Der Sozialatlas 2024 ist wesentlich mehr als ein „Atlas“
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Der Sozialatlas enthält Daten zur Mannheimer Bevölkerungsstruktur und gliedert sich in die Abschnitte Demografie, Arbeitsmarkt, Mindestsicherungsleistungen, Sozialraumtypologie und Strukturdaten der einzelnen Stadtbezirke | Bild: KIM Archivbild 2024
Sozialatlanten gibt die Stadt Mannheim seit 1985 mit einer folgenden Unterbrechung bis 2005 und in den letzten Jahren im 3-Jahresabstand heraus. Die Werke haben sich seither grundlegend geändert: 2005 wird der Berichtsumfang wie folgt beschrieben: „Der Sozialatlas enthält Daten zur Bevölkerungsstruktur und den Bereichen Beschäftigung, Arbeitslosigkeit, Sozialhilfebezug, Wohnen, Jugendhilfe, Bildung, Erziehungshilfen, Tageseinrichtungen für Kinder, Gesundheit und Pflege in Mannheim“. 2024 gliedert sich der Sozialatlas in die Abschnitte Demografie, Arbeitsmarkt, Mindestsicherungsleistungen, Sozialraumtypologie und Strukturdaten der einzelnen Stadtbezirke bzw. Stadtteile.
Diese Gliederung erscheint wesentlich schmaler als vor 19 Jahren. Tatsache ist jedoch, dass z.B. die Bereiche Bildung und Tageseinrichtungen für Kinder zweijährig in opulenten Bildungsberichten beschrieben werden, dass es zahlreiche Spezialberichte gibt, die dem Stadtrat vorgelegt und somit im Bürgerinformationssystem online öffentlich hinterlegt sind. Viel Zahlenmaterial zu den unterschiedlichsten Bereichen veröffentlicht die Stadt z.B. im Geoinformationssystem GIS, in opendata oder im Statistikatlas online. Das Thema Wohnen wird in den jährlichen Siedlungsmonitorings der GBG und des Fachbereichs Arbeit und Soziales abgehandelt.
An Zahlenmaterial und Fachberichten fehlt es also nicht. Der Sozialatlas 2024 zeichnet sich jedoch aus durch die vorangestellten 35 Seiten „Zentrale Befunde und Handlungsempfehlungen“, und die haben es in sich. Im Vorwort heißt es: „Vom städtischen Leitbild und seinen Zielsetzungen zur Verhinderung von Armut und dem Zusammenleben in Vielfalt abgeleitet, bieten die zentralen Befunde und Handlungsempfehlungen einen Orientierungsrahmen für kommunale Entscheidungsträger*innen zur Gestaltung der Lebensbedingungen in unserer Stadt.“ Dort geht es um die Themen Arbeit, Zuwanderung, Wohnen und Senior*innen.
Kurzer Blick auf zwei Zahlenreihen zum Thema Armut
Was tut sich über die Jahre hinweg zum Thema „Kinderarmut“, die natürlich eine Folge der Elternarmut ist?
Da wäre z.B. die Zahlenreihe: Anzahl der Kinder unter 15 Jahren in Bedarfsgemeinschaften. Das sind die in Armut lebenden oder von Armut bedrohten Kinder:
Quelle: Sozialatlas 2017 und 2024 (Stand jeweils Dezember)
Was Armut für die Kinder und ihre körperliche wie geistige Entwicklung heißt, wird ausführlich analysiert.
Ein bedeutender und tendenziell wachsender Teil der Armutsbevölkerung sind auch die Bezieher*innen von Grundsicherung im Alter oder bei Erwerbsminderung außerhalb von Einrichtungen:
Quelle: Sozialatlas 2024 (Stand jeweils Dezember)
Festzustellen ist, dass beide Armutsgruppen in absoluten Zahlen gesehen „auf der Stelle treten“, mit einem kleinen Sprung nach oben seit Beginn des Ukrainekrieges. An den Ursachen der Armut hat sich nichts geändert: Lebensumstände, die die Menschen in die Existenzweise einer Bedarfsgemeinschaft zwingen (die unterschiedlichen Ursachen werden sehr differenziert benannt; fast die Hälfte der betroffenen Kinder leben in Alleinerziehenden-Haushalten) oder eben die Altersarmut durch geringes und meist auch unstetes Arbeitseinkommen in der aktiven Zeit. Die Autor*innen des Sozialatlasses weisen darauf hin, dass bei den Zahlen der Altersarmut mit einer hohen Dunkelziffer zu rechnen ist („verdeckte Altersarmut“). „Qualifizierten Berechnungen zufolge wird Grundsicherung im Alter von bis zu 60 Prozent der Anspruchsberechtigten in Deutschland nicht in Anspruch genommen“, meist aus Scham oder wegen bürokratischer Hürden (S. 134).
