Persönliche Buchempfehlung: Kritische Auseinandersetzung mit Theorien über Race, Gender, Identität
Zynische Theorien: Wie aktivistische Wissenschaft Race, Gender und Identität über alles stellt – und warum das niemandem nützt
Kulturelle Anerkennung von Minderheiten gehört zu den Themen linker Politik. Doch was heißt das? In der westlichen Welt wird viel und zunehmend mehr über dieses Themenfeld diskutiert. Das britische /amerikanische Autorenduo Helen Pluckrose und James Lindsay versuchen dieses Themenfeld grundsätzlich zu beackern. Ihr Buch ist 2020 in der amerikanischen Originalausgabe erschienen, in deutscher und übersetzter Fassung erscheint das Buch seit Februar 2022 im C.H.Beck-Verlag.
Ich will nicht verhehlen, dass ich dieses Buch als ausgezeichneten, fundierten, sehr komplexen und doch verständlichen Beitrag in diesem sehr vergifteten Diskurs sehe.
Pluckrose und Lindsay sehen Liberalismus (Liberalismus wird im angelsächsischen Sinne als gesellschaftlich fortschrittlich und anders verstanden als in Deutschland oder Frankreich, RS), Wissenschaftsbezogenheit und Moderne, als „das Herzstück westlicher Demokratien“, ernsthaft in Gefahr durch rechte und linke Ideologien, insbesondere Themen, die mit den Begriffen linke oder rechte Identitätspolitik in Verbindung gebracht werden. „Der Kulturkrieg, der hier tobt, bestimmt mehr und mehr die Politik und zunehmend auch die Gesellschaft am Anfang des 21. Jahrhunderts.“ Das Buch setzt sich weniger mit rechten Theorien sondern mit linken Theorien auseinander. Pluckrose / Lindsay rechnen sich selbst wohl eher dem linken Lager zu. Aus ihrer Sicht jedoch „liegt das spezifische Problem der politischen Linken darin, dass diese sich von ihrem Ursprung, dem Liberalismus, abwendet, der einst ihre Vernunft und Stärke begründete.“ Die Ursachen sehen sie im aufkommenden postmodernen Denken in den vergangenen 50 Jahren, das immer mehr die Prinzipien der Modernen verdrängt.
„Das Buch zielt nicht darauf ab, den liberalen Feminismus, den liberalen Aktivismus gegen Rassismus oder liberale Kampagnen für die Gleichberechtigung von LGBT zu untergraben. Ganz im Gegenteil: Zynische Theorien ist entstanden, weil wir uns zu Gender-, Race- und LGBT-Gleichberechtigung bekennen und beunruhigt sind, deren Wert und Wichtigkeit könnten durch den Ansatz der Social-Justice-Bewegung ausgehöhlt werden.“ (Zitate jeweils aus der Einführung des Buches, RS).
Im Klappentext heiß es:
„Nur weiße Menschen können Rassisten sein, nur Männer sind zu toxischem Verhalten fähig, es gibt kein biologisches Geschlecht, unsere Sprache ist sexistisch – ein neuer moralischer Kanon erobert westliche Universitäten und erschüttert die liberale Gesellschaft. Aber macht er die Welt auch wirklich besser? Helen Pluckrose und James Lindsay begeben sich in ihrem Bestseller auf die Spuren eines wissenschaftlichen Aktivismus, der überall nur noch Feinde sieht. Postmoderne Denker wie Michel Foucault oder Jacques Derrida haben die Strukturen westlicher Gesellschaften so tiefgreifend dekonstruiert wie niemand vor ihnen. Ihr radikaler Skeptizismus hatte jedoch einen Preis. Helen Pluckrose und James Lindsay zeichnen in ihrem kontroversen Buch nach, wie die Grundannahmen der postmodernen Theorie seit den 1980er Jahren im Postkolonialismus, in der Critical-Race-Theorie, im intersektionalen Feminismus, in den Gender Studies und in der Queer-Theorie für den politischen Aktivismus scharf gemacht wurden.“
Rezensionen
Im angelsächsischen Kontext war das Buch unter den „Büchern des Jahres“ der Times, Sunday Times und Financial Times zu finden. Im deutschsprachigen Raum hat das Buch noch nicht diese große Verbreitung gefunden. Jedoch wird es in allen größeren Zeitungen und Medien wie Deutschlandfunk, Süddeutsche Zeitung, FAZ, TAZ, Neue Zürcher Zeitung besprochen. Die Rezensionen fallen unterschiedlich aus. Man kann sich teilweise des Eindrucks nicht erwehren, dass das Buch nicht von allen Rezensenten gründlich gelesen worden ist.
Ich veröffentliche hier die Zusammenfassung einer sehr positiven Rezension in der TAZ des von mir sehr geschätzten Micha Brumlik.
Rezensionsnotiz zu „Die Tageszeitung, 10.05.2022“
„Rezensent Micha Brumlik ist in seinem Urteil überraschend eindeutig: Wer sich für die Emanzipation marginalisierter oder diskriminierter Gruppen einsetzt, kommt an diesem Buch nicht vorbei. Die beiden amerikanischen Autoren Helen Pluckrose und Peter Lindsay üben darin scharfe Kritik an all jenen sozialkonstruktivistischen Theorien, in deren Zentrum die Kritik an Normalitätsstandards stehen: Gender Studies, Critical-Race-Theory, Queer-Theory, Disability Studies, etc. Brumlik deutet nur an, dass er an einigen Punkten Widerspruch erheben würde, aber stark findet er das Argument, dass diese Theorien nicht dazu führten, Individuen aus ihren negativ bewerteten Rollen zu befreien, sondern sie darin festzuhalten. Zwar belässt es Brumlik in seiner Kritik bei einer bündigen Zusammenfassung der Thesen, am Ende aber beschwört er jedoch „Reichtum und Scharfsinn“ dieser „brillanten Streitschrift“. (aus „perlentaucher- das Kulturmagazin“)
„Es ist in solch einer kurzen Rezension nicht möglich, den Reichtum und Scharfsinn dieses Buches angemessen zu würdigen, auch nicht, Widerspruch einzulegen oder zumindest Fragen zu stellen. Indes: Wer sich als emanzipatorisch versteht, kommt um die Lektüre dieser brillanten Streitschrift nicht herum – unabhängig davon, ob am Ende ein individualistischer, universalistischer Liberalismus überzeugender wirkt als eine machtanalytische und dekonstruktive Theorie gesellschaftlicher Identitäten.“ (Micha Brumlik in TAZ, 12.05.2022)
Roland Schuster