Familien ohne Kinderärzte im Sozialraum 5 – ein dickes Hartholzbrett zu bohren
Skandalös kann man den Zustand berechtigterweise bezeichnen. Nur leider ändert das erst mal nichts an der schlimmen Situation, in der sich Familien in den Stadtteilen der Sozialraum-Kategorie 5 („sozialstrukturell (sehr) auffällig“) befinden. Ausgerechnet in Stadtteilen, wo viele Kinder in sozial sehr schwierigen Verhältnissen leben, stehen keine Kinderärzt:innen zur Verfügung. Und nicht nur dies: Es fehlt auch an Psychotherapeuten für Kinder und Jugendliche, „Heilmittelversorgern“ in Logopädie, Ergotherapie und Physiotherapie für Kinder und Jugendliche. Hierüber berichtete das Jugend- und Gesundheitsamt der Stadt Mannheim differenziert in seinem umfangreichen Bericht zur gesundheitlichen Lage von Kindern und Jugendlichen in Mannheim (September 2019). Diese Berichterstattung ergab sich aus einer neuen gesetzlichen Pflichtaufgabe der Gesundheitsämter als Grundlage für die Gesundheitsplanung.
Die Vertuschung der Durchschnitts-Statistiken
Im Durchschnitt mag die kinderärztliche Versorgung in der Stadt Mannheim leidlich sein: 694 Kinder und Jugendliche pro Arztpraxis. Der Verdacht liegt nahe, dass diese Rechnung der angenehmen Durchschnittstemperatur entspricht, in der sich jemand aufhält, wenn er sich mit dem Hintern auf der heißen Herdplatte und mit dem Kopf im Tiefkühlschrank befindet. Realistisch sieht die Versorgungssituation so aus:
Ähnlich verhält es sich bei der Verteilung der Hebammen und Entbindungshelfer:
Im Durchschnitt gab es 2015 pro Hebamme / Geburtshelfer (insgesamt auf 46 Praxen) 19 Geburten.
Neuere Zahlen gibt es für die Sozialräume, die sich auf die 48 Stadtteile beziehen, nicht. Zwar veröffentlichte die Stadt Mannheim im September 2024 einen weiteren „Bericht zur Kindergesundheit 2024“, der jedoch derlei Zahlenangaben nicht enthält. Der Mannheimer Morgen zeigte in seiner Ausgabe vom 11.08.25 eine Statistik der Verteilung der einzelnen 32 Kinderärzt:innen auf die 17 Stadtbezirke. Danach gehen Hochstätt und Neckarstadt-West weiterhin leer aus, Käfertal, Neckarstadt-Ost/Wohlgelegen, Sandhofen, Rheinau und Wallstadt verfügen über je einen Kinderarzt.
Das Jugend- und Gesundheitsamt arbeitet in seinen Berichterstattungen heraus, dass sowohl die kinderärztliche Versorgung als auch alle Angebote, die das Jugend- und Gesundheitsamt selbst organisiert (z.B. „Willkommen im Leben“, Eltern-Kindzentren, Familien-Kitas, aufsuchende medizinische Fachkräfte) entscheidend sind für die gesunde Entwicklung der Kinder als Basis für Bildungsgerechtigkeit und eine umfassende Teilhabe am gesellschaftlichen Leben einschließlich beruflicher Chancen.
Warum ist die kinderärztliche Versorgung derart ungleich und ungerecht?
Die ambulante kassenärztliche Versorgung generell unterliegt der Selbstverwaltung der Ärzteschaft in Gestalt der Kassenärztlichen Vereinigungen. „Die Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) organisieren auf regionaler Ebene die flächendeckende ambulante medizinische Versorgung der GKV-Versicherten. Ihre Mitglieder sind die Vertragsärztinnen und -ärzte sowie Vertragspsychotherapeutinnen und -therapeuten der jeweiligen Bundesländer.“ (https://www.kbv.de/kbv/die-kbv/kassenaerztliche-vereinigungen). Konkret heißt das: „Gemeinsam mit den Krankenkassen organisieren die KVen die Bedarfsplanung. Damit wird dafür gesorgt, dass überall eine ausreichende Zahl von Ärzten und Psychotherapeuten für die ambulante Versorgung zur Verfügung steht und auch in sprechstundenfreien Zeiten ein ärztlicher Bereitschaftsdienst vorhanden ist. Sie sorgen auch dafür, dass die Qualität der ärztlich erbrachten Leistungen gesichert ist.“
Damit sind die Akteure beschrieben. Die Kommunen sind nicht dabei. Die Leistenden und die zahlenden Organisationen machen das auf Landesebene unter sich aus. Sie schreiben ggf. freie Arztsitze aus. Für Mannheim sieht das so aus:

Alle Facharztsitze sind gesperrt, lediglich 2 Hausarztpraxen sind im August 2025 ausgeschrieben. (Quelle KVBW, aaO).
