Israel – Eine Gesellschaft zwischen Wahnvorstellung und Erwachen daraus
Shir Hevers grundsätzliche und kritische Betrachtung auf den gesellschaftlichen Zustand Israels

Mit 70 Leuten vollbesetzter Raum. Auch im Vorraum standen viele Menschen. Etliche mussten unverrichteter Dinge wieder gehen.
Kollektive Wahnvorstellungen
Im Gruppenraum der Partei Die Linke in Mannheim drängen sich am 17.12. etwa 70 Personen für den Vortrag von Dr. Shir Hever zusammen. Mehrere sind wegen der räumlichen Enge wieder gegangen. Für Veranstaltungen der Palästinasolidarität gibt es in Mannheim keine Veranstaltungsräume. Die Stadt Mannheim ebenso wie Kirchengemeinden, Gewerkschaften und andere Organisationen passen sich an die Haltung der Bundesregierung an, die Israel um jeden Preis unterstützen will. Gleichzeitig fürchten sie den Druck der Deutsch-Israelischen Gesellschaft und der jüdischen Gemeinde, welche die Position der Israelischen Regierung vollständig übernehmen und dafür bereit sind, die Menschenrechte der Palästinenser:innen und gleichzeitig das Grundrecht auf Meinungs- und Informationsfreiheit zu opfern.
Das Thema der Veranstaltung, die auf großes Interesse stößt, ist die aktuelle Situation in Israel.
Der Referent Dr. Shir Hever kennt die israelische Gesellschaft von innen. Der Ökonom hat Israel verlassen. Er forscht zu Apartheid, Kolonialismus, Besatzung und israelischer Rüstungsindustrie, ist Geschäftsführer von BIP e.V. (Bündnis für gerechten Frieden zwischen Israelis und Palästinensern). Sein Vortrag trägt den Titel: „Israel – eine Gesellschaft zwischen Wahnvorstellung und Erwachen daraus“.
Hever beginnt mit einem Zitat des israelischen Oppositionsführers Yair Lapid:
„Diejenigen, die in den letzten zwei Jahren gegen uns demonstriert haben, wurden durch geschickte Propaganda getäuscht, die mit Geldern von Terroristen finanziert wurde. Es gab keinen Völkermord, keine absichtliche Aushungerung.“
Damit schließt Lapid sich offenbar an die Linie der Netanjahu-Regierung an, ebenso wie es die israelischen Massenmedien und die große Mehrheit der israelischen Bevölkerung tun. Tausende Aufnahmen und Berichte, die von internationalen Organisationen geprüft wurden, belegen den israelischen Völkermord in Gaza. Die systematischen Bombardierungen von Wohnvierteln und Flüchtlingslagern, die Zerstörung der Krankenhäuser, Schulen Universitäten, Landwirtschaftsflächen, die Einfuhrsperren für Lebensmittel und Hilfsgüter und Vieles mehr sind hinreichend belegt. Die israelische Regierung begegnet den bewiesenen Tatsachen mit der ständigen dreisten Wiederholung von Lügen: Die Vorwürfe seien terroristische Propaganda. Es gebe keinen Völkermord, kein systematisches Aushungern, keine Kriegsverbrechen. Dass die israelische Gesellschaft diese Leugnung von Tatsachen mitträgt, bezeichnet Hever als kollektive „Wahnvorstellung“, die sich durch alle politischen Lager ziehe.

Tags zuvor am 16. Dezember 2025 schilderte Rudolf Rogg im Mannheimer Naturfreundehaus die Lage der palästinensischen Olivenbauern im Westjordanland. Er konnte aus erster Hand berichten, da er gerade von einem mehrwöchigen Aufenthalt zurückkam. Zahlen von UN-OCHA dokumentieren, dass es allein in diesem Jahr zu Hunderten von Angriffen auf die Felder von Olivenbauern gekommen ist. Zahlreiche Häuser wurden von Siedlern und israelischen Sicherheitskräften zerstört, Menschen verletzt, auch getötet, und vertrieben.
