. Über 1.300 wurden von Kirchengemeinden gebacken oder von Firmen gespendet. Auch vegetarisches Essen wird angeboten. Daneben gibt es natürlich auch unterschiedliche Kaltgetränke.

Pro Essen wendet die Vesperkirche durchschnittlich 6 Euro auf. Sie bittet die Gäste, sich an den Kosten zu beteiligen, mindestens mit 1 Euro. Wer auch diesen Betrag nicht aufbringen kann, bekommt das Essen auch gratis, ohne Bedürftigkeitsnachweis.

Insgesamt beliefen sich die Kosten der Vesperkirche 2025 auf ca. 250.000 Euro, die durch Spenden aufgebracht werden. Das Spendenkonto lautet: Evangelische Kirche Mannheim, Sparkasse Rhein Neckar Nord, IBAN: DE44 6705 0505 0039 0030 07.

Bilanz

In einem reichen Land wie Deutschland ist erstens die verbreitete Armut inakzeptabel. Zweitens ist die Tatsache skandalös, dass Hilfsmaßnahmen, wie sie die Vesperkirche in würdiger Art und Weise bietet (nicht vergleichbar mit den Suppenküchen der Zwischenkriegszeit), ehrenamtlich betrieben und durch Spenden bürgerschaftlich finanziert werden müssen.

Aber wenn es schon so ist, hat die Vesperkirche Positives aufzuweisen:

  1. Die verbreitete Armut wird der Gesellschaft vor Augen geführt. Die von Armut betroffenen Menschen müssen sich (wenigstens in diesen vier Wochen) nicht verstecken.
  2. Die sich hier engagierenden Teile der Stadtgesellschaft weisen ein hohes Maß an Empathie und Solidarität auf, ohne welche eine bessere Gesellschaft nicht entstehen kann.
  3. Den Gästen wird zwar nicht auf Dauer geholfen, jedoch können sie etwas über die vier Wochen hinaus mitnehmen: Sichtlich akzeptiert zu sein, vielleicht bestehende Vereinsamung durch neue menschliche Kontakte überbrückt zu haben, aus der Beratung für bestimmte Probleme vielleicht eine Lösung für die Zukunft mitgenommen zu haben.
  4. Dem Herumtrampeln auf in Armut lebenden Menschen, dem Nach-unten-Treten, wird durch diesen öffentlichen Event etwas entgegengesetzt. Den frechen, respektlosen, von keinerlei Kenntnis getrübten Äußerungen über in Armut lebende Menschen, wie: sie seien hauptsächlich faul und selbst schuld, kann mit den Erfahrungen aus der Vesperkirche entgegengetreten werden – Äußerungen, wie wir sie z.B. in der Auseinandersetzung um das Bürgergeld von rechter Seite nicht nur im Wahlkampf ständig hören müssen.

 

Text: Thomas Trüper | Grafik: KIM | Fotots: facebook.com/evangelischeKircheMannheim.