Diese Darstellung verrät den springenden Punkt: Die KVen kennen nur Regionen, Land- oder Stadtkreise, hier also Mannheim. Die Unterschiedlichkeit der Versorgung und der sozialen Verhältnisse innerhalb des Bezirks / der Region und damit der Ansatz für soziale Verantwortung, spielt keine Rolle. Innerhalb des Bezirks besteht Niederlassungsfreiheit, und damit ist wirtschaftlichen Gesichtspunkten für die Ärzt:innen als freien Unternehmer:innen freie Bahn gelassen. Dass eine Praxis auf der Hochstätt kaum Privatpatient:innen verspricht, dafür längere erforderliche Beschäftigung mit den einzelnen Patient:innen schon aufgrund von Sprachschwierigkeiten und kultureller Diversität, trägt nicht zur Attraktivität dieses Arztsitzes bei.
Handlungsempfehlungen des Jugend- und Gesundheitsamtes 2019 (!)
Die Fachleute im Jugend- und Gesundheitsamt haben sich für ihren Bericht durchaus Gedanken gemacht über die Konsequenzen aus ihrem eher tristen Befund, besonders hinsichtlich der ärztlichen Versorgung. Diese „Handlungsempfehlungen“ seien im Folgenden zitiert:
„Ein wohnortnaher Zugang zur gesundheitlichen Versorgung ist für alle Kinder auch in sozial benachteiligtenGebieten und in Stadtrandlagen sicher zu stellen.
- Wo unter Marktbedingungen der wünschenswerte Versorgungsgrad nicht erreicht wird, sind Anreize für Ärzte und Akteure der gesundheitlichen Versorgung zu schaffen, sich in Gebieten mit sozialen Problemlagen anzusiedeln oder Zweigstellen ihrer Praxen zu bilden. Ein solcher Anreiz kann durch kooperative Strukturen und integrierte Gesundheitszentren oder Medizinische Versorgungs-Zentren in den Sozialräumen entstehen.
- Prüfung des Einsatzes nicht-ärztlicher Fachkräfte in Fragen der medizinischen/gesundheitlichen Versorgung als Reaktion auf den Fachkräftemangel.
- Anbinden von Angeboten und Einrichtungen der Gesundheitsversorgung an soziale, kulturelle oder Bildungsangebote, wie z.B. Beratungsangebote für Menschen in schwierigen Lebenslagen
- Frühzeitige Zusammenarbeit mit den für die Fortschreibung der Verhältniszahlen in der ambulanten Versorgung zuständigen Institutionen/Gremien bei neuen Siedlungsgebieten.
- Ausbau der komplementären Leistungen, die den Zugang erleichtern können z.B. die schulärztliche Untersuchung, wo nachweislich keine privatärztliche Versorgung erfolgt, oder Standorte der Gesundheitsberatung ausbauen.
- Ressourcen für gesundheitsförderliche Strukturen in den Lebenswelten Wohnen, Freizeit und Sport, wie sie gesetzlich als Aufgabe der GKV festlegt wurden, nutzen.
- Feststellen von Lücken in der Versorgungskette von der Schwangerschaft über die Geburt bis zur Nachsorge und ein kommunales Versorgungsmanagement prüfen.“ (aaO S. 94; Hervorhebungen durch Verf.)
