Kandel-Demos: Staatsanwaltschaft und Polizei desaströs – Verfahren gegen Antifaschistin eingestellt / mit Kommentar
Erneut wurde am Amtsgericht Kandel am 21.01.20 ein Verfahren gegen eine Antifaschistin geführt. Josy Wohlhart(*) wurden laut Verlesung der Anklageschrift massive Vorwürfe gemacht. Dabei war in Bezug auf die juristische Vita der Angeklagten eine Freiheitsstrafe nicht von Anfang an auszuschließen. Dabei ging es um einen Aufzug rechtsextremer Gruppen am 24.3.18 in Kandel und entsprechenden Protesten aus antifaschistischen Lagern an diesem Tag, die dagegenhielten. Es kam aber anders, diesmal, das Verfahren wurde nach § 154 – Absatz 2 (Teileinstellung bei mehreren Taten) eingestellt. (AZ: 1DS7150Js7985/18)
Staatsanwalt tischt deftig auf / Polizeizeugen können Anklagevorwürfe nicht erhärten
Josy Wohlhart soll sich, laut Anklageschrift, u.a. am 24.3.18 wegen „Mitführen verbotener Gegenstände, vermutlichem Verstoß gegen das Vermummungsverbot, Mitführen einer Waffe/Einsatz derer und gefährlicher Gegenstände“ strafbar gemacht haben.
Der Vertreter der Staatsanwaltschaft führte an, dass „3 Rauchfackeln, 3 Polenböller und weitere Feuerwerkskörper in einer Plastiktüte und einem Stoffbeutel“ am Tatort Bahnhofsstraße/Dierbachweg aufgefunden wurden – am Straßenrand. Die Angeklagte soll sich mit einer Sturmhaube vermummt haben, um sich damit „in einer Schutzposition befindlich, Sprengkörper vorbereitet und diese an Werfer weitergereicht zu haben“.
Laut Staatsanwalt wurden beim Werfen der Knallkörper (in Richtung Rheinstrasse) keine Personen verletzt.
Sage und schreibe sechs Zeugen bot die Staatsanwaltschaft auf, um ihre Anklagevorwürfe vor Gericht beweisen zu wollen. Die vorgeladenen PolizeibeamtInnen konnten dies aber aus diversen Gründen nicht leisten. Entweder war man gar nicht vor Ort, sondern woanders, oder man hat die Beklagte vor Ort nicht wahrgenommen oder war mit anderen Dingen am Einsatzort beschäftigt.
Und nun? Der nicht ultimative Videobeweis
Ein halbes Dutzend Videoclips von Polizei-Videographen aufgenommen (auch in 4-K-Qualität) wurden im Rahmen der Beweisaufnahme vorgeführt. Was war zu sehen? Rein gar nichts was die Angeklagte belastet hätte.
Der vorsitzende Richter mahnte die Streitparteien, aufgrund der dürren Beweislage, Freispruch geht nicht; aber Einstellung wäre möglich.
Der Strafverteidiger hatte sogar anfangs infrage gestellt, ob der Polizeieinsatz an besagter Stelle überhaupt rechtmäßig gewesen sei. Auch hierauf gab der vorsitzende Richter ein klare Antwort-Frage: „Liegen gegen den Polizeieinsatz Strafanträge vor?“ Nein – diese gibt es nicht.
Wenn sich die Staatsanwaltschaft, wie auch in diesem Fall, in der Defensive befindet, können dann schon Mal so Pseudo-Anträge wie „Ob das Gericht nicht zumindest eine Ordnungswidrigkeit wegen einer Sturmhaube ahnden könnte“ gestellt werden. Was vom Gericht aber sofort, mangels Beweise (auch schon während der Beweisaufnahme), kassiert wurde.
Urteil: Einstellung des Verfahrens nach § 154 – Absatz 2 StPo (Teileinstellung bei mehreren Taten)
Das Urteil wurde damit begründet, dass die Angeklagte Josy Wohlhart zuletzt im Frühjahr 2018 in Stuttgart verurteilt worden war und eine Gesamtstrafen Bildung, was die Anklage in Kandel angeht, keine Veränderung bei der Zumessung einer möglichen Verurteilung gespielt hätte.
