Kommentar: Wallah Krise- Warum der Krisenbegriff nicht leichtfertig übernommen werden sollte.

Wirtschaftskrise im ganzen Land, Schuldenkrise in den Kommunen oder gleich Krise der Demokratie: Krisen sind im Nachrichtenalltag omnipräsent. Aber ist wirklich alles Krise, das so bezeichnet wird?

Früher war alles besser?

Blickt man auf die Geschichte der BRD zurück, sind krisenfreie Jahrzehnte eher die Ausnahme. Zwar gab es zwischen den 1950ern und 1980ern eine Phase konstanten wirtschafltichen Wachstums, aber krisenfrei war bisher kein Jahrzehnt der BRD. Und auch wenn die 1990er von einigen mit Hedonismus und dem Siegestaumel zum Ende der Geschichte in Verbindung gebracht werden, waren die letzten 30 Jahre sicher nicht ruhig. Millionen von Menschen der ehemaligen DDR erlebten existenzielle Krisen, rechte Pogrome und die Zunahme neonazistischer Gewalt wurde auf dem Rücken von Asylbewerber*innen zur Asylkrise umgedeutet. Kurz darauf brach mit den Jugoslawienkriegen der erste bewaffnete Konflikt in Europa seit dem zweiten Weltkrieg aus.

Die Gewalt, die auch von den USA in den Nahen Osten gebracht wurde, schlug als Terrorismus zurück. Noch im selben Jahrzehnt löste die Kombination aus unreguliertem Kapital und skrupellosem Spekulieren eine Weltfinanzkrise aus. Daraus folgte eine scheinbar alternativlose öffentliche Sparpolitik, die den Aufstieg autoritärer Kräfte in ganz Europa Auftrieb gab. Die vergangenen zehn Jahre waren dann geprägt von Flüchtlingskrisen, Pandemie, Energiekrisen und Krisen staatlicher Haushalte oder ganzer Demokratien. Man könnte meinen Krisen gehören eher zum Normalzustand.

Eine Krise ist eine Krise ist eine Krise?

Gängige Definitionen sind sich einig, dass es sich bei einer Krise um einen vorübergehenden Höhe- bzw. Scheidepunkt handelt. Im ursprünglich medizinischen Gebrauch ist Krise der Moment, in dem eine Krankheit in Richtung Genesung oder Tod kippt. Eine Krise in politischen Systemen kann als Moment beschrieben werden, in dem Bestehendes in Frage gestellt wird und damit politischer Handlungsdruck entsteht. Die Dringlichkeit zu Handeln trifft oft auf das Versagen herkömmlicher und eingespielter Lösungsverfahren, was zu Überforderung führt.

Schaut man auf die Tagespolitik, scheint Überforderung tatsächlich allgegenwärtig. Statt eine Diskussion zuzulassen, ob es einen nachhaltigen Wandel des Politik- und Wirtschaftssystems hin zu einem System braucht, das allen zu Gute kommt, werden Minderheiten wie „Totalverweigerer“ oder „Sozialbetrüger“ für strukturelle Probleme verantwortlich gemacht. Die von Bundeskanzler Merz erhobenen und von anderen wiederholten Forderungen an Arbeitnehmer*innen, folgen einem altbekannten Lösungsverfahren:

„Lasten an Löhnen, Gehältern und  Sozialversicherungsbeiträgen müssten verringert werden“…“die Anwendung des Achtstundentages dürfe nicht schematisch sein…da dieser eine Prämie für Faulheit sei“…“das deutsche Volk solle täglich zwei unbezahlte Überstunden machen“ – Aussagen von Vertretern des Kapitals aus dem Jahr 1925.

Es stimmt, dass sich Teile der Wirtschaft oder bestimmte Branchen in einer schwierigen Situation befinden. Wenn man aber verhindern will, dass hauptsächlich Arbeitnehmer und Lohnabhängige dafür bezahlen und Reiche verschont bleiben, muss man hinterfragen, ob die Ursachen wirklich externe Krisen sind oder politische und wirtschaftliche Fehlentscheidungen. Oft handelt es sich um strukturelle Probleme und politische Herausforderungen. Sie sind keine Krisen und sollten auch nicht als solche benannt werden. Sonst macht man es den Verantwortlichen einfach, sich ihrer Verantwortung zu entziehen.

Analyse statt Krise.

Dabei ist eine nüchterne Analyse dessen nötig, was tatsächlich unvorhersehbar war und was hausgemacht ist. Nicht jede Herausforderung ist eine Krise. Manchmal sind es unbequeme Wahrheiten, denen sich die Politik jahrzehntelang verweigert hat. Wie zum Beispiel, dass es in kapitalistischen Systemen bei jeder „Krise“ Profiteure gibt, die kein Interesse daran haben, zu Lösungen beizutragen.

Vertreter*innen aus Gewerkschaften und anderen Organisierungen der Arbeitnehmer und Angestellten müssen Lösungswege in Frage stellen. Systembedingte Normalitäten wie soziale Ungleichheit sind keine Krise. Ein schleichender Verfall der Infrastruktur und öffentlicher Güter ist keine Krise. Langfristige Herausforderungen wie der demographische Wandel sind keine Krise. Wer alles zur Krise erklärt oder die Erklärungen nicht hinterfragt, macht es den Profiteuren leicht: Niemand trägt Verantwortung, alle müssen zusammenstehen, Grundsatzfragen werden vertagt.

Vertretern des Kapitals und Arbeitgebern wird es leichtgemacht, höhere Löhne zu verhindern, Arbeitszeit und Ausbeutung zu erhöhen oder Arbeitnehmer*innenrechte zu Lasten der Mehrheit aufzuweichen. Der inflationäre Gebrauch des Krisenbegriffs ist auch selbst Teil des Problems. Er suggeriert, wir seien nahezu machtlos gegenüber äußeren Kräften, während tatsächlich konkrete politische Entscheidungen hinter problematischen Verhältnissen stehen. Das heißt aber auch, dass die Verhältnisse nicht bleiben müssen wie sie sind – wenn es gelingt die Passivität zu überwinden, die der Krisenbegriff fördert.

Text: DeBe

Zitate aus: Die Zerstörung der Weimacher Republik. Herausgegebe durch Kühnl, Hardach. 1977.

 

 

 

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