Alles Weitere muss „die Politik“, der Gemeinderat als Auftraggeber regeln, an die richtet sich die Handlungsempfehlung. Das Grundproblem des Ausschlusses der Kommunen aus der kommunalen ambulanten Gesundheitsversorgung kann die Kommunalpolitik allein nicht auflösen. Trotzdem muss sich die Kommune um die Gestaltung der ambulanten Versorgung kümmern.
Die Stunde (oder Jahre?) der Kommunalpolitik
Die Konsequenzen aus dem großen Kinder- und Jugendgesundheitsbericht 2019 zog als erste und lange Zeit als einzige Gemeinderatspartei Die Linke mit ihrer Fraktion Li.Par.Tie. Sie wurde dabei intensiv vom Gesundheitsarbeitskreis der örtlichen Linken unterstützt und mit input versorgt. Dieser Arbeitskreis ist auch in der kommunalen Gesundheitskonferenz vertreten und mit diversen Institutionen vernetzt.
Mit ihrem Antrag 182/2020 holte die Fraktion die Beschäftigung mit der prekären Materie in den Gemeinderat. Der hatte am 24.10.2019 den Gesundheitsbericht im Ausschuss für Jugend und Gesundheit lediglich „zur Kenntnis genommen“. Mit Antrag 421/2020 forderte sie „ein Konzept, mit dem eine gute gesundheitsrelevante Versorgungsstruktur für Kinder und Jugendliche in den Stadtteilen des Sozialraumtypus V gewährleistet werden kann“. Ferner forderte sie die Einrichtung von Planstellen für Hebammen und Kinderkrankenschwestern in diesen Sozialraumgebieten. Schließlich greift sie die Idee des Jugend- und Gesundheitsamts auf, „unterstützende Maßnahmen zur zeitnahen Schaffung einer Kinderärztlichen “Zweigpraxis“ im Stadtteil Hochstätt zu ergreifen. Im Jahr darauf übernimmt die Verwaltung den Antrag 250/2021 der Li.Par.Tie., für den Sozialraum V ein Konzept für die Gesundheitsversorgung der Kinder und Jugendlichen zu entwickeln.
Im Dezember 2021 stellt die Fraktion zu den Etat-Beratungen den Antrag, „zunächst eine Gesundheitsfachkraft bzw. Familienhebamme“ in den Stadtteilen des Sozialraumtyps 5 einzurichten und die finanziellen Mittel dafür einzustellen. Diesem Antrag schließt sich die SPD-Fraktion an und gemeinsam mit den Grünen wird diesen Anträgen mehrheitlich zugestimmt (damals noch mit rot-grün-roter Mehrheit).
Im Februar 2025 schließlich greift auch die SPD das Thema der falschen Verteilung von Kinderarztpraxen in den Stadtteilen mit Anfrage 052/2025 auf, nachdem der Mannheimer Morgen kurz zuvor über Akteure berichtet hatte, die in Hochstätt Alarm wegen dieser Situation schlugen. Sie waren von dem ehemaligen BBR Ralf Kittel (SPD) zu einem Gespräch eingeladen worden. Dabei war auch Dr. Stefanie Schwarz-Gutknecht, eine City-Kinderärztin, die bereit wäre, auf der Hochstätt eine Teilzeit-Zweigniederlassung zu gründen. Im September könne sie eröffnen. Dazu benötige sie jedoch eine „Sonderbedarfszulassung“ der KV BW. Dieser Verband war auch zu dem Treffen eingeladen, sagte aber ab, da man darüber nicht öffentlich diskutiere. Der anwesende Leiter des Gesundheitsamtes Mannheim, Dr. Peter Schäfer, kritisierte die von der KV BW genannten Zahlen. Diese seien überhaupt nicht mehr aktuell, da sich die Work-Life-Balance der jüngeren Ärzteschaft sehr verändert habe. Er fordert von der KV BW eine Überarbeitung ihrer Zahlen. Die Akteure beschlossen, der KV BW zu schreiben und eine Sonderlösung für Hochstätt zu fordern. (MM 07.02.25)
Am 19.05.25 berichtet der Mannheimer Morgen über eine Sitzung des Ausschusses für Jugend und Gesundheit, der sich mit der Stellungnahme der Verwaltung zu der Anfrage der SPD befasste. Dort wird der aktuelle Versorgungsbericht der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg (KV BW) zitiert, der für den Planungsbezirk Mannheim einen Versorgungsgrad bei Kinderärzten von 131,5% nenne, so dass auch bei diesen Ärzten Mannheim insgesamt als Niederlassungsort „gesperrt“ sei (s.o.).