Zerfall der Gesellschaft
Hever beschreibt mehrere aktuelle Strukturveränderungen im israelischen Staat: Eine davon sei die Ersetzung des Rechts durch Macht. Netanjahu, der seit langem wegen Korruptionsvorwürfen vor Gericht steht, wandte sich vor Kurzem – mit Unterstützung durch Trump – an den Präsidenten Herzog mit der Bitte um Begnadigung, d.h. Nicht-Anwendung allgemeiner Gesetze für seine Person. Insgesamt sei Erpressung zum Regierungsprinzip geworden. Die zweite Veränderung sei der fortschreitende Zerfall des israelischen Nationalstaats: Seit 2018 ist gesetzlich festgeschrieben, dass nur jüdische Menschen in Israel einklagbare staatsbürgerliche Rechte besitzen, während die palästinensischen Israelis – ca. 20 % der Bevölkerung – davon abhängig sind, dass ihnen abgestufte, unsichere und jederzeit entziehbare Privilegien gewährt werden. Darüber hinaus verfolgten verschiedene Gruppen mit unterschiedlichen religiösen bzw. kulturellen Identifikationen ihre Eigeninteressen. Die israelische Armee sei inzwischen zweigespalten in eine hochgebildete privilegierte „ausgeklügelte“ Gruppe an der Spitze und die „brutale Armee“ deren Angehörige sich benachteiligt fühlten und eigene Rechte forderten. Während des Gaza-Kriegs habe sich die militärische Disziplin aufgelöst. Soldaten seien weder für Befehlsverweigerungen noch für begangene Grausamkeiten bestraft worden. Auch Ben Gvirs „Nationalgarde“, eine bewaffnete Siedlermiliz, agiere eigenständig. Das staatliche Gewaltmonopol sei bereits zusammengebrochen.
Psychologie der kollektiven Täuschung
Hever zitiert den Soziologen Stanley Cohen, der den „kolonialen Blick“ als doppelten Blick beschreibt: Wissen und Nicht-Wissen findet gleichzeitig statt. „Israelis erkennen, dass israelische Medien ihnen Versionen der Realität liefern, mit denen sie leben können. Deshalb vermeiden sie sorgfältig, sich internationalen Medien auszusetzen, obwohl diese online verfügbar sind.“ Ähnlich habe im Konzentrationslager Mauthausen in Österreich ein ungeschriebener Vertrag existiert, den beide Seiten eingehalten hätten: Die Behörden verbergen die Gräueltaten, und die Öffentlichkeit unternimmt keine Anstrengungen, etwas herauszufinden. Wer nichts weiß, trägt keine Verantwortung. Dass Soldaten während des Einsatzes in Gaza zu diesem doppelten Blick nicht mehr in der Lage waren, belege eine Welle von Suiziden und Suizidversuchen.
Weitere Mechanismen zur Abwehr von Schuldgefühlen und Ängsten vor Verurteilung seien die Schuldumkehr, die Diffamierung und Entmenschlichung der „Feinde“, Falschinformationen und noch mehr Gewaltausübung.
Beliebte Entschuldigungen von Soldaten seien die Desinformation durch soziale Medien ebenso wie die Lenkung durch Künstliche Intelligenz. Das verbreitetste Alibi sei die Angst vor weltweitem Antisemitismus, die israelische Medien in übertriebenem Maße schürten.
Gesellschaft ohne Zukunft?
Hever geht davon aus, dass die Leugnung und Verdrängung auf Dauer nicht aufrecht zu erhalten seien. Moralische Verletzungen der Soldaten, internationale Isolation, wirtschaftliche Kosten, interne Gewalt und letztendlich das Zeugnis der Überlebenden aus Gaza könnten zum Zusammenbruch führen. Der einzige Ausweg sei die Beendigung des kolonialen Projekts und die Ermöglichung echter Gleichberechtigung. Unsere Solidarität mit den Palästinenser:innen, die Benennung der Verantwortung Israels und unser Druck auf die deutsche Regierung leisten einen Beitrag dazu.
Gertrud Rettenmaier
Der Vortrag von Shir Hever ist auf der Webseite der Nahostgruppe Mannheim als Datei und als Video dokumentiert. https://mannheimnahost.wordpress.com/

