Im Anschluss an die Verhandlung verlas Josy Wohlhart diese Erklärung vor dem Amtsgericht Kandel (es gilt das geschriebene Wort):
„09. September 2000 bis 25. April 2007: Der „Nationalsozialistische Untergrund“, kurz NSU,
ermordet mindestens 10 Menschen. Zuvor und während dieses Zeitraums verübten die Nazis
mehrere Sprengstoffanschläge und ein Nagelbombenattentat. Das Alles geschah unter den Augen
des Verfassungsschutzes und unter Mithilfe seiner V-Leute.
Am 22. Juli 2011 ermordet der norwegische Faschist Anders Breivik insgesamt 77 Menschen,
indem er in Oslo eine Autobombe zündet und anschließend auf einer nahe gelegenen Insel das
Feriencamp einer sozialdemokratischen Jugendorganisation niedermetzelt. Zuvor hatte er auf 1500
Seiten sein rechtes Motiv für das Attentat dargelegt.
Am 12. August 2017 rast ein 20-jähriger Nazi im Anschluss an eine der größten rechten
Demonstrationen in der Geschichte der USA bewusst mit seinem Auto in eine Gruppe von
Antifaschistinnen und Antifaschisten. Er tötet dabei eine 32-jährige Frau und verletzt 19 weitere
Menschen.
Am 15. März 2019 erschießt der Faschist Brenton Tarrant in Christchurch in Neuseeland insgesamt
51 Menschen. Er feuert dabei in zwei Moscheen, in denen sich Muslime zum Gebet versammelt
hatten. Er überträgt seine Tat live ins Internet und will mit einer Zitat „großen, bis dahin nicht in
Neuseeland vorgekommenen Gewalttat zeigen, dass es nirgendwo in der westlichen Welt sicher für
Einwanderer ist.“Zitatende
Auch er verfasst ein rechtes Pamphlet, in dem er sich unter anderem auf Anders Breivik bezieht und
stellt darin seine faschistische Gesinnung dar. Sein jüngstes Opfer ist drei Jahre alt.
Am 02. Juni 2019 wird der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübke auf seiner Terasse mit
einem Kopfschuss von dem Nazi Stephan Ernst ermordet. Lübke hatte sich zuvor für die Aufnahme
von geflüchteten Menschen eingesetzt und sich öffentlich rechten Anfeindungen entgegengestellt.
Der ehemalige NPDler und jetzige AfD-Unterstützer hatte in den 30 Jahren zuvor bereits einen
Menschen getötet und mindestens einen Messerangriff, einen Brandanschlag und ein
Bombenattentat verübt.
- Oktober 2019 in Halle: Der 27-jährige Faschist Stephan Balliet erschießt auf offener Straße
zwei Menschen, nachdem er zuvor erfolglos versucht hatte, in eine zahlreich besuchte Synagoge
einzudringen und ein Massaker anzurichten. Auch er übertrug seine Tat live im Internet, leugnet in
dem Video den Holocaust, äußert sich antifeministisch und sagt, der „Jude“ sei Ursache aller
Probleme.
Hiermit sind sicherlich nur wenige der offensichtlichsten Beispiele faschistischen Terrors der
letzten Jahre genannt, neben den hunderten Brandanschlägen, die in den letzten Jahren gegen
Geflüchtetenunterkünfte verübt wurden. Und sie verdeutlichen doch eines: Die Gefahr, die von
Faschisten ausgeht, die Bereitschaft von ihnen zu morden und auch deren tatsächliche Umsetzung.
Was anderes bleibt uns übrig, als uns Nazis und Rechten dort, wo sie auftreten, entgegenzustellen
und daran zu hindern, ihre Ideologie in Taten umzusetzen?
Der Mord einer jungen Frau Ende 2017 wurde von zahlreichen Rechten zum Anlass genommen, zu
Tausenden hier in Kandel aufzumarschieren. Diese Aufmärsche hatten sowohl zahlenmäßig, als
auch hinsichtlich der verschiedenen rechten Spektren, die sich auf Kandels Straßen vereinigten,
eine neue Qualität. Nur wenige Monate später erlebten wir Ähnliches in Chemnitz. Hier in Kandel,
wie auch in Chemnitz waren es unter anderem Faschisten wie Stephan Ernst, die marodierend
durch die Straßen zogen. Es sind unter anderem diese rechten Aufmärsche, auf denen sich die Nazis
vernetzen und radikalisieren, auf denen sie propagieren, was später in die Tat umgesetzt wird.