Gesundheitscafé Schönau
Gesundheitsdezernent Dirk Grunert habe jedoch deutlich gemacht, dass „die Stadt praktisch keine Möglichkeit hat, hier regulierend einzugreifen“. Man konzentriere sich auf die Dinge, die man als Kommune machen könne, also z.B. das Gesundheitscafé Schönau. Dieses wurde im Mai 2024 eingeweiht. Die Linke (Li.Par.Tie.) hatte in den Etatberatungen 2022 erfolgreich Mittel hierfür beantragt. Inzwischen geht es aber um die Sicherung der Mittel. Die Linke (LTK-Fraktion) hatte das notwendige Geld (77.900 EUR) beantragt. Dieser Antrag wurde mehrheitlich abgelehnt. Die SPD hatte keine Gelder gefordert, sondern: „Die Verwaltung erarbeitet ein Konzept, wie das Gesundheitscafé Schönau über das Jahr 2025 hinaus weitergeführt werden kann sowie ob und wie das Konzept dieser niedrigschwelligen Angebote perspektivisch auf andere Stadtteile übertragbar ist. Die Ergebnisse werden im zuständigen Fachausschuss vorgestellt.“ Dieser Antrag wurde mehrheitlich angenommen.
Die Ampel-Koalition hatte übrigens die bundesweite Förderung wenigstens von „Gesundheits-Kiosks“ in ihren Koalitionsvertrag geschrieben, bis schließlich der einstige Bundesfinanzminister, ein Christian Lindner (FDP), dieses Projekt gecancelt hatte. Wahrscheinlich dachte er sich: Wer braucht auf Sylt schon ein Gesundheitskiosk.
Hochstätt: Weiter geht’s auf Landes- und Bundesebene
Dr. Stefanie Schwarz-Gutknecht beklagt inzwischen Verzögerungen bei der von ihr bei der KV BW beantragten Sonderzulassung für eine Kinderarztpraxis auf der Hochstätt. „Nach heutigem Stand wird der Zulassungsausschuss im September dazu entscheiden“, teilt Kai Sonntag, Sprecher der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg, auf Anfrage des Mannheimer Morgen mit (MM 11.08.25). Die Ärztin steht nach wie vor zu ihren Planungen.
Mittlerweile hat sich der Mannheimer SPD-Landtagsabgeordnete Boris Weirauch an die Landesregierung gewandt. Er fordert sie darin auf, „sich auf Bundesebene dafür starkzumachen, dass die Vergabe von Kassenarztsitzen auch an Stadtbezirke gekoppelt werden kann und nicht nur an einen Stadt- oder Landkreis.“ (MM a.a.O)
Das Landesgesundheitsministerium verweise auf die kommunalen Möglichkeiten, Anreize für eine Niederlassung zu geben. Dieser Hinweis greift jedoch ins Leere, wenn eine Stadt „gesperrt“ ist, wie Mannheim. Allerdings setzte man sich auf Bundesebene auch schon lange dafür ein, die Reform der vertragsärztlichen Bedarfsplanung endlich ernsthaft in Angriff zu nehmen.
Das harte Brett einer vernünftigen Gesundheitsversorgung ist also wirklich enorm dick.Aber in der Linken kursiert der Spruch: „Die Linke bohrt“.
Zu klären wäre ja auch noch das angespannte Verhältnis zwischen Patientenbehandlung durch klinische Ambulanzen, sowie ambulanter Weiterversorgung von entlassenen Patient:innen einerseits und der niederglassenen Ärzteschaft andererseits. Oder wie wäre es mit der Zulassung kommunaler Polikliniken mit angestellten Ärzt:innen und mit Ausrichtung auf die Unterstützung „auffälliger Sozialräume“? Oh Gott? Vielleicht täten es ja auch „Ärztliche Versorgungszentren“ – jedoch nicht in der Hand von Hedgefonds und sonstigen Investoren, wie gerade en vogue, sondern unter kommunaler Regie?
Thomas Trüper