Befunde und Handlungsempfehlungen zum Thema Wohnen
Der empfohlene Maßnahmenkatalog für die Verbesserung der Lebenslage der Geflüchteten, von denen die Stadt Mannheim aktuell ca. 7.200 berät und unterstützt, beginnt mit der Handlungsempfehlung 2.1: “Zielgruppe vulnerable Gruppen: Bereitstellung ausreichender Ressourcenausstattung für eine variable Wohnversorgung für vulnerable Gruppen (Flucht/Wohnungslosigkeit/Behinderung/Alter).“
Der Bericht stellt fest: „Gegenwärtig steht in Mannheim preisgünstiger Wohnraum weder für eine kurz- noch eine längerfristige Wohnversorgung vulnerabler Gruppen in ausreichendem Maße zur Verfügung. Der Fachbereich Arbeit und Soziales arbeitet unter Hochdruck an der Bereitstellung kurzfristiger Unterbringungen. Gleichzeitig wird die mittel- und langfristige Strategie zur Unterbringung vulnerabler Gruppen umgesetzt, um zielgerichtet Versorgungslücken zu schließen. Zur Beschleunigung der Verwaltungsverfahren wurde ein Organisationsprojekt der Fachbereiche Arbeit und Soziales, Organisation und Personal, Finanzen, Steuern und Beteiligungscontrolling sowie des Mannheimer Gesamtpersonalrats entwickelt, das Ende des Jahres 2024 seine Ergebnisse vorlegt.“ Die genannten Beteiligten lassen darauf schließen, dass es um Personalkonzentration, Ressourcensteigerung und die Einbindung städtischer Beteiligungen (allen voran sicherlich der GBG) geht. Hierbei dreht es sich v.a. um das Organisationsrecht des Oberbürgermeisters – man darf gespannt sein.
Der Handlungskomplex Wohnen nimmt einen breiten Raum ein. Die Wohnungen in Mannheim hätten zwar zwischen 2011 und 2022 um 9.400 zugenommen, die Zahl der geförderten Wohnungen sei jedoch im gleichen Zeitraum um 2.600 gesunken, und in den kommenden sieben Jahren fallen weitere 560 aus der Belegungs- und Preisbindung. Dies seien vor allem Wohnungen für Ein- und Zwei-Personenhaushalte. Etwa zwei Drittel der Berechtigungsscheininhaber*innen benötigen jedoch gerade solche Wohnungen. Es wird der Bau öffentlich, auch kommunal geförderter Wohnungen „gefordert“ wie auch der Erwerb von Wohnhäusern, um sie preisgünstig zu vermieten.
Überdeutlich stellt der Sozialatlas fest: „Ungleichverteilung von bezahlbarem und öffentlich gefördertem Wohnraum im Stadtgebiet ist eine Ursache sozialer Segregation in Mannheim. Steigende Wohnkosten führen insbesondere bei Menschen im Transferleistungsbezug, Mieter*innen, Menschen mit Migrationshintergrund und Alleinlebenden zu einem höheren Armutsrisiko im Alter. Die Bereitstellung von bezahlbarem und gefördertem Wohnraum ist Voraussetzung für die Wahrung des sozialen Friedens in unserer Stadt.“ (S.27) Und weiter: „Es wird empfohlen, einen Verwaltungsstab zur Identifikation potenzieller Wohnbauflächen für die Bereitstellung bezahlbaren und geförderten Wohnraums für Mannheimer*innen und vulnerable Gruppen unter der Leitung des Dezernats II / Fachbereich Arbeit und Soziales einzurichten. Neben dem Fachbereich Arbeit und Soziales und der GBG sind weitere tangierte Verwaltungseinheiten hinzuzuziehen.“
Für „Stadtteile mit teils stark überdurchschnittlichen sozialen Problemlagen“ stellen die Autor*innen fest: „Soziale Netzwerke, soziale Infrastruktur (z.B. offene Begegnungsräume) und ein gutes gesellschaftliches Miteinander sind Motor und Bedingungsfaktoren sozialen Zusammenhalts.“ Hierfür empfehlen sie das „Soziale Orte-Konzept“, welches an der Uni Göttingen entwickelt wurde. „Insbesondere in sozialstrukturell (eher) auffälligen Stadtteilen bestehen hohe Anforderungen an gesellschaftliche Integration und nachbarschaftliches Zusammenleben.“
Als Pilotstadtteil schlagen sie (wie ähnlich schon 2005 geschehen) den Stadtteil Vogelstang vor, in dem im Laufe des Jahres schon zwei Bürgerbeteiligungsverfahren stattfanden, zu dem alle Bewohner*innen über 65 eingeladen wurden, von denen 100 teilnahmen. Es ging um gute und schlechte Orte auf der Vogelstang, um einen Generationentreff (statt des „Seniorentreffs“) und um notwendige Infrastrukturen für Wohnunterstützung, häusliche Pflegeangebote und die Neustrukturierung der Ehrenamtlichkeit in Mannheims „ältestem“ Stadtteil. Die Übertragung auf weitere Stadtteile soll in weiteren Schritten geprüft werden.
Dem Bereich Senior*innen widmet der Sozialatlas große Aufmerksamkeit (s.o.) und er stellt auch hierfür Handlungsempfehlungen zur Verfügung. Über die zu berichten ist einem weiteren Beitrag vorbehalten.
Was bewirkt der Sozialatlas?
Er referiert die fachliche Sicht des Fachbereichs Arbeit und Soziales. Er kann nicht „fordern“ und die Vorschläge können nicht einfach umgesetzt werden – das Geld, das hierfür erforderlich ist, muss der Gemeinderat zur Verfügung stellen – das setzt entsprechende Anträge und schwierige politische Verhandlungen voraus. In Zeiten wie dieser besonders schwierig. Die Gemeinderatsfraktionen täten sehr gut daran, sich mit den Empfehlungen, die ja auf einer Fülle empirischer Fakten beruhen, intensiv auseinanderzusetzen. Zumindest die Fraktionen, die sich für ein soziales, friedliches und die Menschenrechte ernstnehmendes Mannheim einsetzen.
Thomas Trüper