Umso wichtiger war und ist es, dass diese Ereignisse und das Auftreten der Faschisten nicht
unbeantwortet blieben und sich innerhalb kürzester Zeit antifaschistischer Protest formierte.
Was folgte, waren Wochen und Monate mit wiederkehrenden Großaufmärschen der Rechten.
Doch nicht nur das: Die Polizei stellte in Kandel immer wieder unter Beweis, dass ihr die
Kriminalisierung antifaschistischen Protests nicht nur eine Herzensangelegenheit ist, sondern auch
System hat: Angriffe gegen Antifaschistinnen und Antifaschisten, sei es durch prügelnde Polizisten
oder Polizeihunde, bis hin zur Unterbindung der Proteste, gehörten zur Tagesordnung.
Was uns aber auch nicht wirklich verwundern braucht: Ob NSU, Hannibal-Netzwerk, Nordkreuz,
NSU 2.0, Ku-Klux-Klan und wie sie alle heißen: Das bewusste Gewährenlassen, Verstrickungen
und Überschneidungen von Polizei und staatlichen Behörden mit rechten Strukturen zeigen uns nur
einmal mehr, dass wir im Kampf gegen Rechts von ihnen nichts erwarten brauchen.
Auch das aktuelle Beispiel zweier Nazis aus Neukölln, die unter den Augen der Berliner
Ermittlungsbehörden Brandanschläge gegen Linke verübten, Wohnorte ausspähten und eine
Feindesliste führten, wohlgemerkt während sie überwacht wurden, lässt den Schluss zu, dass diese
Taten nicht verhindert werden sollen.
Wir als Antifaschistinnen und Antifaschisten, wir als Gesellschaft haben eine Verantwortung.
Die Verantwortung als Menschen, die aus Geschichte lernen, dafür zu sorgen, dass sie sich nicht
wiederholt. Dieser Verantwortung werden wir trotz aller Kriminalisierung auch in Zukunft nachkommen!“.
Kommentar:
Bullshit, meiner Meinung nach, was Behörden schon kurz nach dem 24.3.18 aus Kandel berichteten. Und was auch unkritisch von bestimmten Medien in die Berichterstattung übernommen wurde. Von „Unterarmlangen Sprengkörpern war die Rede. Polizeieinsatzkräfte wären angegriffen worden“. Bullshit. Ich habe mich an diesem Tag um ca. 17 Uhr im Kreuzungsbereich Rheinstrasse/Bahnhofsstrasse befunden. Die rechtsextremen Horden der Vaterlandsbeschwörer, Hools, Reichsbürger und das AfD- und NPD-Pack waren gerade durchgezogen, als ich den ersten von drei Kanonenschlägen wahrnahm. Bullshit. Irritiert war ich von der Tatsache, als ich mich von der Rheinstrasse aus in Richtung „Tatort“ in Bewegung setzte, dass ein Fotograf der rechsextremen Partei der III. Weg im Schutz von Polizeifahrzeugen, die der Blockade dienten, ungehindert Gegendemonstranten fotografieren konnte. Bullshit. Was dann im „Kessel“ Bahnhofstraße Ecke Dierbachweg passierte und sonst noch so, darüber haben ich und Kollegen seinerzeit berichtet. Kein Bullshit. Was am Amtsgericht Kandel am 21.01.20 verhandelt wurde ist eine Sache, die unglaublich ist, und sie ist nicht die erste in einer langen Linie von Prozessen vor Gerichten, es wird etwas angeklagt, die Beweise reichen nicht; ergo Freispruch, Einstellung oder nur meist überschaubare Geldbußen. Unser aller Steuergeld vor Gerichten verballert. Bullshit. Antifaschismus muss teuer bleiben. Bullshit.
N.B.: Ich bin mir durchaus bewusst, dass Bullen auf vier Beinen und meist mit zwei Hörnern ausgestattet nichts mit dem Shit zu tun haben. Alles weitere wäre eine Glosse wert.
KIM-Berichte zum 24.03.18 in Kandel:
Rechte Kundgebungen in Kandel: Erstmals größere Gegendemo [mit Bildergalerie]
Kommentar Kandel am 24. März: Die Polizei, die Medien und das Märchen von der Gewalt [mit Video]